Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Fünftes Kapitel

Rache am Schulmeister und Abreise nach der Universität

 

Auf unserm Rückwege nach dem Dorf sprach mein Oheim eine ganze Stunde lang kein Wort, sondern pfiff mit großer Heftigkeit die Melodie des Liedes, das da anfängt:

»Wer da nach Geld und Gute ringt,
dem es sonst nichts als Unheil bringt . . .«

Sein Gesicht war indes in die fürchterlichsten Falten gelegt. Zuletzt schritt er so aus, daß ich ein beträchtliches Stück Weges hinter ihm blieb. Er wartete sodann auf mich, und als ich ihn beinahe eingeholt hatte, fuhr er mich an: »So halt dich doch zur Seite! Was zum Schwerenot soll ich denn deintwegen, du fauler Hund, immer beilegen?« Dann nahm er mich bei der Hand und schleppte mich mit Gewalt fort, bis endlich Gutherzigkeit (von der er eine große Dosis hatte) und Nachdenken die Oberhand über seinen Zorn erhielten. »Laß gut sein, lieber Junge«, sagte er, »häng nicht den Kopf! Der alte Schurke is in der Hölle. Das is doch ein Trost. Sollst mit mir in See stechen, mein Junge!

›Ein leichtes Herz
und ein dünnes Paar Hosen
gehn durch die Welt‹,

wie's im Liedchen heißt. He?«

Sowenig auch dieser Vorschlag zu meiner Neigung stimmte, so hütete ich mich doch sehr, meinen Widerwillen dagegen blicken zu lassen, um nicht den einzigen Freund gegen mich zu empören, den ich auf der Welt noch hatte. Er war überdies so sehr Seemann, daß er es sich gar nicht träumen ließ, ich könne gegen sein Vorhaben etwas einzuwenden haben; daher gab er sich gar nicht einmal die Mühe, mich um meine Einwilligung zu befragen. Allein zum Glück stimmte der Unterschulmeister ihn um. Es wäre Jammer und Schade, versicherte er, wenn man mein Genie so ersticken wollte, ich würde dadurch auf dem Lande mein Glück machen, wenn man meine Anlagen gehörig ausbildete. Der edelmütige Seemann nahm sich vor, mich auf der Universität zu unterhalten, so sauer ihm dies auch werden mußte. Zu dem Ende beschloß er, mich in einer etliche Meilen davon gelegenen Stadt, die ihrer Lehranstalten wegen berühmt war, in die Kost zu tun und auch zugleich für alles übrige Benötigte zu sorgen. Nicht lange danach machten wir uns nach diesem Ort auf den Weg.

Allein den Tag vor unserer Abreise setzte der Schulmeister, der meinen Großvater nun nicht mehr zu fürchten brauchte, allen Anstand und alle Zurückhaltung beiseite. Er schimpfte mich nicht nur mit den plumpsten Ausdrücken, die ihm sein Groll eingab, nannte mich nicht nur einen liederlichen ›nichtsnutzigem‹ Buben, einen ›Betteljungen‹, den er bloß aus Mitleid unterwiesen habe, sondern brach auch gegen den verstorbenen Richter (dem er doch seine jetzige Stelle zu danken hatte) in die stärksten Anzüglichkeiten aus. Er äußerte mit dürren Worten, er hielte dafür, der alte Herr sei in aller Ewigkeit verdammt, weil er die himmelschreiende Ungerechtigkeit begangen und kein Schulgeld für mich bezahlt habe.

Dieses ungebührliche Benehmen, das mir alle die Leiden, die ich ehemals bei ihm ausgestanden hatte, wieder ins Gedächtnis zurückführte, erinnerte mich, es sei die höchste Zeit, an dem übermütigen Menschen Rache zu üben. Ich zog meine Anhänger zu Rate und fand sie alle höchst bereitwillig, mir beizustehen. Unser Plan war folgender:

Den Tag vor meiner Abreise nach der Universität sollt ich nach dem Essen die Gelegenheit nutzen, wenn der Unterschulmeister sich eines gewissen natürlichen Bedürfnisses entledigte (was regelmäßig um vier Uhr geschah), und die große Tür verschließen, daß er seinem Obern nicht zu Hilfe kommen konnte. Wenn dies geschehen wäre, sollt ich den Angriff dadurch beginnen, daß ich mich ihm näherte und ins Gesicht spie. Zwei von den stärksten jungen Leuten in der Schule, die mir ganz ergeben waren, sollten den Tyrannen nach einer Bank schleppen und ihn darüber hinlegen helfen. Sodann wollten wir sein blankes Hintergesicht nach Herzenslust mit der Rute bearbeiten, die wir ihm während des Ringens zu entreißen uns vorgenommen hatten. Fänden wir ihn aber uns dreien überlegen, so wollten wir uns von unsern Mitverschwornen unterstützen lassen, die sich immer bereit halten sollten, uns zu verstärken oder allem zu widersetzen, was man zur Erlösung unseres Lehrers etwa unternehmen möchte.

