Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Viertes Kapitel

Der Richter macht seinen Letzten Willen und mein Oheim mit mir den zweiten Besuch. Eröffnung des Testaments; Standrede auf den verblichenen Erblasser im Seemannston

 

Wenig Wochen nach unserm ersten Besuch erfuhren wir, der alte Richter habe nach einem Anfall von Tiefsinn, der drei Tage gedauert hätte, den Notar holen und seinen Letzten Willen aufsetzen lassen; die Krankheit wäre aus den Beinen in den Magen getreten; und da er sein Ende nahe merkte, habe er alle seine Angehörigen ohne Ausnahme zu sehen verlangt.

Dieser Aufforderung zufolge machte sich mein Oheim mit mir zum zweiten Male auf den Weg, damit ich den letzten Segen meines Großvaters erhalten möchte. Unterwegs wiederholte er öfters: »Ei, ei! So haben wir das alte Hulk doch endlich aufgebracht – du wirst sehen, daß meine Ermahnungen Eindruck gemacht haben.«

Wir traten in sein Zimmer, das von Verwandten wimmelte, und näherten uns dem Bette des Kranken. Er lag in den letzten Zügen. Zwei von seinen Enkelinnen saßen ihm zur Seite, stützten ihm den Kopf unter erbärmlichem Schluchzen, trockneten ihm den Todesschweiß ab und wischten den Speichel weg, der sich auf den Lippen gesammelt hatte, die sie häufig unter Äußerungen der äußersten Beängstigung und Zuneigung küßten.

Mein Oheim drängte sich mit folgenden Worten zu ihm hin: »Noch nicht abgesegelt? Wie geht's, alter Herr? Gott erbarme sich Eurer armen sündigen Seele.«

Bei diesen Worten richtete der Sterbende seine halbstarren Augen nach uns hin, und Leutnant Bowling fuhr so fort: »Hier ist der arme Rory. Er will Euch noch mal sehen, bevor Ihr sterbt, und Euren Segen empfangen. – Was, Mann! Verzweifelt nicht – Ihr seid wirklich ein großer Sünder gewesen –, na, wenn schon. Dort oben ist ein gerechter Richter. Er nimmt mich nicht wichtiger als ein Meerschwein. – Jaja, er segelt ab – die Landkrabben wollen ihn haben, ich seh es wohl. Sein Anker steht schon senkrecht, meiner Treu!«

Diese rohe Tröstung war der ganzen Gesellschaft höchst anstößig, zumal dem Pfarrer, der sich dadurch in sein Amt gegriffen glaubte. Wir sahen uns daher genötigt, in eine andere Stube zu treten. Kaum waren wir einige Minuten darin, so wurde uns durch ein entsetzliches Gekreisch, das die Damen in dem andern Zimmer ausstießen, von dem Tode meines Großvaters Gewißheit. Wir eilten sogleich in das Gemach des Verstorbenen. Hier fanden wir seinen Erben, der vor einem Weilchen in ein Kabinett gegangen war, unter dem Vorwande, seinem Schmerze Luft zu machen. Mit einem von Tränen entstellten Gesichte fragte er: ob cher grandpapa denn wirklich tot wäre?

»Tot?« sagte mein Oheim und blickte auf den Leichnam hin. »Ja-ja, der ist unter Garantie so tot wie ein Hering. Potz alle Meerwunder! Nun ist mein Traum aus für alle Zeit. Mir deuchte, ich stand auf dem Vorderdeck und sah, wie ein Schwarm Aaskrähen über einen toten Haifisch herfiel, der im Wasser trieb, und wie der Teufel – er sah aus wie ein blauer Bär – auf der Besanstenge saß und, hast du nicht gesehen, über Bord sprang direkt auf den Kadaver und ihn in seinen Klauen in den Abgrund beförderte.«

»Hinweg mit dem heillosen Menschen! Hinaus mit diesem gotteslästerlichen Buben!« rief der Pfarrer. »Unterstehst du dich zu glauben, Satanas habe Ihrer Herrlichkeit Seele in sein Reich bekommen?«

In dem Augenblick erhob sich durchaus ein Geschrei, und mein armer Oheim wurde mit Ungestüm von einer Ecke des Zimmers in die andere gestoßen. Er setzte sich endlich zur Gegenwehr und schwor, er würde sich nicht eher vom Fleck machen, als bis er wüßte, wer das Recht hätte, ihn unter Segel gehen zu heißen. »Spart Eure Tricks bei weitgereisten Leuten«, sagte er, »vielleicht hat der alte Kauz meinen Verwandten hier zum Erben gemacht. Wenn er's getan hat, um so besser für seine arme Seele. Eine bessere Nachricht könnt ich mir gar nicht wünschen. Dann würde ich bald absegeln, das könnt ihr mir glauben.«

Um Streit und alles Aufsehen zu vermeiden, versicherte einer von den Testamentsvollstreckern dem Leutnant Bowling, man würde seinem Neffen alle mögliche Gerechtigkeit widerfahren lassen und nach dem Begräbnis einen Tag festsetzen, die Papiere des Verstorbenen in Gegenwart der ganzen Familie zu untersuchen. So lange sollten alle Schreibkasten, Koffer, Kisten und Schränke versiegelt werden, und man habe ganz und gar nichts dagegen, wenn er einen Zeugen dabei abgeben wolle.

