Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Fünfzehntes Kapitel

Ich führe mich bei Cringer endlich selbst ein und werde von ihm an einen anderen Herrn gewiesen. Zugleich mache ich eine Bekanntschaft, durch die ich viele nötige Aufschlüsse erhalte

 

Unterwegs herrschte von beiden Seiten tiefes Stillschweigen. Endlich brach Strap nach einem fürchterlichen Seufzer aus: »Allerliebst angeritten, bei meiner Seele!« Auf diese Bemerkung erwiderte ich nichts, aber er fuhr dessenungeachtet fort: »Gott helfe uns nur mit heiler Haut aus dem Blitzneste! Kaum sind wir achtundvierzig Stunden drinnen gewesen und haben schon, denke ich, achtundvierzigtausend Unglücksfälle gehabt. Sind gefoppt, ausgefenstert, maulschelliert, besalbt worden; zuletzt hat man uns gar den Beutel geleert, und bald, denke ich, wird's an unser Fell kommen. Was nun 's Geld anlangt, so ist unsere Torheit daran schuld. ›Wenn du den Narren im Mörser zerstießest mit dem Stämpfel wie Grütze‹, sagt Salomo, ›so ließe seine Narrheit doch nicht von ihm.‹ Ach ja, ein Quentchen Mutterwitz ist besser als ein Pfund Schulwitz.«

Mein Reisegefährte wählte nicht die rechte Zeit, mir solcherlei Vorstellungen zu machen. Ich war über meinen Verlust fast wahnsinnig und heftig gegen ihn aufgebracht, weil er mir eine Kleinigkeit abgeschlagen hatte, wodurch ich mich von meinem Schaden wahrscheinlich hätte erholen können. Daher drehte ich mich mit finsterem Gesicht gegen ihn um und fragte ihn gar mißmutig, wen er einen Narren nenne.

Solchen Tons und solcher Blicke ungewohnt, sah mich Strap eine Weile starr an und sagte sodann mit einiger Betroffenheit: »Narr? Mich selbst nenn ich so, keine andre Mutterseele auf Gottes Erdboden. Freilich bin ich der größte Narr von uns zwei beiden, mir andrer Leute Unglück so nahegehen zu lassen. Doch nemo omnibus horis sapit. Weiter sag ich nichts, ganz und gar nichts!«

Darauf erfolgte eine tiefe Stille bis in unser Logis. Daselbst warf ich mich sogleich in der höchsten Verzweiflung auf das Bett, mit dem festen Vorsatze, lieber zu sterben, als meinen Kameraden oder irgend jemand um Hilfe anzusprechen.

Strap, der mich in dem Fall kannte und dem das Herz über mein Unglück blutete, trat nach einer Pause an mein Bett, steckte mir einen ledernen Geldbeutel in die Hand, brach in einen Strom von Tränen aus und schluchzte: »Ich weiß, was Ihr willens seid; aber daraus soll nichts werden. Weiter hab ich in der Welt nichts. Nehmt's, und wenn's alle ist, hab ich vielleicht mehr zusammengekratzt. Wo nicht, so bettel oder stehl ich für Euch. Mit Euch will ich durch die ganze Welt ziehen und Hunger und Kummer leiden. Ich bin zwar nur ein Schuhflickerjunge, aber darum kein Schuft.«

Der Edelmut und die Anhänglichkeit dieses biedern Geschöpfs rührten mich so sehr, daß ich meine Tränen nicht zurückhalten konnte. So saßen wir eine Zeitlang und machten unserer Betrübnis Luft. Endlich sah ich den Beutel nach und fand zwei Guineen und eine halbe Krone darin. Ich wollte ihm das Geld wiedergeben, unter dem Vorwande, er wisse damit besser hauszuhalten, allein er verweigerte dies durchaus. Es sei, sagte er, weit vernünftiger und schicklicher, daß er von mir abhinge als daß er einer Person von meiner Herkunft auf die Finger sehen sollte.

Nachdem dieser freundschaftliche Streit zu Ende und unser Gemüt etwas ruhiger war, entdeckten wir unserem Wirt den eben vorgefallenen Auftritt, ohne ihn merken zu lassen, daß wir dadurch in die äußerste Dürftigkeit gekommen wären. Kaum hatte er unsere Geschichte gehört, so versicherte er uns, wir wären von ein paar Gaunern, die unter einer Decke spielten, gröblich hinter das Licht geführt worden. Der höfliche, redliche, freundschaftliche und leutselige Mann sei weiter nichts als ein feiner Spitzbube, dessen Geschäft es sei, Geld fallen zu lassen und auf die Art Fremde in einen seiner Schlupfwinkel zu locken, wo beständig ein oder zwei Spießgesellen auf der Lauer wären, um die aufgejagte Beute verzehren zu helfen.

