Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Zehntes Kapitel

Strap und ich haben in einer andern Herberge ein fürchterliches Abenteuer, das uns aus dem Schlafe stört. Wir bringen die folgende Nacht bei einem Schulmeister zu

 

Strap und ich wollten uns eben wieder auf den Weg machen, als wir einen Trupp Leute wahrnahmen, der mit Hallo und Juchhe auf uns zukam. Als er sich näherte, unterschieden wir in dessen Mitte einen Reiter, dem man die Hände auf den Rücken gebunden hatte, und erkannten ihn bald darauf für Rifle.

Dieser Straßenräuber war nicht so gut beritten gewesen wie die ihm nachsetzenden beiden Bedienten; daher hatten sie ihn eingeholt und, nachdem er sich verschossen, ohne weitere Gegenwehr zum Gefangenen gemacht. Sie führten ihn unter Begleitung und Jauchzen des Landvolks im Triumph zu einem Friedensrichter des benachbarten Dorfs. Bei unserem Wirtshause machten sie halt, um ihren Kameraden abzuholen und eine Erfrischung einzunehmen.

Rifle mußte absteigen und ward auf dem Hofe von einem Haufen Bauern bewacht, die mit Mistgabeln bewaffnet waren. Ich wunderte mich, als ich sah, was für ein erbärmlicher, mutloser Bursch der war, der mich wenige Stunden zuvor so mit Schreck und Angst erfüllt hatte. Diese Verwandlung machte meinem Kameraden so viel Mut, daß er an ihn heranging, ihm die geballte Hand vorhielt und erklärte, er wolle sich für einige Guineen mit ihm entweder mit Prügel oder mit Fäusten schlagen. Zugleich zog er das Goldstück hervor und begann sich auszuziehen. Allein ich riet ihm davon ab und stellte ihm vor, wie töricht dies Unternehmen sei, da sich jetzt Rifle in den Händen der Justiz befände, die uns die möglichste Genugtuung verschaffen würde.

Ich hatte gleich darauf Ursache, unsere unzeitige Neugier zu bereuen; eben als wir im Begriff waren, uns wieder auf den Weg zu machen, nötigten uns die Bedienten dazubleiben, um gegen den Gefangenen zu zeugen. Hier war kein anderer Rat, wir mußten uns in ihr Verlangen fügen und an die Kavalkade anschließen. Zum Glücke nahm sie denselben Weg, den wir zu gehen willens waren.

Im Zwielicht trafen wir an dem Ort unserer Bestimmung ein. Allein der Richter hatte einen Herrn in der Nachbarschaft besucht, bei dem er, wie wir erfuhren, wahrscheinlich die Nacht über bleiben würde. Der Räuber ward daher drei Treppen hoch in eine leere Bodenkammer gebracht, aus der zu entwischen unmöglich schien. Gleichwohl geschah es. Denn als man den folgenden Morgen hinaufkam, um ihn vor den Richter zu bringen, fand man, der Vogel war ausgeflogen. Er war zum Fenster hinaus auf das Dach geklettert, hatte von da über die angrenzenden Häuser seinen Weg fortgesetzt und war zu einem andern Bodenfenster hineingestiegen. Dort hatte er sich so lange versteckt, bis die Leute im Hause eingeschlafen waren, dann war er die Treppen hinuntergeschlichen und hatte sich die Straßentüre aufgeschlossen, die man noch offen fand.

Dieser Vorfall machte denen, die ihn gefangen hatten, viel Verdruß, weil ihnen dadurch die Hoffnung einer ansehnlichen Belohnung zerrann. Mir aber verursachte diese Flucht viel Freude, indem wir nun unsern Weg ohne weitere Behelligung fortsetzen konnten.

Um die verlorene Zeit wieder einzubringen, nahmen wir uns vor, diesen Tag hindurch recht scharf zuzugehen. Eh es Nacht war, hatten wir auch ohne irgendein merkwürdiges Abenteuer einen Marktflecken erreicht, der zwanzig Meilen von dem Ort ablag, von dem wir den Morgen ausgewandert waren. Dort schlugen wir unser Nachtquartier in einem Gasthof auf. Ich war so müde, daß ich ganz die Hoffnung aufgab, die Reise zu Fuß zu vollenden; daher bat ich Strap, Erkundigung einzuziehen, ob nicht eine Landkutsche, Retourpferde oder irgendein anderes wohlfeiles Fuhrwerk von diesem Ort den folgenden Tag nach der Hauptstadt abginge.

