Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Neundundreißigstes Kapitel

Wie es mir in diesem Hause ergeht

 

Mit so nützlichen Instruktionen versehen, begab ich mich nach der Wohnung der gelehrten Dame. Die Kammerfrau führte mich bei meiner nunmehrigen Gebieterin ein, welche ich noch nicht gesehen hatte. Sie saß in ihrer Studierstube, hatte den einen Fuß auf der Erde und den anderen auf einem hohen Stuhl, der in einiger Entfernung von ihr stand. Ihr rotes Haar hing in einer Unordnung, die ich nicht angenehm nennen kann, um ihren Kopf herum, der nicht mit einer Haube bedeckt war, damit sie sich ungehindert mit der einen Hand darauf kratzen konnte, indes die andere einen Federstumpf hielt.

Ihre Stirn war hoch und voller Runzeln, die Augen tellergroß, grau und hervorquellend, die Nase lang, spitz und habichtförmig, der Mund ungeheuren Umfangs, das Gesicht mager und mit Sommerflecken übersät und das Kinn spitz wie ein Schuhpfriem. Die Oberlippe bedeckte fingerdick ein großes Quantum Spaniol, der beim Herunterfallen ihren von Natur nicht allzu weißen Hals und den oberen Teil ihres Morgenrocks ausgeschmückt hatte, der mit wirklich dichterischer Nachlässigkeit ganz lose um sie hing. Darunter blickte Wäsche hervor, die zwar sehr fein, aber allem Anschein nach nie anders als im Kastalischen Quell gewaschen war.

Rund um sie her lagen Haufen von Büchern, Erd- und Himmelskugeln, Quadranten, Teleskope und andere gelehrte Gerätschaften. Die Schnupftabaksdose befand sich ihr zur Rechten, zur Linken ihr wohlgebrauchtes Schnupftuch, und an der einen Seite ihres Stuhles erblickte man einen Spucknapf.

Als wir hineintraten, war sie in tiefe Träumerei versunken, woraus das Mädchen sie nicht aufzustören für ratsam hielt. Wir warteten sonach einige Minuten, ohne von ihr wahrgenommen zu werden. Während der Zeit kaute sie verschiedentlich an der Feder, änderte ihre Stellung, machte allerhand Grimassen und deklamierte endlich laut mit triumphierender Miene: »Und selbst kein Gott darf hemmen meine Wut.«

Nachdem sie diesen Fund zu Papier gebracht hatte, drehte sie sich nach der Tür und erblickte uns. »Was gibt's?« rief sie sogleich.

»Der junge Mensch ist gekommen«, antwortete ihr meine Führerin, »den Mistreß Sagely Ihrer Gnaden zum Bedienten vorgeschlagen hat.«

Das Fräulein starrte mich eine ziemliche Weile an und fragte mich sodann nach meinem Namen. Ich fand es für gut, mich John Brown zu taufen. Sie beschaute mich mit neugierigem Auge und rief hernach aus: »Ha, du hast Schiffbruch gelitten, ruft mein Gedächtnis mir zu. Trug ein Walfisch oder ein Delphin dich ans Gestade?« – »Ich bin«, gab ich zur Antwort, »ohne irgendeine Beihilfe ans Land gekommen.« – »Warst du je auf dem Hellespont?« fragte sie hierauf, »und bist du von Sestos nach Abydos geschwommen?« Ich verneinte dies. Darauf hieß sie ihr Mädchen eine neue, vollständige Livree für mich besorgen zu lassen und mich in meinen Obliegenheiten zu unterrichten. Nach diesen Worten spuckte sie in die Schnupftabaksdose und wischte sich die Nase in ihre Haube, die auf dem Tische lag, statt das Schnupftuch zu nehmen.

Wir gingen zusammen nach der Küche. Dort wurde ich von den Mägden stattlich bewirtet; sie wetteiferten, mir ihre Achtung zu beweisen. Ich hörte von ihnen, meine ganze Arbeit würde darin bestehen, Messer und Gabeln rein zu machen, den Tisch zu decken, beim Essen aufzuwarten, Aufträge zu besorgen und meine Herrschaft zu begleiten, wenn sie einmal ausginge.

Es war noch eine gute Livree da, die meinem verstorbenen Vorgänger gehört hatte und mir genau paßte; daher hatte man nicht nötig, deshalb einen Schneider zu rufen. Ich war noch nicht lange in diesem Anzug, als die Glocke meines Fräuleins sich hören ließ. Sofort lief ich hinauf und fand, daß sie im bloßen Hemd und Unterrock im Zimmer umherwanderte. Augenblicklich wollte ich wieder umkehren, wie es sich für mich gebührte, allein sie befahl mir, dazubleiben und ihr ein reines Hemd auszulüften. Nachdem ich dies Geschäft mit einiger Verdrossenheit getan hatte, legte sie es ohne alle Umstände vor meinen Augen an. Ich bin überzeugt, daß sie die ganze Zeit über nicht an mein Geschlecht dachte, so sehr war sie in Betrachtung versunken.