Darauf erzählte uns der gute Mann eine große Menge Geschichten von Leuten, die von solchen Buben wären verführt, betrogen, bestohlen, ausgeprügelt, ja ermordet worden. Ich war über die Kunstgriffe und über die Bosheit der Menschen ganz bestürzt. Strap hob Hände und Augen gen Himmel auf und bat Gott, ihn vor solchen höllischen Fallstricken zu bewahren. »Der Teufel«, setzte er hinzu, »hat ganz ausgemacht seinen Sitz in London aufgeschlagen.«

Unser Wirt war begierig zu wissen, wie ich im Cringerschen Hause wäre aufgenommen worden. Ich erzählte ihm dies umständlich. »Hm!« sagte er mit Kopf schütteln, »ganz beim unrechten Zipfel das Ding angegriffen! Bei einem Parlamentsmitgliede richtet man nichts aus, wenn man ihm nicht die Hände schmiert. Und wie der Herr, so der Knecht. Er will die Hände so gut versilbert haben wie sein Prinzipal. Mein Rat ist daher, geben Sie ihm einen Schilling, wenn Sie beim Herrn Audienz haben wollen, sonst können Sie sich mit dem Brief noch lange herumschleppen.«

Demzufolge drückte ich den folgenden Morgen dem Bedienten, sowie er die Tür geöffnet hatte, einen Schilling in die Hand und sagte ihm, ich habe einen Brief an seinen Herrn. Meine Freigebigkeit tat die beste Wirkung. Der Mensch ließ mich sogleich herein, nahm mir den Brief ab und sagte, ich solle in einer Art von Galerie auf die Antwort warten. Inzwischen sah ich eine große Menge junger Leute, die ich ehemals in Schottland gekannt hatte, mit einem familiären Wesen ins Audienzzimmer hineingehen und herauskommen; ich aber mußte in der Kälte stehen und frieren, daß mir die Zähne klapperten. Ich drehte ihnen den Rücken zu, um in meinen elenden Umständen nicht erkannt zu werden. Endlich erschien der längst erwartete Cringer. Er gab einem sehr wohlgeputzten jungen Herrn das Geleit, der kein anderer als Squire Gawky war. Er schüttelte diesem beim Weggehen die Hand und sagte, er hoffe das Vergnügen zu haben, ihn zu Mittag wiederzusehen. Darauf wandte er sich zu mir und fragte, was ich suchte. Wie ich ihm gesagt hatte, daß ich der sei, der ihm Crabs Brief gebracht habe, stellte er sich, als ob er sich auf meinen Namen besinne. »Doch dies«, setzte er hinzu, »geht so nicht, wenn ich nicht erst das Schreiben nachsehe.« Um ihm die Mühe zu ersparen, sagte ich ihm, wie ich hieße.

»Jaja, Random! Random! Ich entsinne mich, solchen Namen schon gehört zu haben«, entgegnete er. Und das mußte er wirklich recht gut; denn eben dieser Cringer war vor langen Jahren meinem Großvater als Lakai mit einem Mantelsack vorgeritten. »Wie ich sehe«, fuhr er fort, »ist Er willens, Unterchirurgus auf einem Kriegsschiff zu werden.« Ich beantwortete dies mit einer tiefen Verbeugung. »So leicht wird das nicht gehen«, fuhr er fort. »Im Schiffsamt ist jetzt solcher Schwarm von schottischen Wundärzten, die auf erledigte Stellen lauern, daß den Kommissarien bange ist, von ihnen in Stücke zerrissen zu werden, und daß sie sich daher wirklich eine Wache zu ihrem Schutze ausgebeten haben. Doch es werden ehestens wieder verschiedene Schiffe in Kommission gegeben werden, und dann wollen wir sehen, was sich für Ihn tun läßt.«

Mit diesen Worten ließ er mich stehen. Mich verdroß es ganz außerordentlich, daß er diesen aufgeblasenen Glückspilz Gawky ganz anders aufgenommen hatte als mich, da ich der Meinung gewesen war, er würde sich recht freuen, eine Gelegenheit zu finden, sich für die Verbindlichkeiten dankbar zu erweisen, die er meiner Familie schuldig sei.

Bei meiner Zurückkunft erfuhr ich die angenehme Nachricht, daß Strap durch Hilfe seines Freundes, des Schulmeisters, bei einem Perückenmacher in der Nachbarschaft angekommen sei. Er bekam fünf Schillinge die Woche, außer Bett und Kost. Ich meinerseits antichambrierte vierzehn Tage lang jeden Morgen regelmäßig im Cringerschen Hause.