Zu meines Oheims Vergnügen ward die Versieglung auch sogleich vorgenommen. Mittlerweile wurde Befehl gegeben, daß alle Anverwandten, ich nicht ausgeschlossen, Trauer anlegen sollten. Allein der Leutnant wollte nicht zugeben, daß ich dies eher täte, als bis ich genau wüßte, ob ich Ursache hätte, das Andenken meines Großvaters so sehr zu ehren.

Während dieser Pause waren die Mutmaßungen der Leute über den Inhalt vom Letzten Willen des alten Herrn sehr verschieden. Daß er außer seinen Grundstücken, die jährlich siebenhundert Pfund trugen, noch sechs- oder siebentausend auf Zinsen ausgeliehen hatte, war überall bekannt. Nun bildeten verschiedene sich ein, er würde alle seine liegende Habe, die er sehr verbessert hatte, dem jungen Menschen, den er immer seinen Erben genannt, vermacht haben und die Barschaft meinen Kusinen (deren es fünf gab) und mir zu gleichen Teilen. Andre waren der Meinung, er würde, da die übrigen Kinder bereits versorgt waren, jeder von seinen Enkelinnen ein Legat von etwa drei- bis vierhundert Pfund, mir aber den größten Teil des baren Geldes hinterlassen haben, um sein unnatürliches Verfahren gegen meinen Vater wiedergutzumachen.

Endlich war die wichtige Stunde da, und das Testament ward den Anwärtern vorgelegt. Die Blicke und Gebärden dieser Gruppe mußten für unbefangene Zuschauer viel Unterhaltendes haben. Allein der Leser kann sich kaum einen Begriff von dem Erstaunen und der Trostlosigkeit der Zuhörer machen, als der Notarius mit lauter Stimme den jungen Squire zum einzigen Erben aller liegenden sowohl als fahrenden Habe erklärte.

Mein Oheim, der mit großer Aufmerksamkeit zugehört und an seinem Stockknopfe gesogen hatte, begleitete diese Worte des Gerichtsmannes mit einem stieren Blick und einem heftigen: »Hol's der Deibel!«, das die ganze Versammlung erschreckte. Die älteste und lebhafteste unter meinen Mitbewerberinnen, die um meinen Großvater stets am geschäftigsten gewesen war, fragte mit stockender Stimme und einem Gesicht, das so gelb war wie eine Pomeranze, ob keine Legate vorhanden wären. »Kein einziges«, fiel die Antwort, und sie sank in Ohnmacht.

Die übrigen, deren Erwartungen vielleicht nicht so feurig waren, ertrugen den Fehlschlag mit mehr Entschlossenheit, doch nicht ohne ersichtliche Merkmale bitteren Unmuts und einer Betrübnis, die wenigstens so natürlich war als die, die sie beim Tode des alten Herrn hatten blicken lassen.

Mein Führer stampfte einige Male auf den getäfelten Boden und rief sodann: »Also kein Legat, Freund? So ein alter Strolch! – Aber dafür heult auch drunten schon seine Seele, verdammt noch mal!«

Der Pfarrer des Kirchspiels, der einer von den Testamentsvollstreckern war und bei dem Verstorbenen den Seelsorger vorgestellt hatte, vernahm kaum diese Erklärung, als er ausrief: »Hinaus, hinaus, du heilloses, unchristliches Lästermaul! Hinweg mit dir! Erfrechst du dich, die Seele Seiner Herrlichkeit in ihrer Ruhe zu stören oder ihr gar den Aufenthalt im Paradiese abzusprechen?« Allein der eifrige Pfarrer fand sich jetzt nicht mehr so warm von den jungen Damen unterstützt wie das vorige Mal. Sie vereinigten sich vielmehr mit dem Leutnant gegen ihn. Er hätte, lautete ihre Beschuldigung, den Zwischenträger und Aufhetzer bei ihrem Großvater gemacht und ihn ganz zuverlässig mit erdichteten Historien gegen sie eingenommen, sonst würde der Verstorbene sie nicht auf eine so unnatürliche Art zurückgesetzt haben.

Den jungen Squire belustigte dieser Auftritt sehr, und er wisperte meinem Oheim zu, er hätte ihm, wenn er seine Hunde nicht umgebracht, eine kapitale Lust mit dem schwarzen Dachs (so nannte er den Diener der Kirche) machen wollen. Der mürrische Seemann, der gar nicht gelaunt war, an einem solchen Zeitvertreibe Behagen zu finden, gab ihm zur Antwort: »Geht zum Teufel mitsamt Euren Hunden. Sicherlich findet Ihr sie mit Eurem Väterchen zusammen in der Hölle. Komm, Rory – wegsteuern – wir müssen einen anderen Kurs nehmen, denk ich.« Damit begaben wir uns fort.


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