Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Wir segeln nach Westindien. Unterwegs befällt uns ein Orkan, wobei Jack Rattlin ein Bein bricht, das Morgan und ich gegen Mackshanes Willen heilen

 

Der Kapitän wurde in seine Kajüte getragen. Er war über die ihm widerfahrene Begegnung so außer sich, daß er den Täter vor sich zu bringen befahl, damit er das Vergnügen haben möchte, ihn mit eigener Hand niederzuschießen. Zuverlässig würde er auch seine Rache auf die Art befriedigt haben, wenn der Oberleutnant ihm nicht die Bemerkung entgegengehalten hätte, aller Wahrscheinlichkeit nach sei der Kerl nicht toll, sondern nur ein Verzweifelter, den einige von des Kapitäns Feinden gedungen hätten, ihn umzubringen. Daher sei es besser, ihn so lange in Ketten und Banden aufzubewahren, bis man ein Kriegsgericht über ihn halten und der Sache recht auf den Grund kommen könne. Er hoffe, daß dadurch Entdeckungen von Belang würden gemacht werden. Sodann sei man imstande, dem Verbrecher eine Todesstrafe nach aller Gebühr zuzuerkennen.

So unwahrscheinlich dies Vorgeben auch war, so tat es doch, da er es genau dem Geisteshorizont des Kapitäns angepaßt hatte, die erwünschte Wirkung bei diesem, zumal Doktor Mackshane zufolge seiner vorhergehenden Erklärung, der Mensch sei nicht toll, der Meinung des Leutnants beipflichtete.

Wie Morgan noch alles so gut abgelaufen sah, konnte er sich nicht enthalten, die Freude aus seinen Blicken hervorschimmern zu lassen, die er über diesen Vorfall empfand; und wie er des Doktors Gesicht mit Spiritus gerieben hatte, wagte er ihn zu fragen, ob er glaube, daß mehr Narren oder Wahnsinnige an Bord wären. Allein er hätte klüger getan, diesen Einfall zu unterdrücken; denn der Patient hob ihn sorgfältig in seinem Gedächtnis auf, um davon bei gelegener Zeit Notiz zu nehmen.

Bald darauf lichteten wir die Anker und machten uns nach den Dünen auf. Inzwischen fand der Tolle, den man als einen Staatsgefangenen behandelte, Gelegenheit, der Schildwache zu entkommen, über Bord zu springen und so den Kapitän um seine Rache zu bringen.

In den Dünen hielten wir uns nicht lange auf, sondern nutzten den ersten Ostwind, nach Spithead zu gehen. Dort bekamen wir Mundvorrat auf sechs Monate. Von St. Helens liefen wir mit der großen Flotte aus, die nach Westindien zu der ewig merkwürdigen Unternehmung auf Cartagena bestimmt war.

Es ging mir nicht wenig nahe, als ich mich im Begriff sah, nach einem so fernen und ungesunden Himmelsstrich zu kommen, aller Bequemlichkeiten beraubt, die eine solche Reise hätten erträglich machen können, und überdies unter der Botmäßigkeit eines despotischen Tyrannen, dessen Kommando beinahe nicht auszuhalten war. Da aber der größte Teil von denen, die sich an Bord befanden, dieselben Beschwerden zu führen hatte, so beschloß ich, mich meinem Schicksal geduldig zu unterwerfen und so gutes Muts zu sein, als es unter den damaligen Umständen nur immer möglich war.

Wir verließen den Kanal unter einer frischen Brise. Sie legte sich bald, und wir hatten ungefähr fünfzig Meilen westwärts von Kap Lizard gänzliche Windstille. Doch war diese nicht von langer Dauer, denn in der nächsten Nacht ward das große Bramsegel von einem Winde zerrissen, der gegen Morgen zum schrecklichen Orkan anwuchs. Ein entsetzliches Getöse weckte mich auf. Das Rollen der Lafetten, das Krachen der Kajüten, das Heulen des Windes durch das Tauwerk, das verwirrte Getümmel der Schiffsleute, das Pfeifen des Hochbootsmannes und der Unterbootsleute, die Sprachrohre der Leutnante und das Geklirre der Kettenpumpen – das alles machte die grausenvollste Wirkung.

Morgan, der noch nie zuvor auf See gewesen war, lief in der größten Eile herunter und rief: »Gott, erbarme dich unser! Ich glaube, wir befinden uns an den Pforten der Hölle.«

Thompson lag inzwischen zitternd in der Hängematte und stieß Gebete zum Himmel für unsere Rettung aus. Ich stand nun auf und machte mich nebst dem Waliser auf das Deck, nachdem wir uns vorher durch Aquavit gestärkt hatten.

