Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Dreiundvierzigstes Kapitel

Mein Gefährte plündert mich aus, und ich lasse mich in der Verzweiflung zum Soldaten anwerben. Auf dem Marsch nach Deutschland gerate ich mit einem meiner Kameraden in einen politischen Streit, der zu einem Duell ausschlägt, in dem ich verwundet werde

 

Die dritte Nacht unserer Wanderschaft brachten wir in einem Hause bei Amiens zu, woselbst Balthasar unbekannt war. Wir hielten daher ein mittelmäßiges Abendbrot bei saurem Wein und waren genötigt, uns in einer Bodenkammer auf einer alten Matratze zur Ruhe zu begeben. Millionen Flöhe schienen seit undenklichen Zeiten im Besitz derselben gewesen zu sein, und so ging unser Einbruch in ihr Gebiet nicht ungeahndet ab. In weniger als einer Minute waren wir mit unzähligen Stichen vom Wirbel bis zur Zehe bedeckt; dennoch gelang es ihnen nicht, mich zu vertreiben noch an der Ruhe zu hindern.

Durch die außerordentliche Ermüdung von dem Wege, den wir den Tag über zurückgelegt hatten, verfiel ich in einen festen Schlaf, aus dem ich nicht eher als des Morgens gegen neun Uhr erwachte.

Als ich mich allein erblickte, sprang ich in der fürchterlichsten Angst auf und durchsuchte meine Taschen. Meine ahnende Furcht war nur zu begründet. Mein Gefährte hatte sich nebst meiner Kasse auf und davon gemacht. Er überließ es mir, den Weg nach Paris allein zu finden. Sofort stürzte ich mit dem Blick der Betrübnis und Verwunderung die Treppe hinunter und erkundigte mich nach dem Bettelmönch. Man gab mir zur Antwort, er wäre vor ungefähr vier Stunden weggegangen und hätte zu ihnen gesagt, ich befände mich nicht wohl, deshalb bäte er, mich nicht zu stören. Wenn ich aufwachte, sollte man mir nur melden, daß er seinen Weg nach Noyon genommen habe, wo er mich im Coq d'Or erwarten würde.

Ohne ein Wort weiter zu sprechen, eilte ich mit schwerem Herzen fort und nach dieser Stadt. Halb ohnmächtig vor Müdigkeit und Hunger kam ich nachmittags dort an. Zu meiner größten Bestürzung erfuhr ich aber, daß kein solcher Mensch wie mein bisheriger Gefährte in dem angegebenen Wirtshaus eingetroffen sei. Mein Glück war es, daß sich in meinem Charakter eine gute Dosis Reizbarkeit befand, die mich bei solchen Gelegenheiten gegen die Bubenstücke der Menschen in Wallung brachte und in den Stand setzte, Widerwärtigkeiten zu erdulden, die sonst unerträglich gewesen sein würden.

Kochend vor Unwillen entdeckte ich dem Wirt meinen beklagenswerten Zustand und brach mit großer Bitterkeit in Schmähungen gegen Balthasars Verräterei aus. Er zuckte die Schultern und sagte mit einer besonderen Grimasse, mein Unglück täte ihm leid, allein dafür wäre kein anderes Mittel, als sich in Geduld zu fassen. In ebendem Augenblick kamen Gäste. Er trippelte ihnen entgegen, bot ihnen seine Dienste an und ließ mich voller Kränkung über seine Gleichgültigkeit stehen. Ich war nunmehr völlig überzeugt, daß Gastwirte überall in der Welt die schmutzigsten Buben sind.

Hilflos und ganz unentschlossen stand ich im Vorhause und stieß Verwünschungen gegen den Dieb aus, der mich beraubt, und gegen den alten Priester, der ihn mir empfohlen hatte, als ein reichgekleideter junger Herr, mit einem Kammerdiener und zwei Livreebedienten hinter sich, im Wirtshause ankam. Ich glaubte in seiner Miene viel Sanftheit und Gutmütigkeit zu lesen. Kaum war er daher abgestiegen, als ich mich ihm nahte und ihm mit wenigen Worten meine Lage entdeckte. Er hörte diese Geschichte mit großer Höflichkeit an, und als sie zu Ende war, sagte er: »Gut, mein Herr. Und was wollen Sie, daß ich tun soll?« Diese Frage, welche meines Erachtens kein Mann von gewöhnlichem Menschenverstande oder nur einiger Großmut hätte tun können, machte mich so betreten, daß ich sie nur mit einer tiefen Verbeugung zu erwidern vermochte. Er machte darauf ein noch tieferes Kompliment und stolperte nach seinen Zimmern. Der Wirt ließ mir indes sagen, ich störte durch mein Dableiben nur seine Gäste und könnte ihm ungemein viel Abbruch tun.

