Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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2

Frau Benda öffnete und schloß stumm die Türe, als er geläutet hatte und ging stumm in ihr Zimmer. Sie hatte eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem Sohn gehabt, der ihr mitgeteilt hatte, er werde noch vor Ablauf des Frühjahrs, dem Ruf einer gelehrten Körperschaft folgend, nach England übersiedeln. Sie war reisemüde geworden, ihr bangte vor jedem Wechsel des Orts, die Trennung von Friedrich dünkte ihr unerträglich, und in seiner Flucht aus dem Vaterland sah sie einen endgültigen und zu frühen Verzicht auf die Aussichten, die sich ihm noch bieten konnten.

Es war ihre feste Überzeugung, daß die Menschen das Unrecht, welches sie ihm gegenüber begangen, einsehen und wieder gut machen würden, und sie wollte, daß er Geduld üben und warten solle, bis man ihm Genugtuung gab. Außerdem kannte sie seine Pläne und zitterte vor den Gefahren, denen er freiwillig und, so schien es ihr, ohne praktische Eignung entgegen gehen wollte.

Aber sein Entschluß war unerschütterlich. Daß er ihn vor Daniel geheim hielt, ja nicht einmal andeutete, war in der sonderbaren Einseitigkeit begründet, zu der das Verhältnis beider gediehen war.

Lachend erzählte Daniel von seiner Begegnung mit der kleinen Dorothea. »Die sieht mir ganz darnach aus, als wollte sie dem großen Döderlein noch zu schaffen machen,« sagte er.

»Du hast ihm übel mitgespielt, dem großen Döderlein,« antwortete Benda; »in der Nacht nach der Generalprobe hörte ich ihn stundenlang unter meinem Schlafzimmer auf- und abgehen.«

»Dich dauert er wohl gar?«

»Wär ich du, ich ginge hin und leistete dem Mann Abbitte.«

»Ist das dein Ernst?« wallte Daniel auf. Und als Benda schwieg, fuhr er ruhiger fort: »Eigentlich sollt ich ihm ja dankbar sein, das ist wahr. Ich bin durch ihn schneller zu der Einsicht gekommen, daß es zwei mißlungene Machwerke waren, die ich an die Sonne hängen wollte. Mögen sie mich nur niederschmeißen, ich steh schon wieder auf, wenn ich die ganze Erde in mich hineingeschluckt hab.«

Benda lächelte gütig. »Ja, ja, du stirbst bei jedem Sturz und wirst bei jedem Aufschwung neu geboren,« sagte er. »Das ist schön. Ein Döderlein aber kann sich nicht mehr erheben, wenn ihn die Mitwelt fallen läßt. So einer lebt ausschließlich von der Meinung der andern. Was dir Idee ist, ist sein Verderben; was dir Lust ist, Wollust, ist sein Tod.«

»Immerhin,« murrte Daniel; »wozu ist er nütze?«

»Dem Geist der Natur, dem Geiste Gottes sind die Begriffe Schädlichkeit und Nützlichkeit fremd,« erwiderte Benda versonnen. »Er lebt, damit ist alles gesagt. Ich für meine Person hätte am wenigsten Ursache, einen Döderlein vor dir rein zu waschen.« Er hielt einige Sekunden inne und atmete tief. »Ich kann nicht deutlicher sein, das Wort will mir nicht über die Lippen,« sprach er mit trüber Miene weiter, »aber der Mann hat an . . . an einer Frau ein Verbrechen begangen, so tückisch, so raffiniert und so naiv zugleich, daß er jede Brandmarkung verdient und durch keine genug bestraft wäre.«

»Siehst du,« rief Daniel, »also nicht bloß ein schlechter Musikant! Es ist ja immer so. Und alle sind so. O, diese schlafröckigen, nieselnden, sauersüßen, grinsenden, kuppelnden, neunmalklugen Leutchen um und um! Das Blut gerinnt einem, wenn man ihnen zusieht. Und das ganze lange Leben lang soll man Spießruten laufen durch ihre Gassen!«

»Freilich,« bestätigte Benda mit gesenktem Kopf, »es ist ein zäher Giftbrei; rührst du mit dem Finger daran, so hält er dich fest und saugt dir das Mark aus den Knochen. Aber du redest doch vorläufig ohne exakte Kenntnis des einschlägigen Materials, wie wir uns in der Wissenschaft ausdrücken. Als ich während meines Studiums der Pflanzen- und Tierzelle zur Erkenntnis kam, daß eine sogenannte Urzeugung ein Ding der Unmöglichkeit sei und ich die Ansicht in einem Kreis von Fachgelehrten vortrug, wurde ich ausgelacht. Heute steht es so, daß man sich dieser Wahrheit nicht mehr verschließen kann. Einem meiner früheren Freunde war es gelungen, gewisse Verbindungen der Essigsäure kristallisiert auf künstlichem Weg herzustellen. Als er diese große Entdeckung verkündete, rief ihm einer der versammelten Herren zu: Geben Sie acht, Doktorchen, daß Ihnen die Amidosteinchen nicht aus dem Käfig laufen. So niedrig und so würdelos begegnen uns diejenigen, von denen wir glauben sollen, daß sie mit uns zu demselben Ziele streben. Aber du! verwirft dich die Welt, so hast du immer noch, was dir niemand entwenden kann. Ich muß mich gedulden, bis ein Richter das Urteil über mich fällt, durch das ich verdammt oder erlöst werde. Zwischen dir und mir ist ein Unterschied wie zwischen dem Samen, der, in die Erde gesenkt, emporschießt, mag es stürmen oder mag die Sonne scheinen, und einer Ware, die im Magazin verschimmelt, weil sie keinen Käufer findet.«

Er stand auf und sagte das Wort: »Du bist der Glücklichere von uns beiden, daher darf ich der Barmherzigere sein.«

Daniel fand kein Gegenwort, das trösten konnte.

Als er nach Hause ging, gedachte er der Treue und steten, stillen Hilfe, die er von Benda genossen; er gedachte der Zartheit und beständigen Rücksicht des Freundes; er gedachte besonders jener außerordentlichen Artigkeit, die so groß war, daß Benda zum Beispiel mitten im Lachen über einen Scherz offenen Mundes innehielt, wenn man wieder zu sprechen begann, um durchaus nichts von dem zu verlieren, was der andere sagte.

Er blieb stehen; es war ihm, als hätte er versäumt, eine versichernde, herzliche und unvergeßbare Kraft in den letzten Händedruck zu legen. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Aber man kehrt nicht um; es kann keiner umkehren.


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