Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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9

Der Bildhauer Schwalbe ging in einem Totenzug. Sein Bruderskind war gestorben, und es wurde auf jenem Kirchhof begraben.

Als er mit den andern am Schauhaus vorüberging, gewahrte er durchs Fenster eine Mädchenleiche. Nachdem das Kind zur Erde bestattet war, trat er dort ein. Es standen ein paar Leute an der Leiche, und einer sagte: »Es ist eine Sängerin von den Reichshallen.«

Dem Bildhauer fiel der reine und schöne Ausdruck im Gesicht der Ertrunkenen auf. Er blieb lange Zeit ergriffen bei der Toten, dann ging er zum Verwalter und bat um die Erlaubnis, eine Gipsmaske abnehmen zu dürfen. Die Bitte wurde ihm gewährt, und ein paar Stunden später kam er mit dem Handwerkszeug.

Als er aber die Maske abgenommen hatte, da hielt er etwas Wunderbares in der Hand. Es waren die Züge eines sechzehnjährigen Mädchens, ein Antlitz voll Süßigkeit und bittersüßer Schwermut, und das Bezauberndste darin war das selige Engelslächeln um den wehen Mundbogen. Es glich dem Werk eines großen Künstlers, und den Bildhauer erfüllte plötzlich die Sehnsucht nach seiner verlorenen Kunst.

Trotzdem zwang ihn eine Woche später die Not, die Maske an den Gießer in der Pfannenschmiedsgasse zu verkaufen, bei dem er arbeitete, und der hing sie an den Türpfosten seines Ladens.


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