Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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6

Der folgende Tag begann mit stürmischen Regenschauern. Daniel hatte wenig geschlafen und begab sich früh an die Arbeit. Aber der Kopf war ihm so schwer, daß er ihn beständig aufstützen mußte. Seine Ideen waren ohne Blut und ohne Schwung.

Gegen acht Uhr kam der Postbote und fragte nach dem Inspektor Jordan. Der Alte mußte einen Schein unterschreiben, wofür ihm ein feierlich versiegelter Geldbrief überreicht wurde.

In dem Brief befanden sich zweihundert Dollar in Noten nebst einem Schreiben von Benno. Dieses war aus Galveston datiert, und Benno schrieb, er habe Erkundigungen eingezogen und erfahren, daß sein Vater noch am Leben sei. Er habe es in der Neuen Welt zu etwas gebracht und sende als Beweis davon und als Ersatz für die Auslagen, die er einst verursacht, die beiliegende Summe mit den besten Grüßen.

Eine kalte Epistel; doch der Greis war außer sich vor Freude, lief zu Daniel, zu Philippine, hielt die Geldnoten in die Höhe und stammelte: »Seht nur, Kinder, er ist reich. Zweihundert Dollar hat er mir geschickt! Er ist ein honetter Mensch geworden; er gedenkt seines alten Vaters! Wahrlich, ein gesegneter Tag; auch im Hinblick auf etwas andres, lieber Daniel,« fügte er mit seinem mysteriösen Lächeln hinzu, »im Hinblick auf eine große Sache ein gesegneter Tag.«

Er kleidete sich an und ging in die Stadt, um die Nachricht seinen Bekannten mitzuteilen.

Daniel rief um sein Frühstück hinunter, aber niemand hörte ihn. Da ging er selbst in die Küche und holte sich ein Töpfchen mit Milch und ein Stück Brot. Nach einer Weile kam ihm Philippine nach, trat mit struppigen Haaren in die Kammer und fuhr ihn grob an, ob er nicht warten könne, bis der Kaffee gekocht sei.

»Laß mich zufrieden, Philippine,« sagte er, »ich brauche Ruhe.«

»Ruhe,« höhnte sie, »Ruhe! immerfort Ruhe.« Sie warf einen verächtlichen und wilden Blick in die offene Kiste, in welcher Daniels Handschriften lagen, dann stellte sie sich an den Tisch, drückte die Spitzen ihrer schmutzigen Finger auf das Notenblatt, das er eben vor sich hatte und stieß heraus: »Da ist das ganze Malheur! Das ganze Malheur ist die saudumme Schmiererei! Tag für Tag und Jahr für Jahr sich hinsetzen und schmieren! Was soll denn das bedeuten, sag mir nur! Geht ja alles den Krebsgang dabei. Ein Mannsbild und alleweil schmieren, – schämen tät ich mich!«

Auf diesen rätselhaften Ausbruch der Wut und des Hasses nicht gefaßt, blickte Daniel bestürzt in Philippines Gesicht. »Geh,« sagte er dann unwillig und wies mit dem Arm zur Türe, »geh.«

Sie ging. »Die verdammte Schmiererei,« maulte sie tückisch vor sich hin.

Von zehn bis zwölf mußte Daniel Unterricht in der Musikschule erteilen. Sein Herz klopfte beängstigend, aber er hätte den Grund der Erregung nicht sagen können. Es war mehr als Ahnung, es war fast, wie wenn er eine schreckliche Nachricht empfangen hätte, deren Sinn jedoch seinem Gedächtnis entschwunden war.

Zu Mittag kehrte er nicht heim, sondern aß in einer Wirtschaft am Karthäusertor. Dann strich er lange auf den Feldern und Wiesen herum; der Regen hatte aufgehört, der starke Wind erfrischte ihn. Er stand am Ufer des Kanals und schaute bei einer Ziegelbrennerei zu, wie Steine aufgeschichtet wurden. Von Zeit zu Zeit griff er nach einem Stück Papier in die Tasche und schrieb mit dem Bleistift Noten.

Einmal schrieb er neben ein Motiv: Leb wohl, mein Saitenspiel, und seine Augen füllten sich mit einem schaurigen Naß.

Als er in die Stadt zurückkehrte, war ein feuerglänzender Sonnenuntergang. Zwischen zwei schwarzen Sturmwolken glühte der Himmel wie eine Schmiedeesse. Da mußte er an Lenore denken.

Er trat in die Wohnstube und wanderte auf und ab. Philippine kam herein und fragte, ob sie ihm die Suppe wärmen solle. Ihr singender, unnatürlicher Ton erweckte seine Aufmerksamkeit, so daß er sie mit festem Blick musterte.

»Wo ist meine Frau?« fragte er.

Ein abgründig schlimmes Lächeln erschien auf Philippines Lippen. Sie antwortete nicht.

»Wo ist meine Frau?« fragte er nach einer Pause zum zweitenmal.

Das Lächeln Philippines wurde breiter. »Ist's kalt draußen?« erkundigte sie sich und war plötzlich aus dem Zimmer. Daniel starrte ihr nach, als zweifle er an ihrem Verstand. Es verflossen aber nur wenige Minuten, da trat sie wieder auf die Schwelle; sie hatte unterdessen einen Mantel angezogen, der ihr zu kurz war und den karierten Rock sehen ließ.

»Komm einmal mit mir, Daniel,« sagte sie mit einer besorgten Stimme, die ihm geheimnisvoll und furchtbar klang, »komm mit mir, ich zeig dir was.«

Er erblaßte, setzte den Hut auf und folgte ihr. Schweigend gingen sie über den Platz, durch die Bindergasse, die Rathausgasse, über den Markt. Daniel blieb stehen. »Was hast du vor?« fragte er heiser.

»Komm nur, wirst schon sehen,« raunte Philippine.

Sie gingen weiter, über die Fleischbrücke, die Kaiserstraße, durch den weißen Turm zum Jakobsplatz. Einige Leute schauten dem sonderbaren Paar nach. Als sie zum Häuschen der Frau Hadebusch kamen, war die Dunkelheit angebrochen. »Wirst du jetzt endlich reden?« knirschte Daniel.

»Pscht!« machte Philippine. Sie näherte ihren Mund seinem Ohr und wisperte: »Geh nauf über zwei Stiegen, aber schnell, du kennst dich ja aus in dem Häusla, pumper an die Tür, und wenn s' zug'sperrt ham, schlag die Tür ein. Ich geh derweil zur Hadebusch'n, daß sie dich nicht zurückhält.«

Da begriff Daniel.


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