Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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13

Im finstern Treppenhaus erklomm Marianne die steile Stiege und läutete vor einem Gitter. Sie mußte der Magd sagen, wer sie war, auch den Kindern mußte sie ihren Namen nennen. Ihre stadtfremde Höflichkeit erweckte bei den Kindern ein Gelächter. Die zwölfjährige Philippine tat hochmütig und wackelte beim Gehen mit den Hüften. Alle drei hatten den viereckigen Kopf der Mutter und eine käsige Gesichtsfarbe.

Die Magd brachte das Köfferchen, dann kam auch Therese und half der Schwester beim Auspacken. Mit ihrer spitzen und lieblosen Stimme stellte sie viele Fragen, wartete aber nicht die Antwort ab, sondern berichtete von Heiraten, Entbindungen und Todesfällen, die sich in der Stadt ereignet hatten. Sie vermied es, dem Blick Mariannes zu begegnen, da sie sich Gedanken darüber machte, wie lange der Besuch der Schwester wohl dauern und welche Unkosten daraus entstehen würden.

Von Daniel sprach sie nicht. Ihr Schweigen verurteilte ihn mehr als ihres Mannes bissige Reden es taten. Sie hielt unerschütterlich an beinahe religiösen Vorstellungen der Gehorsamspflicht der Kinder gegen die Eltern fest und traute Marianne nicht die Kraft zu, das Verbrechen an diesem heiligen Gebot zu ahnden.

Als Marianne wieder allein war, setzte sie sich ans Fenster der Kammer und sah traurig auf den Fluß hinunter. Das gelbe Wasser glitt wellenlos dahin und umspülte die Mauern der gegenüberliegenden Häuser. Sie konnte die Museumsbrücke und die Fleischbrücke überschauen, und das Menschengewühl auf den Brücken beunruhigte sie.

Sie ging auf die Straße und blieb am Kopf der Museumsbrücke stehen. Sie war der Meinung, jeder in der Stadt wohnende Mensch müsse einmal hier vorüberkommen. Ihr aufmerksamer Blick durchforschte alle Gesichter, und wo ihm eins entschlüpfte, verfolgte er die in den Abend schwindende Gestalt. Es kamen immer weniger Menschen, je später es wurde.

Des Nachts lag sie wach und lauschte den dumpf klingenden Schritten der Spätlinge, und am andern Tag wanderte sie vom frühen Morgen bis in die Dämmerung straßauf, straßab. Was sie sah, machte ihr das Herz schwer, die Menschen erschienen ihr wie stumme Tiere, geplagt und böse, die engen Gassen raubten ihr den Atem und der Lärm benahm ihr die Sinne.

Aber sie wurde nicht müde, zu suchen.

Am fünften Tag kam sie erst gegen zehn Uhr abends nach Hause und Therese, die schon zu Bett gegangen war, schickte ihr einen Teller Linsensuppe. Während sie ihn hungrig auslöffelte, vernahm sie Schritte auf dem Flur, ein Klopfen an der Türe, und Jason Philipp trat ein. »Komm mal gleich mit mir,« war alles, was er sagte, aber sie begriff. Mit zitternden Händen warf sie ein Tuch um die Schultern, denn die Oktoberabende waren schon kalt, und folgte ihm schweigend.

Sie gingen zur Adlergasse bergan, bogen in diese hinein, dann nach wenigen Schritten in ein schmales und finsteres Gäßchen zur Rechten. Über einem Tor hing eine Laterne, auf deren grünen Scheiben die Worte standen: »Zum Jammertal«. Grün beleuchtet war auch die steinerne Treppe, die in den Keller führte, die Fässer unten und der mit Bänken und Tischen versehene öde Gastraum. Eine sauer schmeckende Weinluft drang empor.

Neben dem Eingang befand sich ein vergittertes Fenster. Dort machte Jason Philipp halt und winkte Marianne zu sich hin.

An den langen Tischen drunten saß eine wunderliche Gesellschaft, junge Leute, wie man sie nirgends sonst in Häusern und nur selten auf den Straßen sieht. Die Not schien sie zusammengeworfen, die Nacht aus ihren Schlupfwinkeln gelockt zu haben; Schiffbrüchige, die an verlassener Küste in eine Höhle geflohen sind. Sie hatten lächerlich bunte Krawatten und traurig fahle Mienen, und das grüne Licht ließ sie noch leichenhafter aussehen. Seit langem hatte kein Haarkünstler eines ihrer Häupter berührt, seit langem kein Schneider Hand an sie gelegt. So schienen sie in mehr als einem Betracht Verächter des Handwerks zu sein.

Zwei alte Kerle saßen abseits, zwei Säufer, nicht in guten Umständen, aber einigermaßen erstaunt über die acherontische Sippe. Denn sie empfingen schließlich doch am Samstag ihren Wochenlohn, und jene lebten sichtlich ohne Lohn dahin, seit Jahren.

In einer halbdunklen Ecke vor dem Klavier aber saß einer und hämmerte gewaltig auf die Tasten. Er hatte keine Notenblätter vor sich, er spielte aus dem Gedächtnis. Das Instrument röchelte; die Saiten schepperten kläglich; die Pedale ächzten; doch der Spieler war so behext von seiner Produktion, daß ihn die Mängel der Materie wenig kümmerten. Wie sinnlos auch das Getöse klang, die schrill tobenden Akkorde, die wüsten Aufschreie des Diskants, die gejagten Triolen und brodelnden Tremolos im Baß, so gab doch die Ergriffenheit des Spielers, die Ekstase und der erdferne Rausch, worin er sich befand, der Szene eine Melancholie und eine Feierlichkeit, die des grünen Kellers und der troglodytisch fahlen Zuhörerschaft nicht bedurft hätte, um so zu wirken, wie sie wirkte.

Marianne hatte in dem Spieler sogleich Daniel erkannt. Sie mußte sich am Fenstergitter festhalten und die Knie gegen das Gesimse stemmen. Jason Philipp galt nicht umsonst für einen Mann von humoristischer Anlage; das Bild von Daniel in der Löwengrube war zu verführerisch, und er raunte die Worte in Mariannes Ohr. Aber das Fenster war offen und da sich das Musikstück eben zu einer Fermate gesteigert hatte, drang seine Stimme bis hinunter und einige an der Tafelrunde schauten hinauf. Marianne war unbesonnen; sie glaubte, der Vortrag sei zu Ende und rief, matt und furchtsam: »Daniel!«

Daniel sprang empor, starrte nach der Ruferin, sah Jason Philipps höhnisches Gesicht, stürzte zur Tür, zur Treppe und in drei Sätzen die Treppe hinan.

Er stand in der Torwölbung und seine Lippen wollten Worte rufen. Der unselige Mensch, dachte Marianne, und ihr war, als könne sie das Wort, vor dem sie zitterte, zurückzwingen in die Brust, in der es geboren wurde.

Vergebens, das Wort wurde ausgesprochen. Er wolle die Mutter nicht mehr sehen; er wolle mit sich selber und für sich selber leben, er wolle frei sein, er brauche niemand, er wolle frei sein.

Jason Philipp schleuderte dem Frevler einen Blick der Verachtung zu und zog Marianne mit sich fort. Noch an der Ecke des Gäßchens vernahmen sie die aufgeregten Stimmen der Leute vom Jammertal.

Am andern Morgen kehrte Marianne nach Eschenbach zurück.


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