Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Ich lerne Morgan und die Krankenanstalten auf dem Schiffe kennen

 

Indes Thompson noch so mit mir sprach, hörten wir von der Leiter, die nach unserer Wohnung führte, in einem seltsamen Dialekt herunterdonnern: »Sollen mich der Teufel und seine Großmutter vom Gipfel des Mounchdenny blasen, wenn ich zu ihm gehe, bevor ich was im Magen habe. Laß seine Nase so gelb sein wie Safran oder so blau wie eine Glockenblume oder so grün wie Lauch. Seht Ihr, das ist mir gänzlich einerlei.«

Auf diese Erklärung hörten wir jemanden antworten: »Auf die Art wird wohl mein armer Kamrad sein Ankertau kappen müssen, nur, weil ihm ein wenig Beistand fehlt. Sein vorderes Topsegel ist so schon los. Außerdem hat der Doktor befohlen, Ihr sollt ihn gründlich untersuchen; aber ich sehe, Ihr kümmert Euch nicht viel darum, was Euer Chef sagt.«

»Donnerwetter! Du Lausekerl«, unterbrach ihn jener, »wen nennst du meinen Chef? Scher dich zum Doktor, sag ihm, wer meine Familie ist, wie ich erzogen wurde, was ich gelernt habe. Sag ihm, daß mein Benehmen genausogut ist wie seins oder das irgendeines Gentlemans auf der Welt (ohne ihn herabsetzen zu wollen). Gott sei meiner Seele gnädig! Denkt er etwa, ich sei ein Pferd, ein Esel oder eine Ziege, daß ich bald rückwärts, vorwärts, aufwärts, abwärts springen kann, zur See und zu Lande, nach seinem Willen und Vergnügen? Geh deiner Wege, du Lumpenhund, und sag Doktor Atkins, daß ich wünsche und verlange, er soll mal nach dem Sterbenden sehen und ihm etwas verordnen, mag er nun tot oder lebendig sein, und ich werde sehen, daß er es einnimmt, wenn ich meinen knurrenden Magen befriedigt habe. Hast du mich verstanden?«

Darauf ging der andere weg und sagte, er würde diejenigen noch im Jenseits beschimpfen, die ihn in seiner Sterbestunde so gemein behandelten.

Thompson sagte mir nun, der Mann, den wir eben gehört hätten, wäre Mister Morgan, der erste Unterchirurgus, der eben vom Hospital zurückgekommen wäre, wo er einige Kranke besucht habe. Bei diesen Worten trat er herein. Er war klein und beleibt, sein Gesicht stark mit Pickeln besetzt, Himmelfahrtsnase, der Mund außerordentlich groß, die Augen klein und grell, ringsum mit einer Haut umgeben, die unzählige Falten warf.

Mein Freund machte mich sogleich mit ihm bekannt. Er sah mit einem sehr gravitätischen Blick auf mich hin, ohne zu sprechen, legte ein Bündel nieder, das er in der Hand hatte, näherte sich dem Speiseschrank und rief, sowie er ihn geöffnet hatte, mit großem Zorn: »So wahr mir Gott helfe, das ganze Schweinefleisch verschwunden! Oder ich will kein Christ mehr sein.«

Thompson gab ihm nun zu verstehen, ich sei halbverhungert an Bord gebracht worden, und daher habe er nicht umhin gekonnt, mir alles vorzusetzen, was im Schrank gewesen sei, und zwar um so eher, da er den Proviantmeister mich habe aufschreiben und in ihre Tischgenossenschaft aufnehmen lassen.

War es nun diese fehlgeschlagene Hoffnung, die Morgan mürrischer als gewöhnlich machte, oder glaubte er wirklich, sein Amtsgenosse habe es an Achtung gegen ihn fehlen lassen – genug, er sagte nach einer kleinen Pause zu ihm: »Mister Thompson, wissen Sie wohl, daß Sie mich nicht mit der Höflichkeit, Gefälligkeit und dem Respekt behandeln, die Sie mir schuldig sind? Sonst hätten Sie geruht, mich über diese Angelegenheit zu informieren. Ich bin zu meiner Zeit ein gewichtiger Mann von Ansehen und Vermögen gewesen, habe Haus und Hof gehabt, Gemeindesteuern und Königssteuern bezahlt und obendrein noch eine Familie ernährt. Und dazu bin ich länger im Amte und älter als Sie, Mister Thompson, und somit Ihr Vorgesetzter.«

»Daß Sie älter sind, räum ich Ihnen ein«, schrie Thompson mit einiger Hitze, »aber nicht mein Vorgesetzter.«

»Gott ist mein Heiland und Zeuge«, sagte Morgan mit großer Heftigkeit, »daß ich älter bin als Sie und darum auch ein Teil mehr als Sie.«

Da mir bang war, dieser Disput möchte üble Folgen haben, legte ich mich ins Mittel. Ich sagte Morgan, es täte mir sehr leid, daß ich die Veranlassung zu einer Uneinigkeit zwischen ihm und seinem Kollegen wäre. Ehe ich ihr gutes Vernehmen nur im geringsten störte, wollte ich lieber für mich allein essen oder suchen, in eine andere Tischgesellschaft aufgenommen zu werden.