Er hatte es nicht nötig, diesen Fingerzeig zu wiederholen. Ich begab mich unmittelbar fort und war durch Betrübnis, Ärger und Zorn in eine so heftige Wallung versetzt, daß mir ein Strom Blut aus der Nase schoß. In diesem wilden Aufruhr meiner Sinne verließ ich Noyon und ging auf das Feld. Dort strich ich wie ein Wahnsinniger umher, bis ich alle meine Kräfte erschöpft und mich genötigt fühlte, an der Wurzel eines Baumes eine Ruhestätte für meine matten Glieder zu suchen.

Hier schwand meine Wut. Ich begann die ungestümen Forderungen der Natur zu empfinden und sank von neuem in stillen Gram und in schwermutvolles Nachdenken. Nun überdachte ich alle Vergehen, deren ich mich je schuldig gemacht hatte, und sie deuchten mir so gering und läßlich, daß ich die Vorsehung fast einer Ungerechtigkeit zieh, da sie mich so vielem Elend und solchen Gefahren preisgegeben und endlich einen Raub des Hungers in einem fremden Lande werden ließ, wo ich keinen Freund oder Bekannten hatte, der mir die Augen zudrücken oder meinem elenden Leichnam die letzten Pflichten der Menschheit erweisen konnte.

Tausendmal wünschte ich, ein Bär zu sein, um mich in Wälder und Wüsten fern von den unwirtlichen Behausungen der Menschen zurückzuziehen, wo ich durch eigene Naturgabe meinen Unterhalt gewinnen könnte, ohne von verräterischen Freunden und von hochmütiger Verachtung abzuhängen.

Während ich auf die Art über mein hoffnungsloses Schicksal jammerte und ächzte, hörte ich den Schall einer Violine. Ich hob meinen Kopf empor und gewahrte nicht allzuweit von mir eine Gesellschaft von Männern und Weibern auf dem Grase tanzen. Dies hielt ich für eine günstige Gelegenheit, Mitleid für einen Notleidenden anzuregen. Jeder eigennützige Gedanke pflegt unter solchen Umständen verbannt und das Herz durch Lustigkeit und gesellige Freude erweitert zu sein. Daher stand ich auf und näherte mich dem glücklichen Völkchen, das, wie ich sogleich entdeckte, eine Gruppe Soldaten war, die sich mit Frauen und Kindern durch die Belustigung von den Strapazen des Marsches erholten.

Noch nie hatte ich eine solche Anzahl von Vogelscheuchen gesehen. Ebensowenig wußte ich ihre winddürren Gestalten noch ihren schmutzigen und zerrissenen Anzug mit diesem Anschein von Frohmut zusammenzureimen. Indessen grüßte ich sie und wurde mit großer Höflichkeit von ihnen empfangen. Sie schlossen sodann einen Kreis und tanzten um mich her. Diese muntere Laune machte einen wunderbaren Eindruck auf mich. Ihre Lustigkeit steckte mich an, und ich vergaß, trotz meiner bedrängten Lage, meinen Gram und nahm an ihrer ausschweifenden Freude starken Anteil.

Wie wir uns eine gute Weile durch diesen Zeitvertreib erquickt hatten, breiteten die Weiber ihre Mäntel auf der Erde aus und tischten aus den Ränzeln der Männer ein paar Zwiebeln, Käse, Kommißbrot und einige Flaschen sauren Wein auf. Sie luden mich ein, an ihrem Bankett teilzunehmen. Ich setzte mich nebst den übrigen dazu nieder und kann versichern, daß ich in meinem ganzen Leben keine erquickendere Mahlzeit genossen habe.

Als wir abgegessen hatten, fingen wir wieder an zu tanzen. Jetzt hatte ich so viele Kräfte gesammelt, daß ich allgemeine Bewunderung hervorrief. Ich wurde mit tausend Komplimenten und Freundschaftsversicherungen überschüttet. Die Männer priesen meine Person und Behendigkeit, und die Weiber brachen in laute Lobeserhebungen meiner bonne grâce aus. Der Sergeant zumal bewies viel Achtsamkeit gegen mich. Er wußte mir die Annehmlichkeiten des Soldatenstandes so reizend zu schildern, daß ich anfing, seinem Vorschlage, in Kriegsdienste zu treten, Gehör zu geben. Je mehr ich meine Lage betrachtete, um so mehr wurde ich von der Notwendigkeit überzeugt, einen schnellen Entschluß zu fassen.