Um vier Uhr nachmittags ungefähr erhielt ich Befehl, den Tisch, und zwar für zwei Personen, zu decken. Ich merkte wohl, dies würde für meine Herrschaft und ihre Nichte sein, die ich noch nicht gesehen hatte. Wiewohl ich mit jenem Geschäft noch nicht recht Bescheid wußte, so machte ich es für einen Anfänger doch noch immer gut genug.

Als das Essen auf dem Tisch stand, kam meine Gebieterin in Begleitung eines jungen Frauenzimmers, die ich Narzissa nennen will.

In Wesen und Benehmen dieses liebenswürdigen Mädchens lag so viel Anmut, daß mein Herz von ihrem ersten Anblick gefesselt ward. Die ganze Mahlzeit hindurch sah ich unverwandt auf sie. Ihr Alter war ungefähr siebzehn Jahre, ihr Wuchs lang und schlank, ihre ganze Gestalt ohne Fehl und Tadel, ihr Haar, das in geringelten Locken über ihren elfenbeinernen Hals fiel, schwarz wie Jett, ihre wohlgewölbten Augenbrauen von ebender Farbe, ihre Augen durchbohrend, aber zugleich zärtlich, ihre Lippen von der Festigkeit und Farbe einer Kirsche. Ihr Teint, der die Frische der Gesundheit atmete, war äußerst zart, ihr Blick edel, offen, liebreich und die ganze Person so einnehmend, daß unmöglich irgendein mit Gefühl begabtes Geschöpf sie sehen konnte, ohne sie zu bewundern, und sie bewundern, ohne sie über die Maßen zu lieben.

Ich begann meinen Bedientenstand zu verfluchen, der mich so weit aus ihrem Gesichtskreis hinwegrückte; zugleich aber pries ich mein Schicksal, das mir täglich den Genuß des Ansehens so vieler Vollkommenheiten verschaffte. Wenn sie redete, lauschte ich mit Entzücken, und sprach sie mit mir, so war meine Seele in der frohesten Wallung. Ich war sogar glücklich, der Gegenstand ihrer Unterredung zu sein; denn als Narzissa mich wahrgenommen hatte, sagte sie zu ihrer Tante: »Wie ich sehe, haben Sie nun Ihren Diener schon?« Darauf wandte sie sich an mich und fragte mit unaussprechlicher Anmut, ob ich die Person sei, die von den Räubern so grausam wäre mißhandelt worden.

Nachdem ich hierüber gehörige Auskunft gegeben, bezeigte sie Verlangen, meine Schicksale sowohl vor als nach dem Schiffbruch ausführlich zu wissen. Darauf erzählte ich ihr – dem Rate der Mistreß Sagely gemäß –, man habe mich wider meinen Willen als Schiffsjungen zur See gesandt. Das Fahrzeug sei untergegangen und ich, nebst noch vier anderen, die sich an Deck befunden hätten, wären, wie das Schiff in den Grund gesunken sei, durch Schwimmen an Land gekommen. Am Ufer hätten meine Gefährten mich übermannt, rein ausgezogen und für tot liegengelassen, nachdem sie mir wegen meiner Gegenwehr viele Wunden versetzt hatten. Sodann kam ich auf das unmenschliche Benehmen zu sprechen, das mir von den Landleuten und dem Pfarrer widerfahren war, als man mich in der Scheune gefunden hatte.

Diese Beschreibung, merkte ich, lockte Tränen in die Augen des holden Geschöpfes. Als ich mit meiner Erzählung zu Ende war, sagte meine Gebieterin: »Ma foi! Le garçon est bien fait.« Dieser Meinung pflichtete Narzissa bei und machte zugleich meinem Verstande in ebender Sprache ein Kompliment, das mir ausnehmend schmeichelhaft war.

Unter anderen Gesprächen fiel auch die Rede auf den jungen Squire, nach dem sich meine Gebieterin unter der Benennung ›der Wilde‹ erkundigte. Er läge, versetzte die Nichte, noch im Bett, um sich von der letzten Nachtschwärmerei auszuschlafen und Kräfte und Munterkeit zur morgigen Fuchsjagd zu sammeln. Zu dieser Partie habe er Sir Timothy Thicket, Squire Bumper und andere Herren von diesem Schlage einladen lassen, so daß das ganze Haus vor Tagesanbruch in Aufruhr sein würde.