In der Zeit machte ich mit einem jungen Mann Bekanntschaft, der mein Landsmann und Berufsgenosse war und wie ich von der Gnade des Parlamentsmitglieds abhing. Allein er ward von dem Herrn und dem Bedienten mit mehr Achtung behandelt als ich. Er wurde öfters in ein Vorzimmer gelassen, wo für die bessere Klasse der Courmachenden ein Kaminfeuer brannte. Dahin durfte ich wegen meines Anzuges nicht kommen, der ganz und gar nicht modisch war, sondern ich mußte in einem kalten Gemach stehen, mir die Finger warm blasen und so die Gelegenheit wahrnehmen, mit meinem hohen Patron zu sprechen, wenn er sich an der Tür sehen ließ.

Eines Tages hatte ich großes Glück. Ein Mann wurde hereingeführt, auf den Cringer zulief, sobald er ihn nur erblickte. Er machte Verbeugungen gegen ihn bis auf die Erde, schüttelte ihm sodann ebenso herzlich wie vertraut die Hand, nannte ihn seinen Herzensfreund und erkundigte sich sehr freundlich nach dem Wohlbefinden der Mistreß Staytape und der jungen Damen. Sodann sprachen sie eine Zeitlang leise miteinander, doch hörte ich ersteren das Wort ›Ehre‹ verschiedene Male mit großem Nachdruck aussprechen. Dann führte mich Cringer zu diesem Ehrenmann, als zu einer Person, auf deren Rat und Beistand ich mich verlassen könnte. Zugleich gab er mir deren Adresse, brachte mich bis zur Tür und bedeutete mir, mich künftig nicht weiter zu ihm zu bemühen; jener Herr würde für mich sorgen.

Mein Landsmann, der Cringers Rede gehört hatte, folgte mir auf dem Fuß und redete mich, als wir auf der Straße waren, sehr höflich an. Ich fand mich dadurch bei der Figur, die dieser neue Bekannte machte, nicht wenig geehrt. Er trug einen blauen Frack mit goldenen Knöpfen, eine grünseidene Weste mit Gold, schwarzsamtne Beinkleider, weißseidene Strümpfe, silberne Schnallen, einen Hut mit einer goldenen Tresse, eine schöne Perücke, einen Hirschfänger mit einem silbernen Griff und ein feines spanisches Rohr.

»Wie ich merke«, sagte er, »sind Sie erst kürzlich aus Schottland gekommen? Darf ich wissen, was Sie bei Cringer zu suchen haben? Vermutlich ist es kein Geheimnis. Vielleicht kann ich Ihnen auch mit irgendeinem guten Rat an die Hand gehn. Sie müssen wissen, ich bin zweiter Unterchirurgus auf einem Kriegsschiff von siebzig Kanonen gewesen und habe mich folglich ziemlich in der Welt umgesehen.«

Ich trug gar kein Bedenken, ihm meine Lage zu eröffnen. Er schüttelte den Kopf und sagte, vor ungefähr einem Jahr wäre er fast in denselben Umständen gewesen. Er habe sich auf Cringers Versprechungen verlassen, und dabei seien seine ansehnliche Kasse und sein Kredit gänzlich erschöpft worden. Seine Verwandten, an die er um Unterstützung geschrieben, hätten ihm nichts als harte und spitzige Vorwürfe gesandt und ihn für einen ›Herumlungrer‹ und ›Bruder Liederlich‹ erklärt. Er sei viele Monate bei dem Schiffsamt umsonst nach einem Posten gelaufen; endlich hätte er sich entschließen müssen, einen Teil seiner Kleider zu versetzen. Mit dieser nicht großen Summe habe er dem Sekretär die Hände versilbert, und da hätte ihm der sogleich eine Bestallung ausgewirkt, wiewohl er ihm tags zuvor versichert, daß keine Stelle leer sei. Er wäre an Bord gegangen und neun Monate auf diesem Schiff geblieben. Nach Endigung dieser Zeit wäre er außer Dienst gesetzt und die ganze Schiffsequipage angewiesen worden, nächster Tage in Broadstreet ihre Bezahlung zu erhalten.

Seine Verwandten, fuhr er fort, hätten sich wieder mit ihm ausgesöhnt und es ihm zur Pflicht gemacht, regelmäßig Cringer aufzuwarten, weil ihnen dieser geschrieben, ihr Vetter habe die bisherige Stelle bloß seiner Verwendung zu verdanken.