Der eine von meinen Hauptassistenten hieß Jeremy Gawky, der Sohn und Erbe eines vermögenden Gentlemans aus der Nachbarschaft, und der andere Hugh Strap, der jüngste Sprößling eines Hauses, welches das Dorf seit undenklichen Zeiten mit Schustern versorgt hatte. Dem ersten hatt ich dadurch einmal das Leben gerettet, daß ich mich in den Fluß stürzte und ihn in dem Augenblick an das Ufer zog, als er zu ertrinken im Begriff war. Oft war er durch mich aus den Händen derer erlöst worden, die sein unausstehlicher Hochmut zu einer Rache aufforderte, die er zu ertragen nicht imstande gewesen wäre. Manch liebes Mal hatt ich seinen guten Namen und seinen Hintern dadurch geschützt, daß ich die Exercitia für ihn ausarbeitete. Daher war es kein Wunder, daß er sich für mich ganz besonders interessierte.

Straps Anhänglichkeit für mich hatte hingegen eine freiwillige, uneigennützige Neigung zum Grunde, die er bei manchen Gelegenheiten gegen mich offenbart hatte. Eines Tages leistete er mir den Dienst, den ich Gawky erzeigt, und rettete mein Leben mit Gefahr seines eigenen. Oft nahm er mutwillige Streiche, die ich ausgeübt hatte, auf sich, für die er lieber die ernstlichste Strafe litt, als daß das Gewicht der verdienten Strafe auf mich fallen sollte. Diese zwei Helden waren um so williger, sich in diese Unternehmung einzulassen, da sie, so gut wie ich, den folgenden Tag von der Schule abgingen. Gawky hatte der Vater befohlen, nach Hause zu kommen, und Straps war bei einem Barbier in einem nicht weit entlegenen Marktflecken in die Lehre gebracht worden.

Mittlerweile hatte mein Oheim das Benehmen des Schulmeisters gegen mich erfahren. Über diese Unverschämtheit wurde er so wütend und gelobte ihm eine so herzliche Rache, daß ich nicht umhin konnte, ihm meinen Plan vorzulegen. Er hörte ihn mit großer Zufriedenheit an, spritzte bei jedem Absatz einen Mundvoll Speichel aus, mit Tabak gefärbt, wovon er stets eine artige Partie zu kauen pflegte. Endlich lüpfte er die Beinkleider und rief: »Sapperment! Nein, so geht's nicht. Ist ein kühnes Unternehmen, meiner Treu – das muß ich schon sagen, Junge. – Aber hör mal, wie willst du denn entwischen? Der wird doch Jagd auf dich machen, alarmiert bestimmt die ganze Küste, da verlaß dich drauf. Gott steh dir bei, Rory! Hast mehr Segel als Ballast! Überlaß das Ganze mir! Ich werd ihm schon das Marssegel zeigen! Wenns not tut, sind deine Schiffskameraden lustige Jungs; die nehmen nicht Reißaus, wirst schon sehen; ich werde ihn gut seemännisch traktieren – werd ihn auf die Laufplanke bringen und mit der neunschwänzigen Katze einsalben; der soll ein rundes Dutzend aufgemischt bekommen, bestimmt, mein Junge – dann mag er in Ruhe drüber nachdenken.«

Wir waren nicht wenig auf diesen Bundesgenossen stolz, der sogleich Hand anlegte und das Werkzeug der Rache ebenso schnell wie kunstvoll verfertigte. Hierauf befahl er uns dreien, unsre Sachen den Tag vor der Unternehmung einzupacken und fortzuschicken; er seinerseits ließ Pferde in Bereitschaft halten, um gleich nach geschehener Exekution fortjagen zu können.

Endlich kam die ersehnte Stunde. Der Unterlehrer ging wie gewöhnlich hinaus, und unser Assistent platzte herein, riegelte die Tür ab und ergriff den Pedanten beim Kragen. »Mörder! Diebe!« rief dieser mit einer Stentorstimme. Wiewohl ich am ganzen Leibe wie Espenlaub zitterte, so merkt ich doch, daß hier keine Zeit zu verlieren sei; daher erhob ich mich schnell von meinem Sitz und forderte unsere Verbündeten zum Beistand auf.

Strap gehorchte dem Signal ohne Anstand; und da er mich dem Lehrer zu Leibe gehen sah, lief er sogleich hin, riß ihm aus allen Kräften das eine Bein weg, und unser furchtbarer Gegner war demütig in den Staub gestreckt. Gawky, der an allen Gliedern zitternd und bebend auf seinem Platze geblieben war, eilte nun nach dem Tummelplatze hin und höhnte ihn durch ein lautes Hussa aus, in welches die ganze Schule einstimmte.