Diese Nachricht war unserer Gelehrten sehr unangenehm. Sie beteuerte, daß sie beim Zubettgehen ihre Ohren mit Watte zustopfen und eine Dosis Opium nehmen wolle, um desto tiefer zu schlafen und durch das Hallo und Hurra dieser Wildlinge nicht in ihrer Ruhe gestört zu werden.

Als die Mahlzeit vorbei war, setzte ich mich mit meinen Mitbedienten in der Küche zu der unsrigen nieder. Hier erfuhr ich, Sir Timothy Thicket sei ein reicher Adliger aus der Nachbarschaft, mit dem Narzissas Bruder sie zu verheiraten willens sei, wobei er sich zugleich anheischig machte, Timothys Schwester zu heiraten. Da nun das beiderseitige Vermögen fast gleich stark wäre, so fände man diese Familienverbindung sehr zuträglich. Allein die jungen Damen schienen nicht in den Plan zu stimmen, und jede von ihnen verriete eine herzliche Abneigung gegen die Person, die ihr diesem Plane nach zum Gemahl ohne ihre Genehmigung bestimmt wäre.

Diese Nachricht erregte in mir einen tödlichen Abscheu vor Sir Timothy, den ich wirklich als meinen Nebenbuhler ansah und für diese Vermessenheit im Innern verfluchte.

Den folgenden Morgen ward ich bei Tagesanbruch durch das Lärmen der Jäger und Hunde geweckt und stand auf, um die Kavalkade mit anzusehen. Da erblickte ich denn auch meinen Mitbewerber. Seine Vollkommenheiten schienen mir, sein Vermögen ausgenommen, so hervorstechend eben nicht zu sein, um mich wegen Narzissa im geringsten besorgt zu machen. Ich schmeichelte mir, dies junge Frauenzimmer sei nicht von der Art, sich durch einen mit solchen Eigenschaften des Geistes und des Körpers begabten Mann einnehmen zu lassen.

Ungeachtet aller Vorsicht meiner Herrin ward sie doch durch ihres Neffen edle Kumpane so gestört, daß sie vor fünf Uhr nachmittags nicht aufstand. Diese gute Gelegenheit nutzte ich, ihre Studierstube mit Muße zu untersuchen, wozu meine Neugier mich sehr anreizte.

Ich fand dort unzählige Bruchstücke von ihren Poesien, von drei, vier, zehn, zwölf und vierzehn Zeilen, die unendlich viele Gegenstände betrafen. Sowie ihr die Laune ankam, begann sie diese; doch hatte sie weder Beharrlichkeit noch Kräfte genug, diese Arbeiten zu vollenden. Das Außerordentlichste dabei war mir, daß keine davon etwas von Liebe enthielt, wiewohl sie sich von einem Frauenzimmer herschrieben.

Fünf Fragmente von Trauerspielen zählte ich darunter, die folgende Titel führten: ›Der strenge Philosoph‹, ›Der doppelte Mörder‹, ›Der gotteslästerliche Verrätern‹, ›Luzifers Fall‹ und ›Der Jüngste Tag‹. Daraus schloß ich, sie sei von trüber Gemütsart und ihre Einbildungskraft finde nur an Gegenständen des Schreckens Behagen.

Ihr Büchervorrat bestand aus den besten englischen Geschichtsschreibern, Dichtern und Philosophen, aus allen französischen Kunstrichtern und Poeten und aus einigen wenigen italienischen Werken, hauptsächlich aus dem Fache der Dichtkunst, obenan ein weidlich gebrauchter Tasso und ein stark zerblätterter Ariost. Außerdem hatte sie noch französische Übersetzungen von den Klassikern, doch kein einziges lateinisches oder griechisches Buch – ein Umstand, der ihre Unkenntnis dieser Sprachen verriet.

Nachdem ich diese Büchersammlung in den genauesten Augenschein genommen hatte, verließ ich das Zimmer und war um die gewöhnliche Zeit im Begriff, den Tisch zu decken. Allein das Mädchen sagte mir, unsere Herrschaft wäre noch im Bett. Das Anschlagen der Hunde an diesem Morgen hätte solchen Eindruck auf sie gemacht, daß sie sich einbilde, ein von Jägern verfolgter Hase zu sein, und deshalb zum Frühstück Kräuter verlangt habe.

