Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Neuntes Kapitel

Ein Abenteuer auf der Heerstraße und ein außerordentlicher Auftritt im Wirtshause

 

Nachdem wir unsere Zeche bezahlt und von unserer Wirtin Abschied genommen hatten, die mich sehr zärtlich umarmte, machten wir uns auf den Weg. Wir hatten ungefähr fünf Meilen zurückgelegt, als wir einen Reiter in vollem Galopp hinter uns herkommen sahen. In kurzem erkannten wir, daß es kein anderer war als unser furchtbarer Held, der uns schon so viel Angst gemacht hatte. Er hielt hart neben mir still und fragte mich, ob ich ihn nicht kennte. Mein Erstaunen hatte mich so außer Fassung gebracht, daß ich die Frage nicht hörte. Er wiederholte sie mit einer Ladung von Flüchen und Drohungen, aber ich blieb stumm wie zuvor.

Als Strap meine Betroffenheit wahrnahm, fiel er mitten im Kot nieder auf die Knie und stieß mit kläglicher Stimme die Worte aus: »Oh, erbarmen Sie sich unser um Christi willen, Mister Rifle, wir kennen Sie recht gut.« – »So! kennt ihr mich?« rief der Räuber. »Nu, in dieser Welt sollt ihr kein Zeugnis mehr gegen mich ablegen, ihr Hunde ihr!« Wie er dies sagte, zog er ein Pistol hervor und feuerte es auf den unglücklichen Barbier ab. Ohne ein Wort zu sprechen, fiel dieser platt auf den Erdboden.

Meines Kameraden Schicksal und meine eigene Situation hefteten mich an den Platz fest, wo ich stand, und beraubten mich aller Sinne und alles Nachdenkens. Daher machte ich weder den geringsten Versuch zu entfliehen, noch bestrebte ich mich, den Zorn des Barbaren durch Bitten abzuwenden. Er drückte sonach sein zweites Pistol auf mich ab, das ihm aber versagte. Allein noch ehe er Zeit hatte, von neuem Zündkraut aufzuschütten, sah er einen Trupp Reiter auf sich zugejagt kommen. Sogleich gab er seinem Pferde die Sporen, sprengte weg und ließ mich bewegungslos wie eine Statue zurück.

In der Stellung fanden mich die, deren Erscheinen mein Leben gerettet hatte. Diese Gesellschaft bestand aus drei wohlbewaffneten Bedienten und einem Offizier. Es war derselbe, dem, wie ich nachher erfuhr, Rifle den Tag zuvor seine Taschenpistolen abgenommen hatte. Ihm war nachher ein Kavalier auf der Landstraße begegnet, dem er sein Unglück eröffnete und versicherte, nur in Anbetracht der Frauenzimmer in der Kutsche habe er sich nicht zur Wehr gesetzt. Dadurch erhielt er drei von den Lakaien des Lords, die dem Plünderer nachsetzen helfen sollten. Dieser Feiertagshauptmann eilte auf mich los und fragte, wer das Pistol abgeschossen habe, das er soeben habe losbrennen hören. Noch hatte ich meine ganze Besinnung nicht wieder; bevor ich ihm antworten konnte, nahm er den Leichnam wahr, der ganz erstarrt auf der Erde lag. Bei diesem Anblick veränderte sich seine Farbe, und er sagte mit bebender Stimme: »Gentlemen, hier ist ein Mord begangen worden, laßt uns absteigen!« – »Nein, nein«, rief einer von seinen Begleitern, »wir wollen lieber dem Mörder nachsetzen. Welchen Weg nahm er, guter Freund?«

Jetzt hatte ich mich wieder so weit erholt, daß ich ihnen zu sagen vermochte, er könne keine Viertelmeile Vorsprung haben. Zugleich bat ich einen von ihnen, mir meines Freundes Leiche nach dem nächsten Hause tragen zu helfen, damit ich daselbst Verfügungen zu seinem Begräbnis zu treffen imstande wäre. Der Hauptmann sah voraus, daß er, wenn er den Räuber verfolgte, bald mit ihm in ein Gefecht kommen würde; deshalb zog er den Zügel seines Pferdes straff an und gab ihm die Sporen. Das Tier bäumte sich nun und fing an zu schnauben. »Das Pferd ist scheu und will nicht vom Flecke!« rief er überlaut. Zugleich ließ er es rundum gehen, streichelte seinen Hals, pfiff und liebkoste es mit einem: »Mannchen, Mannchen, still, still!«

»Sapperlot!« rief einer von den Lakaien, »Mylords Fuchs ist nicht stetig.« Mit diesen Worten gab er ihm einen Hieb über das Kreuz. Ohne sich weiter an den Zügel zu kehren, zog der Gaul mit dem Offizier dermaßen aus, daß er in kurzem beim Räuber gewesen sein würde, wäre nicht zum guten Glück für jenen der Sattelgurt aufgegangen. Dadurch ward er in den Kot abgesetzt. Seine zwei Begleiter aber verfolgten ihren Weg, ohne sich weiter um den Sandritter zu bekümmern. Inzwischen hatte der eine von seinem Gefolge, der auf mein Verlangen dageblieben war, Straps Körper umgewandt, um die Wunde zu suchen, die ihn getötet hatte. Sieh, da fand er, daß mein Kamerad noch warm war und Atem schöpfte. Sogleich ließ ich ihn zur Ader, und er erholte sich wieder zu meiner unaussprechlichen Freude. Alle seine Wunden hatte bloß Furcht verursacht.