Um sie nun zufriedenzustellen, erschiene er, wie ich sähe, jeden Morgen bei diesem Menschen, sobald er nur aus den Federn wäre, wiewohl ihm bekannt wäre, daß er ein recht erbärmlicher Schuft sei. Zum Schluß fragte er mich, ob ich mich beim Collegio chirurgico gemeldet habe.

Ich sagte ihm, ich hätte nicht gewußt, daß dies notwendig sei. »Notwendig?« rief er. »O mein Gott! bester Mann, ich sehe wohl, ich muß Ihnen mit Belehrung an die Hand gehen. Kommen Sie mit mir, ich will Ihnen über alles die gehörige Auskunft geben.« Mit diesen Worten führte er mich in ein Bierhaus, wo er Bier, Brot und Käse verlangte. Indes wir frühstückten, erzählte er mir, ich müsse erst in das Schiffsamt gehen, mich da eintragen lassen und mir dort ein Schreiben an das Collegium chirurgicum ausbitten, um examiniert zu werden. Wenn dies geschehen wäre, erhielte ich da ein versiegeltes Zeugnis; das müßte ich dem Schiffsamtssekretär vorlegen, der es in meiner Gegenwart erbreche und ablese. Alsdann wäre es nötig, alle meine Gönner und Bekannten in Bewegung zu setzen, um so bald als möglich befördert zu werden. Die Expeditionsgebühren für seinen Befähigungsnachweis als zweiter Unterchirurgus auf einem Schiff vom dritten Range kosteten ihn, fuhr er weiter fort, dreizehn Schillinge, die Bestallung eine halbe Guinee und eine halbe Krone und das Präsent an den Sekretär drei Pfund.

Diese Berechnung war mir ein Donnerschlag, weil sich mein ganzes Vermögen auf nicht mehr als zwölf Schillinge belief. Nachdem ich meinem Landsmann für seinen Rat und seine Belehrung gedankt hatte, eröffnete ich ihm meinen Kummer. Er kondolierte mir, doch bat er mich, Mut zu fassen, denn er hege die zärtlichste Freundschaft für mich und wolle mir, soviel er nur könne, in allen Stücken unter die Arme greifen. Vorderhand sei er mit seinem Geld ganz zu Rande, morgen aber würde er zuverlässig eine ansehnliche Summe ausgezahlt bekommen, davon wolle er mir gern so viel leihen, als ich zu meinem Vorhaben bedürfe.

Dieses edelmütige Anerbieten rührte mich so sehr, daß ich meine Börse hervorzog, sie vor ihm ausschüttete und ihn bat, davon Taschengeld zu nehmen, soviel er brauche, bis die Summe, die er erwartete, eingegangen wäre. Nach vielem Nötigen brachte ich es endlich dahin, daß er fünf Schillinge nahm. Zugleich erklärte er, wenn er sich in die City hineinbemühen wollte, könne er so viel Geld bekommen, als er verlange. Weil er nun aber mich angetroffen habe, wolle er diesen Gang bis morgen verschieben. Da sollte ich mit ihm gehen, und er wolle mich durch seinen Rat in den Stand setzen, mir selbst fortzuhelfen, ohne weiter dem Schuft von Cringer ›couren‹ zu brauchen, noch weniger aber dem lumpichten Schneider, an den jener, wie er gehört, mich empfohlen habe.

»Wie«, rief ich, »Staytape ein Schneider?« – »Nichts mehr und nichts weniger«, erwiderte er, »Sie können mir's glauben. Und demungeachtet kann er Ihnen nützlicher sein als der vielvermögende Cringer. Schaffen Sie sich nur einen tüchtigen Sack von politischen Neuigkeiten und Stadtschnurren an, womit Sie ihn unterhalten können, und Sie werden bei ihm Kredit für so viele und so reiche Kleider finden, als Sie nur verlangen.« Ich erklärte ihm, daß ich weder mit Staats- noch Stadtneuigkeiten bekannt wäre; und Cringers Benehmen habe mich so entrüstet, daß ich nicht mehr den Fuß über dessen Schwelle setzen wolle.

Nach manchen anderen Gesprächen trennten wir uns mit der Abrede, den folgenden Tag an diesem Ort wieder zusammenzukommen und uns von da nach der City zu begeben.

Ich ging sogleich zu Strap und erzählte ihm alles, was sich mit mir begeben hatte. Er billigte es ganz und gar nicht, daß ich sogleich bei der Hand gewesen wäre, einem Fremden das Geld zu leihen, zumal da wir bereits so oft durch den Schein wären angeführt worden. »Doch«, setzte er hinzu, »wißt Ihr gewiß, daß es ein Schottländer ist, so hat es weiter nichts zu sagen.«


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