Man sagte ihm, die Landkutsche, die von Newcastle nach London fahre, habe vor zwei Nächten hier Rasttag gehalten und es würde uns leichtfallen, sie wo nicht morgen, doch spätestens übermorgen einzuholen. Diese Nachricht machte uns viel Vergnügen. Wir aßen mit ungemeinem Appetit ein Haschee von Schöpsenfleisch und bekamen darauf ein Stübchen angewiesen, worin sich zwei Betten befanden. Das eine war für uns bestimmt, das andere für einen recht braven und feinen Herrn, der noch unten saß und trank. Wiewohl wir diese Gesellschaft gern entbehrt hätten, so ließen wir uns doch diese Einrichtung gefallen, weil kein anderes Bett im Hause frei war. Wir legten uns daher zur Ruhe, nachdem wir unsere Sachen unter dem Kopfkissen in Sicherheit gebracht hatten.

Um zwei oder drei Uhr des Morgens ward ich durch ein fürchterliches Geräusch in unserem Zimmer aus dem Schlafe geweckt. Ich geriet in Todesangst, als ich mit schrecklicher Stimme die Worte ausstoßen hörte: »Mordelement! Renn dem Kerl neben dir die Hellebarde in die Kaldaunen, ich will derweil dem andern den Brägen einschlagen!« Dieser fürchterliche Gruß war kaum Strap in die Ohren gefallen, als er aus dem Bette auffuhr und nach der Stubentür eilte. Unterwegs stieß er im Finstern an jemanden, den er augenblicklich über den Haufen warf. Nunmehr schrie er aus voller Kehle: »Feuer! Mörder! Feuer!«

Dieses Geschrei versetzte in einem Nu das ganze Haus in Unruhe. Eine Schar halbnackter Personen füllte sogleich unsere Kammer an. Als Lichter gebracht waren, offenbarte sich die Ursache dieses Tumults. Sie war kein anderer als unser Stubengenosse, der auf dem platten Erdboden lag und sich den Kopf kratzte. Sein Blick verriet über die Menge Erscheinungen, die ihn umgaben, kein geringes Erstaunen. Dieser brave und feine Herr war, wie es schien, ein auf Werbung liegender Sergeant. Er hatte den Abend noch zwei junge Burschen vom Lande in sein Garn gezogen. In der Nacht träumte ihm, sie wollten rebellieren und drohten, ihn und den bei ihm befindlichen Trommelschläger zu ermorden. Das machte auf seine Einbildungskraft einen solchen Eindruck, daß er im Schlaf aufstand und die oben angeführte Äußerung tat.

Da unsere Furcht vor Gefahr geschwunden war, betrachtete sich die Gesellschaft untereinander mit großem Erstaunen und Gelächter. Die stärkste Aufmerksamkeit zog aber unsere Wirtin auf sich. Sie hatte nichts weiter als ihr Hemd und ein Paar weite bockslederne Beinkleider an, deren Hinterteil vorne saß, so eilig war sie in diese hineingeschlüpft, ihr Mann hingegen hatte ihren Unterrock über seine Schultern geworfen. Der eine hatte sich in eine Bettdecke gewickelt, der andere ein Bettuch um sich geschlagen, und der Trommelschläger, der sein einziges Hemd in die Wäsche gegeben, zeigte sich in naturalibus, bloß um die Mitte des Leibes hatte er ein Kopfkissen gewunden.