Thompson hingegen bestand, wie mir deucht, mit mehr Mut als Klugheit darauf, ich sollte bleiben, wo er mich untergebracht hätte. Zugleich machte er die Anmerkung, wer Edelmut und Mitleid besäße, würde dagegen nicht die geringste Einwendung machen, wenn er meine Herkunft, Geschicklichkeiten und die mir noch kürzlich ganz unverschuldet begegneten Unglücksfälle in Betracht zöge.

Dadurch hatte er bei Morgan die rechte Saite getroffen. Letzterer beteuerte mit großem Ernst, er habe nichts dagegen, daß ich in ihre Tischgesellschaft aufgenommen würde, sondern beschwere sich bloß darüber, daß man die Zeremonie unterlassen habe, um seine Einwilligung anzusuchen. Er schüttelte mir die Hand und sagte: »Herr, als Gentleman in Bedrängnis sind Sie mir so lieb wie meine eigenen Augen; denn, sehen Sie, ich habe auch schon viel Kummer und Not erlebt, so wahr mir Gott helfe.«

Ich erfuhr in der Folge, daß er hierin nur die Wahrheit sagte. Er hatte sich zu Glamorganshire in recht guten Umständen befunden und sich dadurch zugrunde gerichtet, daß er sich für einen Bekannten verbürgte.

Nachdem aller Zwist beigelegt war, öffnete er das mitgebrachte Paket, worin sich drei Bunde Zwiebeln und ein großes Stück Chesterkäse befanden, um die er sein Schnupftuch geschlagen hatte. Darauf langte er Zwieback aus dem Schrank, fiel mit heißem Appetit über diese Gerichte her und lud uns ein, an seinem Mahl teilzunehmen.

Wie er sich an dieser geringen Kost weidlich gelabt hatte, füllte er eine weite Schale, die aus einer Kokosnuß gemacht war, mit Branntwein und leerte sie völlig aus. »Branntwein«, sagte er sodann, »ist das beste Lösungsmittel für Zwiebeln und Käse.«

Jetzt, da sein Hunger gestillt war, befand er sich bei besserer Laune. Er erkundigte sich nach meiner Herkunft und bezeigte ganz besonders viel Gewogenheit für mich, als er vernahm, daß ich von guter Familie sei. Sodann legte er mir sein Geschlechtsregister vor, das er in gerader Linie von dem berühmten Caractacus, König der Briten, herleitete, der erst Gefangener und dann Freund von Claudius Cäsar war.

Morgan bemerkte, daß es mir an Leinen gebrach; daher machte er mir zwei gute Manschettenhemden zum Geschenk. Diese und zwei andere von gröberer Leinwand, die ich von Thompson bekam, setzten mich in den Stand, mich auf eine schickliche Art sehen zu lassen.

Der Matrose, den Morgan zum Doktor geschickt hatte, kam nun mit einem Rezept für seinen Kameraden wieder. Der Waliser las es durch und stand hernach auf, um es zuzubereiten. Während der Zeit fragte er ihn: »Ist der Mensch tot oder noch am Leben?«

»Tot?« rief Jack, »wenn er tot wäre, brauchte er doch keine ärztlichen Präparate mehr. Nein, Gott sei Dank hat ihn der Tod noch nicht geentert, aber sie waren schon Rah an Rah die letzte Viertelstunde.«

»Sind seine Augen offen?« fragte der Doktor weiter.

»Sein Steuerbordauge«, sagte der Seemann, »ist offen, aber in seinem Kopf festgeklemmt; und die Schleppseile seines Unterkiefers haben sich schon gelockert.«

»Ach, du Herzensjammer!« schrie Morgan, »dem Menschen geht's so schlecht, wie man's nur verlangen kann! Habt Ihr ihm den Puls gefühlt?« Worauf der andere nur antwortete: »Waas?«

Jetzt befahl dieser Cambro-Britone mit viel Ernst und Menschenliebe dem Matrosen, zu seinem Kameraden zu eilen und ihn so lange am Leben zu halten, bis er mit der Medizin käme, »und dann«, fuhr er fort, »werdet Ihr vielleicht staunen, was Ihr seht.«