Nachdem ich das Für und Wider reiflich erwogen hatte, gab ich ihm meine Einwilligung und wurde in das Regiment Picardie aufgenommen, welches eins der ältesten Regimenter in Europa sein soll. Die Kompanie, zu der dies Kommando gehörte, stand in einem nicht weit entfernten Dorfe. Wir marschierten den folgenden Tag dahin, und ich ward meinem Hauptmann vorgestellt. Er schien mit meinem Äußern wohl zufrieden zu sein, gab mir eine Krone zu vertrinken und befahl, mich mit Kleidern, Waffen und allem Zubehör zu versehen. Ich verkaufte nun meine Livree, schaffte mir dafür Wäsche an und legte mich mit so großem Fleiß auf das Exerzieren, daß ich in kurzer Zeit ein vollkommener Soldat wurde.

Nicht lange, so erhielten wir Order, zu einigen anderen Regimentern zu stoßen und in aller Eile nach Deutschland zu marschieren, als Verstärkung für den Marschall Duc de Noailles, der sich mit seiner Armee am Main gelagert hatte, um die Bewegungen der Engländer, Hannoveraner, Österreicher und Hessen zu beobachten, die sich unter dem Kommando des Grafen Stair befanden.

Jenem Befehl gemäß traten wir unseren Marsch an, und jetzt lernte ich das Soldatenleben von einer bisher fremden Seite kennen. Unmöglich läßt sich der Hunger und Durst samt den Strapazen beschreiben, die ich auf einem Marsch von so manchen hundert Meilen auszustehen hatte. Die stechende Sonne und die Bewegung erhitzten mich so sehr, daß die Haut von meinen Schenkeln in kurzem ganz aufgerieben war und ich nur mit der größten Qual von der Stelle kommen konnte. Dies Ungemach verdankte ich meiner Fettleibigkeit, die ich öfters verfluchte und die Ausgedorrtheit meiner Kameraden beneidete, deren Körper aller Säfte beraubt zu sein schienen und die gegen jede Art von Reibung probefest waren.

Eine so fortdauernde Pein machte mich äußerst mürrisch, und meine Verdrießlichkeit nahm durch die Kränkung zu, welche mein Stolz litt, wenn ich jene elenden Wichte, die ein heftiger Windstoß wie Spreu hätte durch die Lüfte führen können, ganz heiter die Mühseligkeiten ertragen sah, unter denen ich zu erliegen im Begriffe stand.

Eines Tages, als wir haltgemacht hatten und die Soldaten mit ihren Weibern, wie gewöhnlich, ausgegangen waren, um zu tanzen, blieb einer von ihnen unter dem Vorwande, mir Gesellschaft zu leisten, zu Hause und beleidigte mich durch seine Mitleidsäußerungen und durch seine Trostgründe. So jung und zart ich auch wäre, sagte er, so würde ich doch bald des Dienstes gewohnt werden, und er zweifle gar nicht, daß ich einstmals die Ehre haben würde, zum Ruhm seines Königs etwas beizutragen.

»Nur Mut gefaßt«, schloß er, »und den lieben Gott gebeten, daß er es Euch so gut werden läßt wie mir, der die Ehre gehabt hat, Ludwig dem Großen zu dienen und manche Wunde zu bekommen, indem ich seinen Ruhm mit fördern half.«

Als ich den verächtlichen Gegenstand betrachtete, der diese Worte vorbrachte, war ich voller Erstaunen über seine Betörung und konnte nicht umhin, mein höchstes Befremden an den Tag zu legen, daß ein vernünftiges Wesen so ungereimt sein könne, es für eine hohe Ehre zu halten, wenn man ihm erlaube, sich der niedrigsten Armut und Unterdrückung, dem Hunger, Krankheiten, der Verstümmelung, ja dem augenscheinlichen Tode preiszugeben, bloß um den lasterhaften Ehrgeiz eines Fürsten zu befriedigen, der auf seine Leiden keinen Blick wirft und dem sein Name unbekannt ist.

Ich sagte ferner, wenn er durch Gewalt in seine Lage versetzt worden wäre, so wollte ich die Geduld und Festmütigkeit loben, die er in Ertragung seiner ihm beschiedenen Leiden bewiese. Wofern er die Waffen zur Verteidigung seines gekränkten Vaterlandes ergriffen habe, so wäre er wegen seines Patriotismus lauten Beifalls würdig. Oder wenn er zu dieser Lebensart seine Zuflucht genommen habe, um größerem Ungemach zu entgehen – wiewohl ich mir kein schlimmeres Elend denken könnte, als das er ausstände –, so wäre er in seinem Gewissen entschuldigt. Wollte er aber seinen Stand so darstellen, als ob er dadurch etwas beitrüge, den Ruhm seines Fürsten zu fördern, so bekenne er sich geradeswegs für einen verzweifelten Sklaven, der sich freiwillig dem äußersten Elende und den größten Gefahren unterziehe und die offenbarsten Verbrechen begehe, um den barbarischen Stolz eines Mitmenschen zu nähren, der bloß durch die Macht über ihn erhaben sei, die ihm durch die Unterwürfigkeit solcher Elenden, wie er sei, zufließe.