Als nun dieser Handel völlig abgemacht war, begab sich jeder wieder in seine Stube. Der Sergeant fuhr in sein Bett, und mein Kamerad schlief so wie ich ohne weitere Störung bis zum Morgen. Sodann standen wir auf, frühstückten, bezahlten unsere Rechnung und machten uns mit dem tröstlichen Gedanken auf den Weg, die Landkutsche einzuholen. Allein für heute wurden wir in unserer Erwartung betrogen. Wir strengten uns diesmal mehr als gewöhnlich an, und ich fühlte mich ganz außerordentlich müde, wie wir im Zwielicht in einem kleinen Dörflein ankamen. Wir fragten nach dem Wirtshause, und man zeigte uns eins, das einen sehr üblen Eindruck machte.

Bei unserem Eintritt erhob sich der Wirt, der ein ehrwürdiger alter Mann zu sein schien und den langes graues Haar schmückte. Er hatte hinter einem Tisch gesessen, der bei einem großen Feuer in einer recht nett gepflasterten Küche stand. Mit einer heitern Miene redete er uns folgendermaßen an: »Salvete, pueri, ingredimini.« Ich freute mich nicht wenig, unsern Wirt lateinisch sprechen zu hören, weil ich die Hoffnung hatte, mich durch meine Kenntnis dieser Sprache bei ihm beliebt zu machen. Mithin erwiderte ich sogleich: »Dissolve frigus ligna super foco large reponens

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als der Alte mir entgegenrannte, die Hand schüttelte und rief: »Fili mi dilectissimi! Unde venis? A superis ni fallor.« Kurz, da er fand, daß wir beide in den Klassikern gut bewandert waren, wußte er nicht, wie er uns Achtung genug beweisen sollte. Er befahl seiner Tochter, einem artigen, rosenbäckigen Mädchen, seinem einzigen Hausgenossen, eine Flasche von seinem Quadrimum heraufzuholen.

Dies Quadrimum war ein treffliches, selbstgebrautes, ungehopftes Bier, wovon er, wie er sagte, immer eine Amphora von vier Jahren zu seinem und seiner Freunde Gebrauch aufhöbe. Im fernern Lauf unseres Gesprächs, das mit lateinischen Brocken gespickt war, erfuhren wir, daß dieser drollige Mann ein Schulmeister sei, der so schmale Einkünfte habe, daß er sich genötigt sähe, ein gutes Glas Bier für Reisende in Bereitschaft zu haben. Dadurch gelänge es ihm denn, sich durch das Jahr durchzuschlagen.

»Ich bin heute«, rief er, »der glücklichste alte Knabe in Seiner Majestät Landen. – Meine Frau, ihre Seele ruhe in Frieden, ist bei Gott; meine Tochter heiratet die folgende Woche. Allein meine Hauptfreuden, die stecken da!« Er zeigte auf die Flasche und eine große Edition vom Horaz, die auf dem Tische lag. »Ich bin alt«, fuhr er fort, »aber was schadet das? Dies ist vielmehr noch ein stärkerer Grund, den kleinen Überrest des Lebens zu genießen, wie Freund Flaccus anrät: Carpe diem, quam mínimum credula postero

Er forschte nun voller Neugier nach unsrer Lage und unsern Absichten. Wir trugen kein Bedenken, ihn damit bekannt zu machen. Darauf versah er uns mit einem Vorrat von guten Ratschlägen und Warnungen, lehrte uns, wie wir uns in der Welt verhalten müßten, und setzte hinzu, er wäre in den Betrügereien der Menschen gar kein Fremdling.

Während der Zeit befahl er seiner Tochter, ein Huhn zu unserm Abendbrot an den Spieß zu stecken, weil er seinen Freunden gütlich zu tun willens sei, permittens divis cetera. Indes unsere Mahlzeit zubereitet wurde, erzählte uns unser Wirt seine Lebensgeschichte. Allein sie enthielt nichts Merkwürdiges, daher will ich sie hier nicht anführen.

Nachdem wir gar stattlich gespeist und einige Flaschen Quadrimum zu uns genommen hatten, äußerte ich Verlangen, mich niederzulegen. Dies wurde denn nach einigen Schwierigkeiten bewilligt, zuvor sagte er uns noch, wir könnten die Landkutsche den folgenden Mittag bereits einholen, es wäre noch hinlänglicher Platz für ein halbes Dutzend Personen darin, bis jetzt befänden sich nur erst vier Passagiere darauf.

