Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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2

Seit einiger Zeit hatte es den Anschein, als habe sich der Freiherr von Auffenberg vom Schauplatz der Politik zurückgezogen. In den Kreisen, die ihn früher hoch gewürdigt hatten, galt er als eine gefallene Größe.

Seine Freunde suchten die Ursache in den fortwährenden Beeinträchtigungen, welche die Partei erlitten hatte; in der allenthalben zutage tretenden Umwandlung des öffentlichen Geistes, dem heftiger werdenden Druck von oben, der wachsenden Gärung von unten; in der fieberhaften Bewegung, von der das Bürgertum ergriffen war, und in der seine Gestalt, seine Lebensformen, seine Ideale, seine Überzeugungen einen bedeutungsvollen Umwandlungsprozeß erlitten, in der schwierigeren Behandlung, die alle Fragen der nationalen Kultur boten.

Aber dies konnte nicht den Zug steinernen Widerwillens erklären, den dieses Antlitz früher unter Menschen nie gezeigt; den harten Blick, die finstere Ungeduld nicht, und die Schweigsamkeit, die er auch dort übte, wo er ehemals durch sein scharmantes Plaudertalent entzückt hatte.

Im Innern freilich hatte er seine Gesinnungsgenossen stets verachtet, ihr Reden und ihr Tun, ihre Begeisterung und ihre Empörung. Aber er hatte sich trotzdem nicht von ihnen losgesagt, denn er hatte die Entdeckung gemacht, daß Geringschätzung und Herzenskälte sich sehr gut eignen, um die Menschen zu beherrschen.

Wennschon er im Anfang seiner Laufbahn mit dem Schwung, den ihm seine Begabung verliehen, für Freiheit und Toleranz gekämpft hatte, so war ihm doch der ganze Liberalismus nicht viel mehr als eine Zeitungsphrase geworden, ein Mittel, um den denkfaulen Bürger zu beschäftigen und dem gehaßten, heimlich bewunderten Bismarck Hindernisse in den Weg zu legen.

Er hatte Macht ausgeübt im Bewußtsein der Lüge, nur durch Gebärde, nur durch Berechnung, nur durch Gewandtheit. Dies aber frißt am Mark des Lebens.

In seinen Augen war nichts von Bestand als jenes ungeschriebene, doch in allen Zeiten siegende Gesetz, das die Kleinen unter die Großen, die Schwachen unter die Starken, die Unmündigen unter die Erfahrenen, die Armen unter die Reichen zwang. Demnach teilte sich ihm die Menschheit in zwei Lager: hier diejenigen, die sich dem Gesetz beugten, dort die Verworfenen, die sich dagegen auflehnten.

Von den Verworfenen der Verworfenste war sein Sohn Eberhard.

Mit dem schmerzenden Stachel in der Brust, inmitten eines lärmenden und lügnerischen Daseins von dem Gefühl der Einsamkeit bedrängt, von einem täglich zunehmenden Abscheu gegen den Überfluß und die Verweichlichung seiner Existenz erfüllt, hatte er aus der Gestalt des Sohnes etwas wie ein leibhaftiges böses Prinzip gemacht.

Er erblickte ihn in Verkommenheit und in Ausschweifungen jeder Art; als einen Verräter seines Namens von Stufe zu Stufe sinkend; wie in einem grausam befriedigenden Traum sah er ihn im Bund mit den Elenden und Gezeichneten, im Verkehr mit Dieben, Straßenräubern, Hochstaplern, Falschmünzern, Anarchisten, Dirnen und Literaten. Er sah ihn in schmutzigen Spelunken, und flüchtig auf einer Landstraße, und betrunken in einer Spielhölle, und als Bettler auf einem Jahrmarkt und als Angeklagter vor der Justiz.

Den Vorsatz, so lange zu warten, bis der Entartete vor aller Welt gebrandmarkt war, hatte er aufgegeben. Seine Ungeduld, Frieden zu finden, die Larven abzuwerfen, nichts mehr zu wissen von den Verstrickungen, Verstellungen und dem gewohnten Wohlleben war so groß, daß er dem Tag, der ihn erlöste, wie einer Neugeburt entgegensah.

Doch warum zögerte er? War noch ein Zweifel in seiner Brust, schlummerte vielleicht ganz in der Tiefe seines Herzens, wohin Bitterkeit und Rachsucht nicht dringen konnten, ein anderes Bild des Sohnes? Warum zögerte er von Woche zu Woche, von Monat zu Monat?

Inzwischen hatte er viele Hunderttausende für Armenhäuser, Spitäler, Stiftungen und Spenden ausgegeben. Er wollte noch Millionen verteilen, so viel jedenfalls, daß den Erben nur die Ährenlese blieb. Die Nutznießerin der Brauereibetriebe und der Landgüter sollte Emilie werden.

Dies stand fest, und als ihm seine Frau berichtet hatte, in welcher Lage sich Eberhard befand, hielt er sich für berechtigt, seine Verfügungen zu treffen. Der Nachweis unwürdigen Wandels konnte jetzt erbracht werden; die Schuldenlast, die leichtsinnig oder betrügerisch auf den Namen des Vaters gehäuft war, verurteilte ihn zur Genüge. Und wenn nicht, mochten sie über seinem Grab zanken; mochte ihnen sein letzter Wille als Gespenst alle Freuden vergällen.

Seit sieben Jahren lag der Testamentsentwurf bereit; es war nichts weiter erforderlich, als den Notar rufen zu lassen.

Aber warum zögerte der Freiherr? Ging mit verkniffenen Lippen Tag und Nacht in seinem Zimmer umher? Rief seinen Diener, um ihm zu befehlen, den Notar zu holen und verlangte dann irgend etwas anderes?

»Dépêche-toi, mon bon garçon,« krächzte der Papagei.


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