Als ich mein Erstaunen über diese unerklärbare Einbildung bezeigte, gab sie mir zu verstehen, ihre Gebieterin habe öfters dergleichen Grillen. Manchmal bilde sie sich ein, ein Tier, unterweilen, ein Stück Hausrat zu sein. Es wäre gefährlich, ihr zu nahe zu kommen, wenn sie sich dergleichen vorstellte, vornehmlich, wenn sie ein Tier geworden zu sein glaubte. Neulich, als sie in eine Katze verwandelt zu sein vermeint hätte, wäre sie auf sie zugeflogen und hätte ihr schrecklich das Gesicht zerkratzt.

Vor einigen Monaten, fuhr sie fort, hätte sie eine nah bevorstehende allgemeine Feuersbrunst prophezeit, die nur durch ihr Wasser könne gelöscht werden. Zu dem Zweck habe sie dieses so lange an sich gehalten, daß ihr Leben darüber in Gefahr geraten sei. Unstreitig würde sie an dieser Verhaltung gestorben sein, wenn man nicht ein Mittel ausgefunden gehabt, sie zu einer Ausleerung zu vermögen. Man machte nämlich ein tüchtiges Feuer unter ihrem Stubenfenster und überredete sie, das ganze Wohngebäude stände in Flammen. Darauf verlangte sie mit großer Überlegung, daß man alle im Hause befindlichen Zuber und Gefäße herbeibringen sollte, um sie reichlich anzufüllen und dadurch den Brand zu dämpfen. In eine dieser Wannen ergoß sich dann sogleich die Ursache ihrer Krankheit.

Nichts verschaffte ihr, erfuhr ich ferner, den Gebrauch ihrer Vernunft wieder als Musik. Damit helfe Narzissa, die den Flügel vortrefflich spiele, in solchen Gelegenheiten aus. »Zu der will ich jetzt auch hingehen«, schloß das Mädchen, »und ihr melden, wie's mit ihrer Tante wieder aussieht.«

Kaum war sie fort, als die Glocke in meiner Gebieterin Zimmer mich zu ihr hinaufforderte. Sie hatte sich hingekauert wie ein Hase, wenn er auf das Hallo seiner Verfolger lauscht. Wie ich erschien, sprang sie mit ganz verstörten Blicken auf und rannte in eine andere Ecke der Stube, um mich zu vermeiden, weil sie mich unstreitig für einen Spürhund hielt, der nach ihrem Leben dürstete.

Da ich ihre große Geisteszerrüttung wahrnahm, so begab ich mich wieder fort. Auf der Treppe begegnete ich der anbetungswürdigen Narzissa. Ich machte sie mit der Gemütsverfassung ihrer Tante bekannt. Sie sagte dazu kein Wort, lächelte aber mit unaussprechlicher Anmut. Darauf begab sie sich in das Zimmer meiner Gebieterin. Kurz darauf ward ich von ihrer Geschicklichkeit ganz hingerissen. Sie begleitete das Instrument, das sie spielte, mit so süßer, melodischer Stimme, daß ich mich über die erstaunliche Veränderung nicht wunderte, die sie bei meinem Fräulein bewirkte: die Sinnesempörung legte sich in kurzem, und sie kehrte wieder zum kühlen Nachdenken zurück.

Um sieben Uhr des Abends kamen die Jäger wieder heim. Vor ihnen her wurden die Trophäen ihres Sieges, die Felle von zwei Füchsen und einem Dachse, getragen. Als sie sich zum Mittag- oder vielmehr Abendessen niedersetzten, bat Sir Timothy Thicket, daß Narzissa die Gesellschaft mit ihrer Gegenwart beehren möchte. Allein ungeachtet ihres Bruders Drohungen und Bestürmen schlug sie es unter dem Vorwande ab, sie müsse ihrer Tante zur Hand gehen.

Sonach hatte ich das Vergnügen, meinen Nebenbuhler gekränkt zu sehen. Doch tiefen Eindruck machte die fehlgeschlagene Erwartung nicht auf ihn – er tröstete sich durch die Weinflasche. In diese verliebte sich die ganze Gesellschaft dermaßen, daß sie nach einem schrecklichen Lärmen von Lachen, Singen, Fluchen, Tanzen und Balgen insgesamt in völliger Bewußtlosigkeit zu Bett geschafft werden mußte.

Da mich meine Obliegenheiten von dem Squire und seiner Hausgenossenschaft ganz absonderten, so führte ich ein recht ruhiges und behagliches Leben. Täglich berauschte sich mein Herz stärker an Narzissas Reizen, die stündlich tiefer in meine Seele drangen. An einem so unrühmlichen Posten ich auch stand, so war ich doch gegen meinen Unwert blind und hoffte, einst noch in den Besitz dieses liebenswürdigen Geschöpfes gesetzt zu werden, dessen Leutseligkeit mir größtenteils diese verwegenen Gedanken einflößte.


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