Ehe mein Reisegefährte und ich einschliefen, sprachen wir noch über unseres Wirts gute Laune. Strap hatte dadurch von seiner Guttätigkeit einen solchen Begriff bekommen, daß er steif und fest glaubte, er würde für unser Nachtquartier und Abendbrot nichts nehmen. »Merkst du nicht«, sagte er, »daß er uns recht liebgewonnen hat? Was hat er uns nicht aufgetragen! Soviel hätten wir von freien Stücken gewiß nicht gefordert.« Ich war halb und halb seiner Meinung. Allein die Erfahrung, die ich von der Welt hatte, bewog mich, mein Urteil darüber noch bis zum Morgen aufzuschieben.

Wir standen früh auf, verzehrten mit unserem Wirt und dessen Tochter zum Frühstück einen Milchpudding und Ale. Darauf verlangten wir zu wissen, was wir schuldig wären.

»Das wird Ihnen Biddy sagen, meine Herren«, entgegnete er, »ich bekümmere mich um dergleichen nicht. Geldsachen sind für den von keinem Belange, der nach horazischem Plane lebt. Crescentem sequitur cura pecuniam

Biddy hatte inzwischen eine Schiefertafel zu Rate gezogen, die in einer Ecke hing, und sagte uns, die Rechnung beliefe sich auf acht Schilling sieben Pence.

Strap: »Acht Schilling und sieben Pence! Da muß Sie sich geirrt haben, Jungfer. Das ist unmöglich.«

Der Schulmeister (sehr bedächtig): »Rechne doch noch einmal, Kind, vielleicht hast du dich irgendworin versehen.«

Biddy: »Nein, fürwahr, Vater, aufs Rechnen versteh ich mich zu gut.«

Ich (der nicht länger seinen Unwillen zurückhalten kann): »Die Rechnung ist unbillig; ich möchte sie wohl stückweise sehen.«

Der Schulmeister (aufstehend und vor sich hermurmelnd): »Jaja, wir wollen sie mal Stück für Stück ansehen. Der Gerechtigkeit ihr Teil!«

Er nahm nunmehr Feder, Tinte und Papier und schrieb folgende Artikel auf:

  Sch. Pence
Für Brot und Bier 6
Für ein Huhn und Bratwürste 2 6
Für vier Flaschen Quadrimum 2
Für Feuer und Tabak 7
Für Nachtquartier 2
Für Frühstück 1
  _____________
Summa 8 Sch. 7 Pence

Da er kein gemeiner Wirt zu sein schien und da er mir durch sein Benehmen vom vorigen Abend her einige Ehrfurcht eingeprägt hatte, so konnte ich ihm unmöglich alle die Vorwürfe machen, die er verdiente. Ich begnügte mich daher, ihm zu sagen, von Horaz hätte er es sicher nicht gelernt, den Leuten das Fell über die Ohren zu ziehen.

Darauf versetzte er: »Sie sind ein junger Mann und wissen nicht, wie es in der Welt zugeht, sonst würden Sie mir nicht dergleichen Beschuldigung machen. Mein Bestreben geht einzig und allein dahin, contentus parvo zu leben und die importuna pauperies von mir zu scheuchen.«

Mein Reisegefährte ließ sich damit nicht abspeisen, sondern schwor, er würde entweder nur den dritten Teil von der Rechnung bezahlen oder so seines Weges gehen. Indes wir uns darüber herumstritten, sah ich die Tochter hinausgehen. Ich mutmaßte die Ursache und bezahlte sogleich die übertriebne Rechnung. Kaum war dies geschehen, so kehrte Biddy mit zwei starken jungen Leuten zurück. Sie gaben zwar vor, sie wollten einen Magentrunk zu sich nehmen, kamen aber eigentlich, um uns das Geld abzuschrecken.

Als wir weggehen wollten, wandte sich Strap, der über eine so beträchtliche Ausgabe halb außer sich war, gegen den Schulmeister, grinste ihm ins Gesicht und sagte mit großem Nachdruck: »Semper avarus eget.« Darauf versetzte der Schulfuchs mit boshaftem Lächeln: »Animum rege, qui nisi paret, imperat


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