Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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9

Daniel sah, daß seines Bleibens bei der Mutter nicht war. Er konnte der Mutter nicht auf der Tasche liegen. Sie war arm und vom Gutdünken eines tyrannischen Verwandten abhängig. Den ungestümen Drang niederhaltend, zwang er sich zu kühlem Bedacht und setzte sich einen Plan. Es war notwendig zu arbeiten und so viel zu verdienen, daß er über Jahr und Tag zu Andreas Döderlein gehen und ihn an sein großmütiges Anerbieten mahnen konnte. Er studierte Zeitungsinserate und schrieb Briefe. Eine Druckerei in Mannheim suchte eine Hilfskraft für Korrespondenzen. Da er sich mit dem niedrigen Lohn einverstanden erklärte, forderte man ihn auf, zu kommen. Marianne gab ihm das Reisegeld.

Drei Monate hielt er es dort aus, dann wurde ihm der Plage zu viel. Dann schuftete er sieben Monate lang bei einem Baumeister in Stuttgart, dann vier Monate bei der Kurverwaltung in Baden-Baden, dann sechs Wochen in einer Zigarettenfabrik bei Kaiserslautern.

Er lebte wie ein Hund. Aus Furcht vor Geldausgaben mied er jeglichen Verkehr. Er war grenzenlos einsam. Vor Darben und Hungern wurde er mager wie ein Strick. Die Wangen fielen ihm ein, und die Glieder schlotterten in den Gelenken. Er nähte und flickte seine Kleider selbst, und um die Stiefel zu schonen, nagelte er Hufeisen an die Absätze und breite Stifte in die Sohlen. Das Ziel hielt ihn aufrecht; Andreas Döderlein winkte in der Ferne.

Jeden Abend zählte er die Summe, die er erspart hatte. Und als er endlich, nach sechzehn Monaten der Entbehrungen, zweihundert Mark im Vermögen hatte, glaubte er den großen Schritt wagen zu dürfen. Nach seinen Berechnungen und dem Maßstab, den ihm sein bisheriges Leben geliefert hatte, meinte er von dem Gelde fünf Monate zehren zu können, und im Verlauf dieser Zeit konnten sich ja neue Quellen erschließen. Er hatte viele Menschen kennen gelernt und viele Verhältnisse erfahren, aber in Wirklichkeit hatte er nichts kennen gelernt und nichts erfahren, denn er hatte in der Welt gestanden wie eine Laterne mit verdecktem Licht. Da er, um zur Erwerbsarbeit tauglich zu bleiben, mit ungeheurer Energie seinem Geist die angeborene Betätigung mit dem Hinweis auf die Zukunft verwehrt hatte, befand sich nun sein Inneres in der Glut eines Hochofens.

Auf der Wanderschaft nährte er sich von trockenem Brot und Käse, wie er es gewohnt war. Aus den Büchern und Notenheften, die er besaß, hatte er ein Paket gemacht und es an das Nürnberger Bahnamt geschickt. Es waren Vorfrühlingstage, und wenn das Wetter schön war, schlief er im Freien, wenn es regnete, kroch er in einen Schuppen. Sein Bündel benutzte er als Kopfkissen, der verschlissene Mantel schützte ihn vor dem Nachtfrost. Nicht selten fand er freundliche Aufnahme und eine Mahlzeit bei Bauersleuten; bisweilen auch schloß sich ihm ein walzender Handwerks-Bursche an, aber seine Schweigsamkeit verscheuchte den Weggenossen bald.

Einmal kam er in der Nähe von Kitzingen zu einem vergitterten Park. Unter einem Ahornbaum saß ein junges Mädchen in weißem Gewand und las in einem Buch. Eine Stimme rief: »Sylvia!« worauf sich das Mädchen erhob und mit unvergeßlicher Anmut der Tiefe des Gartens zuschritt.

Sylvia, dachte Daniel, es klingt wie aus einer besseren Welt. Ihm graute vor dem Los, draußen stehen zu müssen vor dem Gitter, das den Augen alles gab und den Händen alles versagte.


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