War mein Gehör zuvor mit Schrecken erfüllt worden, so wurde es jetzt mein Gesicht, als ich die Früchte des Sturmes wahrnahm. Die See schlug berghohe Wellen, auf deren Gipfel unser Schiff manchmal hing, um dann wieder in den tiefsten Abgrund hinunterzustürzen. Bisweilen versank es zwischen zwei Wogen, die auf jeder Seite höher waren als unsere Toppsegelstenge und uns durch plötzliches Zusammenschlagen zu überschwemmen drohten. Von unserer ganzen Flotte, die aus hundertfünfzig Segeln bestand, erblickten wir kaum zwölf, und diese trieben mit bloßen Segelstangen hin, ganz dem Unwetter preisgegeben. Eins davon verlor endlich seinen Mast, der mit fürchterlichem Krachen über Bord stürzte.

Nicht behaglicher war der Anblick auf unserem Schiff. Mit verstörten Blicken rannten Offiziere und Matrosen in Menge hin und her, schrien aufeinander los und waren unschlüssig, wo zuerst Hand anzulegen sei. Einige klimmten an den Segelstangen hinauf und bemühten sich, die in tausend Stücke zerrissenen Segel abzumachen, die in dem Winde flatterten. Andere hingegen suchten die, welche noch ganz waren, einzuziehen. Die Maste bogen sich indes, schwankten wie Zweige und schienen in unzählige Splitter zerbrechen zu wollen.

Indem ich noch diesen fürchterlichen Anblick mit vollem Erstaunen und Schreck ansah, zerriß eine von den Brassen des großen Mastes. Durch diese Erschütterung flogen zwei Matrosen vom Arme der Rahe in die See, wo sie umkamen. Der arme Jack Rattlin stürzte auf das Deck und brach ein Bein. Morgan und ich rannten sogleich zu seinem Beistande hinzu. Wir fanden, daß durch die Heftigkeit des Falles ein Splitter des Schienbeines durch die Haut gedrungen war. Der Fall war zu wichtig, um ohne das Gutachten des Oberwundarztes Hand dabei anzulegen. Deshalb begab ich mich nach seiner Kajüte, sowohl um ihm diesen Vorfall zu melden, als auch um von ihm Bandagen zu verlangen, die er immer in Bereitschaft liegen hatte.

Ich trat ohne alle Zeremonie in sein Gemach und bemerkte bei dem schwachen Schimmer einer Lampe, daß er vor etwas auf den Knien lag, was einem Kruzifix ungemein glich. Doch will ich dies nicht mit voller Gewißheit behaupten. Man möchte sonst etwa sagen, ich wäre ein sklavischer Anhänger des allgemeinen Gerüchts, das freilich meine Mutmaßungen begünstigte. Denn außer mir glaubten noch viele andere, Mackshane wäre ein Mitglied der römisch-katholischen Kirche.

Wie dem auch sein mag – genug, er stand in einiger Verwirrung auf – vermutlich, weil ich ihn so in seiner Andacht gestört hatte – und entrückte mir den Gegenstand meines Argwohns in einem Nu aus den Augen.

Ich entschuldigte mich bei ihm wegen meines Hereinstürmens und machte ihn sodann mit Rattlins Situation bekannt. Allein ich konnte ihn auf keinerlei Weise vermögen, diesen Menschen auf Deck zu besuchen, wo er lag. Er befahl mir, dem Hochbootsmann zu sagen, daß er ihn nach unserer Wohnung hinuntertragen ließe. Indessen wolle er Thompson Anleitung geben, wie er die Bandagen anzufertigen habe.

Als ich dem Hochbootsmann das Verlangen des Doktors eröffnete, versetzte er mit einem gräßlichen Fluche, er könne keinen Mann vom Deck missen, weil jeden Augenblick zu erwarten stünde, daß der Mast brechen und über Bord stürzen würde. Dies war keine tröstliche Nachricht für mich. Inzwischen, da mein Freund Rattlin so sehr klagte, schaffte ich ihn mit Morgans Beistand auf das untere Deck. Hierhin wagte sich endlich Mackshane nach vielen Bitten. Thompson begleitete ihn mit einem Kästchen voller Bandagen; auch hatte er seinen Diener mit einer großen Anzahl chirurgischer Instrumente bei sich.