Nachdem ich ihm wieder auf die Beine geholfen, führte ich ihn in ein Wirtshaus, das ungefähr eine halbe Meile von dem Kampfplatz lag. Strap, der noch nicht völlig zu sich gekommen war, legte sich sogleich zu Bett. Kurz darauf kam der dritte Bediente mit des Hauptmanns Pferd und Sattelzeug zurück; ihn selbst ließ er hinterherkriechen, so gut er eben konnte. Dieser Mann vom Degen beschwerte sich bei seiner Ankunft gar kläglich über die Quetschung, die ihm der Fall verursacht habe. Auf Empfehlung des Dieners, der ihm meine Geschicklichkeit verbürgte, mußte ich ihm Blut ablassen. Er gab mir für diese Bemühung eine halbe Krone.

Die Zeit zwischen diesem Vorfall und dem Mittagessen brachte ich damit hin, daß ich zwei Pächtern zusah, die mit einem Akziseeinnehmer und einem jungen Menschen Karten spielten, der einen schmutzigen Priesterrock und darunter ein Summarium anhatte. Ich erfuhr nachher, er wäre der Helfer des Pfarrers aus dem nächsten Kirchspiel.

Man konnte leicht bemerken, daß die Parteien nicht gleich standen. Die Pächter, die Spielpartner waren, hatten es mit ein paar Spitzbuben zu tun, die ihnen ihr Geld in kurzem abnahmen. Einer von den Landleuten äußerte halb und halb den Verdacht, das ginge nicht so ganz mit rechten Dingen zu. Darauf hörte ich zu meinem größten Erstaunen den Geistlichen antworten: »Was, zum Schw . . ., Freund, zweifelt Ihr an meiner Ehrlichkeit?« Einen Gauner im Priesterkleid zu finden wunderte mich nicht so sehr, denn die findet man auch häufig in meinem Vaterlande; allein an seinem ungebührlichen Benehmen nahm ich großen Anstoß. Er fluchte nämlich wie ein Landsknecht und sang die schamlosesten Liederchen. Zuletzt zog er, um den Schaden einigermaßen wiedergutzumachen, den er den unbedachtsamen Dorfleuten zugefügt hatte, eine Geige aus dem Unterfutter seines Rockes hervor und versprach, sie zum Mittag freizuhalten. Sodann spielte er gar anmutig und sang dazu.

Des Pfarrers gute Laune flößte der übrigen Gesellschaft so viele Fröhlichkeit ein, daß die Pächter ihren Verlust vergaßen und alle auf dem Hofe zu tanzen anfingen. Mitten in dieser angenehmen Zeitverkürzung ward unser Musikus einen Reiter gewahr, der auf den Gasthof zugetrabt kam. Mit einem Male hielt er inne und rief: »Potz alle Wetter! Nehmen Sie's doch ja nicht übel, meine Herren, da kommt der Hund von einem Doktor.« Sogleich steckte er sein Instrument weg, rannte hinaus, vor die Tür, hielt den Zügel von des Vikars Pferde und half diesem herunter. Zugleich erkundigte er sich im herzlichsten Tone nach seinem Wohlbefinden.

Dieser purpurwangige Sohn der Kirche schritt, nachdem er abgestiegen war und sein Pferd seinem Amtsgehilfen überantwortet hatte, mit großer Feierlichkeit nach der Küche. Dort setzte er sich beim Feuer nieder und forderte eine Flasche Ale und eine Pfeife. Kaum würdigte er die untertänigen Fragen derjenigen einer Antwort, die sich nach dem Gesundheitszustande seiner Familie erkundigten.

Indem er sich nun, während dieses tiefen Stillschweigens, mit Tabak und Bier gütlich tat, näherte sich der Helfer mit vieler Ehrerbietung. Er fragte ihn, ob er uns bei Tische mit seiner Gegenwart beehren wollte. »Nein«, war die Antwort. Er habe den Squire Bumpkin besucht, der sich am letzten Landtage ein tüchtiges Fieber an den Hals getrunken, und habe Betty beim Wegreiten gesagt, er würde zum Mittag wiederkommen.