Der arme Schelm rannte in aller Einfalt nach dem Ort, wo der Patient lag. Allein in weniger als einer Minute war er wieder da und sagte mit einem Jammergesicht: »Mein Kamrad ist schon gestrandet.«

Als Morgan dies hörte, rief er: »Gott sei meiner armen Seele gnädig! Warum habt Ihr ihn denn nicht aufgehalten, bis ich kam?«

»Aufgehalten?« sagte der andere, »ich rief ihn einige Male an, aber er war schon zu weit weg, und der Feind hatte schon seine Schotten eingenommen; so kehrte er sich nicht an mich.«

»Gut, gut«, sagte Morgan, »wir schulden alle dem Himmel unseren Zoll. Geh deiner Wege, du Lumpenkerl, nimm dir das zur Warnung und bereue deine Missetaten.«

Mit diesen Worten schob er den Bootsknecht aus der Kammer. Darauf stellte er Betrachtungen an, die zu diesem Vorfall paßten. Indes hörten wir den Hochbootsmann zum Essen pfeifen, und unmittelbar darauf kam der Junge hereingerannt, der uns bei Tische aufwarten mußte. Er holte aus dem Seitenschrank eine große, hölzerne Schüssel, die er in wenig Minuten voller Erbsen wiederbrachte. Unterwegs schrie er in einem fort: »Kochend heiß, kochend heiß!«

Das Tischtuch bestand aus einem Stück altem Segel, das sogleich aufgelegt wurde. Man setzte alsdann drei Teller hin, die ich mit aller Mühe als metallene erkannte. Drei Löffel von ebender Materie kamen zum Vorschein; an zweien davon war der Stiel und an dem dritten das Mundstück zerbrochen. Morgan bereicherte unser Gericht mit einem Klumpen gesalzener Butter, die er aus einer alten Apothekerbüchse ausstach, einer Handvoll gehackter Zwiebeln und ein paar Messerspitzen gestoßenem Pfeffer.

Dies Gericht reizte meinen Appetit ganz und gar nicht, so herzhaft meine Tischkollegen auch davon aßen und sosehr sie mir auch anrieten, ihrem Beispiel zu folgen, weil heute Banianentag wäre und wir vor dem folgenden Tag kein Fleisch zu essen bekämen.

Ich hatte für diesmal bereits genug zu mir genommen; daher bat ich, mich zu entschuldigen. Zugleich äußerte sich meine Neugier, zu wissen, was sie unter Banianentag verständen. Sie sagten mir, montags, mittwochs und freitags bekäme niemand im Schiff Fleisch, und diese Tage würden Banianentage genannt. Die Ursache davon wußten sie nicht; allein ich habe später erfahren, daß sich diese Benennung vor einer Sekte Andächtler in einigen Gegenden von Ostindien, die Banianen genannt, herschreibt, die kein Fleisch anrühren.

Nach der Mahlzeit führte mich Thompson im Schiff herum, zeigte mir die verschiedenen Abteilungen, sagte mir, zu welchem Behufe sie wären, und machte mich, soviel er nur konnte, mit der Manneszucht und der Ordnung bekannt, die hier herrschten. Sodann forderte er vom Hochbootsmann eine Hängematte für mich. Mein Freund Jack Rattlin setzte dieselbe gar nett in den gehörigen Stand; und weil es mir an Bettzeug fehlte, verschaffte mir mein vorgenannter Kollege bei dem Proviantmeister so viel Kredit, daß ich eine Matratze und zwei Bettdecken von ihm erhielt.

Um sieben Uhr des Abends besuchte Morgan die Kranken und verschrieb jedem, was er nötig fand. Thompson verfertigte nachher unter meinem Beistande die verordneten Arzneien.

Wie ich diese Präparate in Begleitung des ebengedachten Amtsgehilfen nach der Abteilung hintrug, wo die Kranken lagen, wunderte ich mich weit weniger darüber, daß Leute auf dem Schiff starben, als vielmehr darüber, daß noch einer von den Patienten davonkam. Ich erblickte hier ungefähr fünfzig elende Geschöpfe, die reihenweise in ihren Matten schwebten und so dicht aneinandergeschichtet waren, daß für jeden mit Bett und Bettzeug nicht mehr als vierzehn Zoll Raum gelassen war. Sie befanden sich nicht nur des Tageslichts, sondern auch der frischen Luft beraubt; atmeten nichts weiter als die übelriechende Atmosphäre der Dünste ein, welche aus ihren Exkrementen und siechen Körpern aufstiegen. Die Würmer, die sich in der Unsauberkeit erzeugt hatten, die sie umgab, zehrten sie auf, und es fehlte ihnen an jeder Bequemlichkeit, die Leuten in so hilflosem Zustande nötig war.


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