Dieser Lärm beunruhigte den Unterlehrer. Da er sich ausgeschlossen fand, suchte er teils durch Drohungen, teils durch Bitten sich Eingang zu verschaffen. Mein Oheim bat ihn, nur ein wenig Geduld zu haben, dann wollte er ihn sogleich hereinlassen. Wofern er aber fortginge, um Hilfe zu suchen, versicherte er ihm, sollte es der Petzenbrut, seinem Vorgesetzten, noch weit übler ergehen. Er wolle diesem bloß eine kleine heilsame Züchtigung geben, »dafür, daß er Rory gar so barbarisch behandelt hat, wie Ihr sehr wohl wißt«, fügte er hinzu.

Inzwischen hatten wir den Delinquenten nach einem Pfeiler geschleppt. Bowling band ihn mit einem Strick, womit er sich zu dem Zweck versehen, an diese Säule, nachdem er seine Hände auf dem Rücken befestigt und seinen Unterleib entblößt hatte. Diese possierliche Stellung machte sämtlichen Schülern nicht wenig Vergnügen. Sie wimmelten um ihn herum und jauchzten vor Freude über diesen neuen Anblick. Der Schulmonarch stieß indes die bittersten Verwünschungen gegen den Leutnant aus und schalt alle seine Schüler Verräter und Rebellen. Nunmehr ward der Unterlehrer hereingelassen.

»Hört mal, Meister Syntax«, hob mein Oheim an, »ich sehe Euch für einen kreuzbraven Kerl an und habe große Hochachtung vor Euch; aber das hilft alles nichts, um unserer eigenen Sicherheit willen müssen wir Euch mal für ein Weilchen handfest machen.«

Mit diesen Worten zog er einen Strick von etlichen Klaftern hervor. Kaum sah der wackre Mann denselben, so beteuerte er mit großem Ernst, er würde nicht zugeben, daß man ihn gewalttätig behandle. Zugleich beschuldigte er mich der Treulosigkeit und Undankbarkeit. Allein Bowling stellte ihm vor, aller Widerstand sei hier vergebens; ihm sollte auf keinerlei Weise übel mitgespielt werden. Man müsse so mit ihm verfahren, um zu verhindern, daß er nicht vor der Zeit jedermann gegen uns in Bewegung setzen möchte. Syntax fügte sich nun in sein Schicksal und ließ sich ohne weiteres Sträuben an sein Pult binden.

Von dort aus gab er einen Zuschauer der Züchtigung ab, die man bald darauf seinem Prinzipal zufügte. Mein Oheim hielt diesem despotischen Bösewicht seine Unmenschlichkeit gegen mich vor, sagte ihm, er sei gesonnen, ihm zum Besten seiner Seele eine kleine Züchtigung widerfahren zu lassen, und verrichtete dieselbe sogleich mit großem Nachdruck und vieler Geschicklichkeit. Diese schmerzhafte Operation an den welken Lenden des Schulfuchses machte ihm so grausame Schmerzen, daß er wie ein wütender Stier brüllte und wie ein echter Bedlamit tanzte, fluchte und Gott lästerte.

Als der Leutnant sich genugsam gerächt zu haben glaubte, nahm er von ihm folgendermaßen Abschied: »Nun, Freund, werdet Ihr meiner gedenken Euer ganzes Leben lang. Ich hab Euch einen Denkzettel gegeben, Ihr habt jetzt selbst erfahren, wie Prügel tun, und werdet in Zukunft wohl ein bißchen mitleidiger sein. – Freut euch, Jungs!«

Kaum war diese Zeremonie vorbei, so bot ihnen mein Oheim an, ihren alten Kameraden Rory nach einer Kneipe zu begleiten, die eine Meile vom Dorfe läge; er wolle sie dort freihalten. Dieser Antrag wurde mit Freuden angenommen. Bowling wandte sich darauf an den guten Syntax und bat ihn, uns Gesellschaft zu leisten. Allein dieser schlug die Einladung mit großem Unwillen aus und sagte zu meinem Wohltäter, er wäre nicht der Mann, wofür er ihn anzusehen scheine. »Bist doch ein braver Kerl, alter Brummbart«, sagte mein Oheim und schüttelte ihm die Hand. »Krieg ich noch mal ein Schiff zu kommandieren, so soll, mein Seel, kein andrer Mensch wie du unser Schulmeister werden.«

Nach diesen Worten mußten die jungen Leute zuerst heraus, dann klinkte er die Tür wieder ein und ließ die beiden Präzeptoren einander trösten. Wir setzten indes mit einem starken Gefolge unsern Weg fort, und der Leutnant bewirtete es seinem Versprechen gemäß. Unter vielen Tränen schieden wir voneinander und brachten die Nacht in einem Wirtshause auf der Landstraße zehn Meilen von der Stadt entfernt zu, die mein künftiger Aufenthalt sein sollte. Am folgenden Tage kamen wir dort an, und ich hatte nicht Ursache, mich über die meinetwegen getroffenen Einrichtungen zu beschweren. Ich ging bei einem Apotheker in Kost, der eine weitläufige Anverwandtin meiner Mutter zur Frau hatte. Einige Tage darauf begab sich mein Oheim zu seinem Schiff, nachdem er für meinen Unterhalt und für meine Erziehung das Nötigste ausgesetzt hatte.


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