Als der Doktor Flasche und Pfeife geleert hatte, erhob er sich und wackelte mit der prälatenmäßigen Würde fort, mit der er hereingewatschelt war. Der geistliche Tagelöhner stand mit dem Gaul schon vor der Tür in Bereitschaft. Kaum hatte der Vikar sich auf sein Tier gesetzt, als der drollige Kumpan von Helfer in die Küche kam und sich folgendermaßen ausließ: »Da zieht der alte Galgenstrick hin. Der Teufel gebe ihm das Geleit! Sie sehen, meine Herren, wie's in der Welt geht. Der Schuft von einem Vikar verdient, weiß Gott, keinen Schilling und hat zwei Pfründen, die ihm jährlich vierhundert Pfund eintragen, und ich armer Teufel muß mich für ihn placken und büffeln, muß jeden Sonntag zwanzig Meilen herumreiten und predigen. Was hab ich dafür? Auf Ehre, nicht mehr als zwanzig Pfund jährlich. Ich rühme mich nicht gern meiner Fähigkeiten, aber – doch Vergleiche sind unangenehm. Das einzige möcht ich wohl wissen, weshalb dieser Schmerbauch von Doktor besser zu leben verdient als ich? Er kann zu Hause in seinem Großvaterstuhl lungern, in den besten Gerichten und dem herrlichsten Weine schwelgen und sich an dem Umgang seiner Haushälterin Betty ergötzen. – Sie verstehn mich, meine Herren. Betty ist eine arme Verwandte vom Doktor und ein schmuckes Mädchen; doch das tut nichts. Überdies ist es ein Mädchen, das sehr an seinen Eltern hängt. Die besucht sie jedes Jahr regelmäßig, ob ich gleich nicht habe erfahren können, in welcher Gegend der Grafschaft sie eigentlich leben.«

Um die Zeit war das Mittagessen fertig, und ich weckte meinen Kameraden. Wir aßen mit gutem Appetit und in sehr froher Stimmung. Als das Mahl geendet und die Zeche von einem jeden ins reine gebracht worden war, ging der Helfer unter dem Vorwand eines nötigen Geschäfts hinaus, setzte sich zu Pferde und überließ es den beiden Pächtern, den Wirt zu befriedigen, so gut sie immer konnten.

Kaum hatten wir diesen Streich erfahren, als der Akziseeinnehmer, der bisher ganz still gewesen war, mit einem boshaften Grinsen begann: »Ein altes Stückchen von Shuffle! – Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten, wie er von Freihalten sprach. Sie müssen wissen, das ist ein ganz kurioser Kerl. Als er dem jungen Lord Trifle auf der Universität diente, fischte er einige Brocken Gelehrsamkeit auf; aber 's Kuppeln ist doch so seine Hauptsache. Niemand kennt seine Talente besser als ich. Ich war Valet de chambre bei Squire Tattie, 'nem Herzensfreund von Shuffles Lord. Er kam in eine allerliebste Klemme, weil er einige von seines Herrn Kleidern hatte zu Gevatter stehen lassen. Deswegen jagte er ihn auch fort. Allein er wußte dies und jenes von Mylord, und drum nahm sich dieser fein in acht, ihn nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Sein hoher Gönner hat's durchgesetzt, daß er ordiniert worden ist, und ihm auch zu der Stelle verholfen, die er jetzt hat. 's ist 'n rechtes Wunder, wie er sich bei seinen schmalen Einkünften so gut durchzulügen weiß, daß er ganz honett lebt. Er spielt 'ne artge Violine, wie Sie gehört haben, und ist wirklich 'n recht muntrer Gesellschafter. Dadurch ist er denn überall willkommen. – Karten spielt Ihnen kein Mensch im ganzen Königreich so gut wie er. Aber er ist auch 'n verdammter Erzgauner und kann 'ne Karte so wegpraktizieren, daß man nicht dahinterkommt.«

Hier unterbrach ihn einer von den Pächtern und fragte, warum er nicht billig genug gewesen wäre, ihnen dies zu sagen, ehe sie sich mit ihm ins Spiel eingelassen hätten. Der Akziseeinnehmer versetzte ohne alles Stocken, es wäre nicht seine Sache, sich in dergleichen zu mischen, außerdem hätte er nicht wissen können, daß sie Shuffle nicht kennten, der in der ganzen Gegend ›wie ein Daus‹ bekannt sei.

Mit dieser Rechtfertigung war der andere nicht zufrieden und beschuldigte jenen, er habe den Helfer zu seinen Schelmstücken angereizt und ihm dabei geholfen. Daher verlange er auch seinen Anteil am Gewinst zurück.

Der Akziseeinnehmer schlug dies mit dürren Worten ab. So viele Griffe und Kniffe auch sonst Shuffle gemacht habe, behauptete er, so sei er doch diesmal bei ihrer Partie ehrlich und redlich zu Werke gegangen, und das könne er vor jedem Gericht in der Christenheit bezeugen. Mit diesen Worten stand er auf, bezahlte seine Rechnung und schlich sich dann fort.

Der Wirt steckte seinen Kopf zur Tür herein, um zu sehen, ob er fort sei, schüttelte sodann den Kopf und sagte: »Ach, Gott helf uns, wenn alle Sünder ihren verdienten Lohn kriegen sollten. – Wir Wirte und Garköche dürfen's mit den Herren von der Akzise nicht verderben. – Aber ich weiß, was ich weiß! Vom Pfarrer Shuffle läßt sich nichts abschneiden und dem Patron dort ansetzen; der eine taugt sowenig wie der andere. Aber, ihr Herren«, setzte Meister Bonifacius leise hinzu, »das bleibt ganz unter uns.«


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