Der Soldat fand sich durch die Freiheit, mit der ich von seinem Könige sprach, sehr beleidigt. Nur meine Unwissenheit, sagte er, könne mich entschuldigen. Die Personen der Fürsten wären heilig und dürften durch den Tadel ihrer Untertanen nicht entweiht werden. Diese müßten, zufolge ihrer Pflicht der Treue und des Gehorsams, allen Befehlen, wie sie auch immer lauten möchten, ohne Bedenken und Murren gehorchen. Zugleich gab er mir den Rat, die rebellischen Grundsätze abzulegen, die ich unter den Engländern eingesogen hätte, die wegen ihres übermütigen Benehmens gegen ihren König der ganzen Welt zum Sprichwort geworden wären.

Um meine Landsleute zu rechtfertigen, wiederholte ich alle die Gründe, deren man sich gemeiniglich bedient, um zu beweisen, daß jeder Mensch ein natürliches Recht auf Freiheit habe; daß Treue und Schutz von beiden Teilen müsse geleistet werden; daß, wenn das Band durch die Tyrannei des Königs zerrissen werde, er dem Volke für diesen Kontraktbruch Rechenschaft schuldig und der Strafe der Gesetze unterworfen sei; daß jenes Auflehnen der Engländer gegen ihre ersten Vorgesetzten, welches die Sklaven der despotischen Gewalt mit dem Namen Rebellion brandmarkten, nichts anderes als rühmliche Bestrebungen seien, ihr Geburtsrecht, die Freiheit, den räuberischen Klauen einer überall eingreifenden Macht zu entreißen.

Der Franzose, den die geringe Ehrerbietigkeit wurmte, die ich gegen den königlichen Namen bezeigte, verlor alle Geduld und machte mir solche Vorwürfe, daß ich alle Mäßigung verlor und meine Faust ballte, um ihm einen tüchtigen Schlag hinter die Ohren zu geben. Er merkte meine Absicht, sprang zurück und bat mich um einen Augenblick Gehör. Mittlerweile legte sich mein Unwille, und er sagte mir, ein Franzose vergebe nie einen Schlag, den er bekommen hätte; wäre ich daher nicht meines Lebens überdrüssig, so würde ich wohl tun, ihn mit dieser Kränkung zu verschonen und ihm dagegen die Ehre zu erzeigen, mich, wie es rechtlichen Leuten ziemte, mit ihm auf den Degen zu messen.

Ich nahm diesen Rat an und folgte ihm auf einen nahegelegenen Anger. Die erbärmliche Figur meines Gegners, der ein armseliges, kleines, zitterndes und bebendes Geschöpf war, entkräftet durch Alter und blind auf dem einen Auge, war Ursache, daß ich mich seiner in der Tat schämte. Aber ich fand bald, wie töricht es sei, nach dem Schein zu urteilen. Beim zweiten Gange wurde ich am rechten Arm verwundet und unmittelbar darauf mir der Degen mit einer solchen Heftigkeit aus der Hand geschlagen, daß ich glaubte, das Gelenk sei mir ganz ausgedreht.

Über diesen Vorfall war ich ebenso beschämt wie wütend, zumal mein Widerpart seinen Sieg nicht mit aller der Mäßigung ertrug, die man hätte erwarten sollen. Er bestand nämlich darauf, ich sollte ihm die seinem Könige und ihm zugefügte Beleidigung abbitten. Darein wollte ich nun durchaus nicht willigen, sondern sagte ihm, eine so niedrige Art von Unterwerfung könne kein edeldenkender Mann unter seinen Umständen in Vorschlag bringen noch ein Mensch in meiner Lage annehmen, wenn er nicht ein ganz verworfenes Geschöpf sei. Wofern er nun auf seiner unedelmütigen Forderung bestünde, würde ich auf Feuergewehr von ihm Genugtuung verlangen. Vielleicht wäre ich ihm darin eher gewachsen als im Degen, den er meisterhaft zu führen verstehe.

Diese Erklärung setzte ihn außer Fassung. Er antwortete darauf nicht und begab sich zu den Tänzern, denen er seinen Sieg mit mancher Übertreibung und vielen Gaskonaden erzählte. Ich hob indes meinen Degen auf und ging nach meinem Quartier. Dort untersuchte ich meine Wunde und fand, daß es nichts damit auf sich habe.


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