Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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5

An einem Nachmittag in der letzten Augustwoche schickten die Schwestern Rüdiger ihren Gärtnerburschen zu Lenore und ließen sie bitten, sie möge so schnell wie möglich zu ihnen kommen. In der Meinung, es sei Daniel ein Unglück zugestoßen, von dem man die Damen in Kenntnis gesetzt, überlegte Lenore nicht lange. Eine Viertelstunde später trat sie in das Zimmer der Schwestern.

Es bot sich ihr ein mitleidswürdiger Anblick. Jede der drei Schwestern saß in einem Stuhl mit hoher Rückenlehne; die Arme einer jeden hingen schlaff herab; da die Jalousien niedergelassen waren, sahen die Köpfe im Dämmerlicht mumienhaft aus. Seltsam wirkten dazu die Medea, die Iphigenie und die Römerin, Nachbildungen der Gemälde ihres Abgotts, die an den Wänden hingen.

Lenores Gruß wurde nicht beantwortet; sie wagte nicht, sich von der Tür zu entfernen, und das Schweigen, das sie empfing, endete erst, als sie sich zu einer Frage entschloß.

Fräulein Jasmine zog ein Taschentüchlein hervor und betupfte damit ihre Augen. Fräulein Salome blickte im Kreis herum wie auf dem Theater der Vorsitzende eines Femgerichts, und sprach: »Wir Einsamen und von der Welt Vergessenen haben Sie gerufen, um Sie von einer Schandtat zu unterrichten, die in unserem unschuldigen Heim begangen worden ist, einer Schandtat, so beispiellos, so himmelschreiend, daß wir seit heute morgen, wo wir das Gräßliche erfuhren, zitternd hier sitzen und vergeblich nach einem klaren Gedanken ringen.«

Fräulein Jasmine und Fräulein Albertine nickten trüb vor sich hin.

»Können wir die Unselige von uns stoßen?« fuhr Fräulein Salome fort, »können wir das, meine Schwestern? Nein. Können wir sie noch bei uns dulden? Nein. Was sollen wir also tun? Sie ist eine Waise; sie steht allein da, von ihrem ruchlosen Verführer der Schande ausgeliefert; was sollen wir tun?«

»Und Sie,« wandte sich nun Fräulein Salome an Lenore, »Sie, die Sie durch Bande, deren Beschaffenheit sich unserm Urteil entzieht, mit jenem höchst begabten Scheusal verknüpft sind, Sie sollen uns einen Weg aus dem Labyrinth unseres Kummers zeigen.«

»Wenn ich nur wüßte, wovon Sie reden,« antwortete Lenore, der eine Last vom Herzen fiel, als sie der Grundlosigkeit ihrer ersten Besorgnis inne wurde. »Sie meinen wahrscheinlich Daniel Nothafft mit dem Scheusal. Was hat er denn verbrochen?«

Fräulein Salome war entrüstet über diesen leichten Ton. Sie richtete sich steif empor und sagte mit strafender Wucht: »Er hat unsere Dienstmagd zu seiner Lustdirne erniedrigt, und die Folgen sind nicht mehr zu verbergen. Begreifen Sie jetzt?«

Lenore stieß ein leises Ach aus und errötete bis in die Haarwurzeln. In ihrer Verlegenheit öffnete sie den Mund zum Lachen, war aber dem Weinen nahe.

Langsam bahnte sich ihr verdunkeltes Gefühl den Weg zu Daniel, und als sein Bild aufstieg, kehrte sie sich ekelnd ab. Dieses wollte sie nicht hingehen lassen; es war zu schlaff, zu klein, zu eigensüchtig. Eh sie es recht bedacht, hatte sie ihm als Weib verziehen; sie schauderte, schlug die Augen empor und war wieder ganz heiter, ganz in ihrer Gewalt.

Das Femgericht hatte indessen die Stillversunkene mit strengen Blicken gemustert. »Wo hält sich Herr Nothafft gegenwärtig auf?« fragte Fräulein Salome.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Lenore, »es ist über drei Wochen, daß er nicht mehr geschrieben hat.«

»Wir müssen aber fordern, daß Sie ihn schleunigst von dem Zustand des Frauenzimmers benachrichtigen, denn solange die Person im Haus ist, können wir nicht Schlaf noch Ruhe finden.«

»Es tut mir leid, daß Sie sich die Geschichte so zu Herzen nehmen,« sagte Lenore, »und sie ist ja auch unangenehm. Aber ich habe kein Recht, mich da hineinzumischen, kein Recht und keine Lust.«

Die drei Schwestern nahmen diese Erklärung mit verzweifeltem Händeringen auf. Eher den Tod, sagten sie, als mit dem Wüstling noch einmal in Verkehr treten; eher wollten sie jede Marter erdulden, als ihn rufen, ihn sehen zu müssen. Sie sprachen durcheinander; sie drohten Lenore und flehten sie an; Jasmine erzählte mit angehaltenem Atem, wie Meta vor sie hingestürzt sei und alles gebeichtet habe; Albertine beteuerte, daß sie auf der weiten Erde niemand hätten, der ihnen in dieser grausamen Lage raten und helfen könne, und Salome sagte, es bliebe ihnen nichts anderes übrig, als das elende Geschöpf auf die Straße zu stoßen.

Lenore schwieg. Sie hatte die Augen auf das Medeenbild gerichtet und dachte angestrengt nach. Endlich hatte sie ihren Entschluß gefaßt. Sie fragte, ob sie mit Meta sprechen könne. Ängstlich und hoffnungsvoll erkundigte sich Fräulein Salome, was sie vorhabe. Sie entgegnete, sie werde den Damen später ihre Absicht mitteilen; da wies ihr Fräulein Jasmine den Weg zur Kammer der Magd.

Finstere Verwunderung malte sich in Metas Zügen, als sie Lenores ansichtig wurde.

Sie saß mit einer Näharbeit am offenen Fenster der Mansarde, erhob sich und blickte stumm in das ernst befangene Antlitz des schönen Mädchens. Es rührte Lenore, die jugendliche Gestalt mit dem hohen Leib zu sehen, dennoch konnte sie eine Regung des Grauens nicht bewältigen.

Bei den ersten Worten Lenores fing Meta zu schluchzen an. Lenore tröstete sie und fragte, zu wem sie gehen wolle, wenn ihre Zeit herangekommen sei.

»Es gibt solche Anstalten,« murmelte die Magd in ihre vor das Gesicht gehaltenen Schürze, »da kann man hin.«

Lenore setzte sich auf den Bettrand neben sie. Der erst bedrückt Lauschenden, zuletzt dankbar Willigen entwickelte sie nun ihren Plan mit einer Zartheit und Schonung, als spräche sie zu einer verwöhnten Dame, mit einer silberhellen Lebendigkeit, als handle es sich um einen übermütigen Streich.

Die Magd, gepeinigt durch die ätherisch-unmenschliche Zimperlichkeit ihrer Dienstgeberinnen, dem Manne grollend, der sie einem unsicheren Los preisgegeben hatte, ankämpfend gegen die Vorwürfe ihres Gewissens, wurde bei Lenores Worten weich wie Wachs und unterwarf sich gehorsam.

Die gespannt harrenden Schwestern Rüdiger konnten von Lenore nichts weiter erfahren, als daß sie mit Meta abreisen würde, und daß diese mit allem einverstanden sei, was Lenore zu tun für geboten erachtet habe.


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