Er untersuchte nun den Bruch und die Wunde. Allein die schwärzliche Farbe, welche sich über das ganze Bein verbreitet hatte, brachte ihn auf die Vermutung, der kalte Brand sei nicht mehr weit. Daher beschloß er, sofort das Bein abzunehmen. Dies war ein fürchterliches Urteil für den Patienten. Er stärkte sich mit einem Mundvoll Tabak und sagte sodann mit einem Jammergesicht: »Wie? Gibt's keinen anderen Rat, Doktor? Müssen Sie wirklich amputieren? Können Sie's nicht spleißen?«

»Bestimmt, Doktor Mackshane«, sagte Morgan, »bei aller Achtung, Ehrerbietung und Anerkennung Ihrer höheren Geschicklichkeit, Erfahrung und Stellung glaube ich versichern und behaupten zu können, daß hier weder Ursache noch Notwendigkeit besteht, diesem armen Menschen das Bein abzunehmen.«

»Gott der Allmächtige segne Euch, lieber Waliser!« rief Rattlin. »Ich wünsche guten Wind und Wetter, wohin Ihr auch segeln müßt, und daß Ihr zuletzt auf der Reede des Himmels Anker werfen mögt.«

Mackshane (sehr aufgebracht über die Dreistigkeit seines Untergebenen, eine andre Meinung zu äußern als er): »Herr, ich brauche Ihm von meiner Art zu kurieren nicht Red und Antwort zu geben. Nur gleich das Turniket angesetzt.«

Bei diesem Anblick fuhr Jack Rattlin hoch und schrie: »Halt, halt! Ich will verflucht sein, wenn Sie Ihre Zange bei mir anlegen, eh ich weiß wozu! Mister Random, wollt Ihr nicht helfen, mein kostbares Bein zu retten? Potz Blitz, wenn Leutnant Bowling hier wäre, der gäbe nicht zu, daß Jack Rattlins Bein abgehackt wird wie 'n Stück altes Tau!«

Diese leidenschaftliche Anrede an mich nebst meiner Neigung, diesem ehrlichen Manne zu dienen, samt den Ursachen, die ich hatte, zu glauben, es wäre keine Gefahr dabei, wenn man die Amputation verschöbe, dies alles, sage ich, bewog mich, der Meinung des ersten Unterchirurgus beizutreten. Zugleich erklärte ich, die unnatürliche Farbe der Haut rühre von einer durch eine Quetschung verursachten Entzündung her, wäre in dergleichen Fällen gewöhnlich und nicht im geringsten eine Anzeige von einem nahen kalten Brande.

Morgan, der viel von meiner Geschicklichkeit hielt, freute sich sehr, daß ich ihm beipflichtete. Er fragte nunmehr Thompson, in der Hoffnung, durch ihn unsere Partei zu verstärken, um seine Meinung. Allein dieser war zu sanfter Gemütsart und erklärte sich, entweder weil er die Feindschaft des Oberwundarztes fürchtete oder auch weil er wirklich seine eigene Urteilskraft zu Rate zog, auf eine bescheidene Art für Mackshanes Meinung.

Der Oberwundarzt war inzwischen mit sich zu Rate gegangen und hatte beschlossen, sich so zu benehmen, daß er vor jedem Tadel gesichert sei, zugleich aber auch, sich an uns zu rächen, weil wir so vermessen gewesen waren, ihm zu widersprechen. In der Absicht fragte er uns, ob wir es auf unser Risiko nähmen, das Bein zu kurieren, das will sagen, ob wir für alle Folgen haften wollten. Morgan antwortete hierauf, nur allein in Gottes Hand befände sich das Leben seiner Kreaturen, und es würde von ihm große Vermessenheit sein, für einen Erfolg bürgen zu wollen, der lediglich in der Macht des Schöpfers stünde, so wie wenn der Doktor sich anheischig machen wollte, alle die Kranken wiederherzustellen, die er in der Kur hätte. Wolle sich aber der Patient unseren Händen anvertrauen, so würden wir unser möglichstes tun, ihn durchzubringen, und bis jetzt sei dazu noch aller Anschein vorhanden.

Ich pflichtete ihm bei, und Jack Rattlin war darüber höchst erfreut. Er schüttelte uns beiden die Hände und schwor, kein Mensch außer uns solle ihn anrühren und sein Blut auf seinen Kopf kommen, wenn er stürbe.

Mackshane, der sich mit der Hoffnung eines unglücklichen Ausgangs schmeichelte, ging fort und ließ uns den Kranken behandeln, wie wir es für gut befanden. Wir sägten demzufolge den vorstechenden Splitter ab, richteten das Bein wieder ein, verbanden die Wunde, legten die nötigen Bandagen um und schienten den beschädigten Teil secundum artem.

Alles ging nach unserem Wunsch, und wir hatten nicht nur die Genugtuung, dem armen Kerl das Bein zu erhalten, sondern auch den Doktor bei der ganzen Mannschaft verächtlich zu machen. Dieser hatte, solange die Kur währte – das will sagen: sechs Wochen hindurch –, beständig die Augen auf uns geheftet.


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