Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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6

Bendas Abwesenheit dauerte kaum ein Jahr. Seine Mutter hatte ihn diesmal nicht begleitet. Sie kränkelte ein wenig und die Sehkraft ihrer Augen war gefährdet.

Nach seiner Rückkehr versank er in ein wochenlanges, trübes Schweigen, und ohne daß zwischen ihm und der Mutter ein Wort über die erlittene Enttäuschung gewechselt wurde, wußte sie alles, was er erlebt hatte, und schonte ihn, indem sie gleichfalls schwieg.

Es bedrückten ihn die Erinnerungen, die das Haus in ihm erweckte. Vergessene Bilder wurden lebendig, die Gestalt einer Hingemordeten huschte abends über die Galerien, ihr Schatten schwebte ins Zimmer und schmiegte sich an ihn, während er an seinem Schreibtisch saß.

Vieles verband ihn noch mit ihr, deren Geist die Erde verlassen hatte, wenn auch ihr Körper noch auf der Erde weilte.

Er vermochte ihren sanften Blick nicht zu vergessen und die Schüchternheit ihrer Hände nicht. Er kannte ihr Schicksal, er kannte ihre Seele; auch darüber war er zum Schweigen verurteilt. Schaudernd zurückzuweichen vor der Berührung der Welt, bis in die tiefste Einsamkeit, das war ihr Los gewesen, und es war auch seines. Stets sah er sie vor sich, wie der Bruder sie geschildert, in der Zelle sitzend und ihr gelbes Haar kämmend.

Er machte niemand verantwortlich, er grollte niemand, er beklagte es nur, daß die Menschen so waren, wie sie waren.

Ein ehemaliger Studienkollege besuchte ihn und munterte ihn auf, an einer großen wissenschaftlichen Arbeit teilzunehmen. Er verweigerte sich. Als er wieder allein war, vergegenwärtigte er sich noch einmal das ganze Gespräch. Trotz des freundlichen Drängens hatte er in dem Wesen des Mannes jene rätselhafte, unterirdische Feindseligkeit verspürt, der er immer begegnete, wenn er mit Personen des andern Glaubens und der andern Rasse nicht nur in geschäftlicher und äußerlicher, sondern auch in einfach menschlicher Art zu verkehren hatte. Das Geringste, was er zu fürchten hatte, war eine vorurteilsvolle Fremdheit, als ob der Betreffende ihm zuriefe: ich hüben, du drüben, auf die Brücke geh nicht.

Es war ihm dies nur allzu wohlbekannt. Aber dagegen zu kämpfen verwehrte ihm sein Stolz. Das natürliche Recht des Lebens, die allen zugestandene Freiheit des Mit-dasein-Dürfens, die Teilnahme am notwendigen und förderlichen Wetteifer der Kräfte erst erobern, vielleicht gar erbetteln, durch Argumente verteidigen, durch Politik erlisten zu sollen, das ging wider die Vernunft und die Billigkeit, darauf verzichtete er.

Er verzichtete darauf, an einem Tor zu rütteln, das er zuletzt selbst zugesperrt und verbarrikadiert hatte.

Jedoch er litt darunter bis zu einem kaum mehr erträglichen Grad. Es war das Unsinnige und Verlogene dieser Dinge, worunter er litt. Handelten sie so, weil sie so stark im Glauben waren? Nein. Glaubte er an jene Unterschiede der Rasse, welche sie glauben machten? Nein. Er fühlte sich heimatlich auf dem Boden, der ihn nährte, verpflichtet der Not und dem Glück des Volkes, Herz an Herz geschlossen an ihre Besten und geistig geformt durch ihre Sprache, ihre Ideen und ihre Ideale.

Alles andere war Lüge. Sie wußten, daß es Lüge war, aber sie schmiedeten aus seinem eigenen Stolz eine Waffe gegen ihn. Es war Plan und böser Wille, seine durch Leistung und Enthusiasmus bewiesene Zugehörigkeit zu leugnen und zu übersehen.

Bündnisse zu knüpfen, Gleichgesinnte zu suchen und in Verbrüderungen zu wirken verschmähte er. Er wollte nicht in unfruchtbare und phrasenhafte Gemeinschaftsbestrebungen gerissen werden, und trotzig und einsam erklärte er seinen Fall vor sich selbst für einen einzelnen. Da es seinen schmerzlichen Zustand nicht linderte, sondern verschärfte, wenn er andere, ähnliche Schicksale mit seinem verglich, unterließ er die Vergleiche wie auch alle Erwägungen, die dem Verhalten der ihm gegenüberstehenden Welt wenigstens einen Anschein von Gerechtigkeit geben konnten.

Dafür wuchs eine Sehnsucht in seiner Brust, die von Tag zu Tag festere Gestalt annahm und allmählich zu einem bestimmten und unwiderruflichen Entschluß wurde.

Um diese Zeit machte er die Bekanntschaft Daniels, und durch ihn wurde er wieder zu den Menschen geführt. Vom ersten Augenblick an spürte er das Ungemeine in ihm, ja etwas völlig Neues, das er bis dahin noch nicht erfahren hatte. Schon seine äußere Bedrängnis forderte zur Tätigkeit auf und seine innere Bewegtheit ließ den Mitfühlenden niemals ruhen.

Ihm zu helfen war nicht leicht; er stieß jede Gabe zurück, der er keine Leistung entgegenzusetzen hatte. Man mußte ihn erst von der Pflicht und Schuldigkeit überzeugen, die dem Freund am Geschick des Freundes erwächst, und man mußte ihm erlauben, theoretisch undankbar zu sein.

Es gelang den Anstrengungen Bendas und seiner Mutter, ihm bei einigen Bürgerfamilien Unterrichtsstunden zu verschaffen. Er mußte kleine Knaben und Mädchen das Klavierspiel lehren, und war der Lohn auch nicht groß, so wurde die schlimmste Not doch beseitigt.

Nach der Arbeit des Tages schlossen die Abende und Nächte sie in langem Beisammensein immer fester aneinander.


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