Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Zweites Kapitel

Ich werde von meinem Großvater vernachlässigt, von meinem Schulmeister mißhandelt und an Widerwärtigkeiten gewöhnt

 

Es fehlte nicht an Personen, die gegen meine Oheime den Verdacht hegten, daß sie am Schicksal meines Vaters Anteil gehabt hätten, um sich durch seinen Tod der Erbschaft zu versichern, die ihm nach dem Hinscheiden des alten Herrn zufallen mußte. Diese Vermutung stützte sich darauf, daß keiner von ihnen während der Zeit, in der er sich in Ungnade befand, die allermindeste Neigung, ihm zu helfen, verriet; vielmehr nährten sie durch alle nur erdenklichen Kunstgriffe des Vaters Groll gegen ihn und bestärkten ihn in dem Entschluß, seinen Sohn dem Mangel und Elend preiszugeben. Verständige Leute hielten dies jedoch für eine bloße Grille. Wären meine Verwandten einer so schwarzen Tat fähig gewesen, schlossen jene, so würden sie mir auch ein meinem Vater ähnliches Schicksal bereitet haben, da mein Leben ein neues Hindernis für ihre Ansprüche war.

Inzwischen wuchs ich allmählich heran. Meine ungemeine Ähnlichkeit mit meinem Vater machte mich zum Liebling aller unsrer Zinsbauern, die dem Verstorbnen noch gut waren. Sie taten alles für mich, was ihre dürftigen Umstände nur gestatteten. Allein ihre Gewogenheit war nur eine schwache Stütze gegen die eifersüchtige Feindschaft meiner Oheime und Vettern. Je mehr Anlagen ich verriet, desto unversöhnlicher wurde ihre Abneigung.

Als ich sechs Jahre alt war, hielten sie meinen Großvater so blockiert, daß ich ihn nicht anders als verstohlenerweise zu sehen bekam. Ich schlich mich nämlich unterweilen ins Feld hin, wenn er da auf einem Stuhle saß und seinen Arbeitern zusah. Er streichelte mir alsdann die Backen, sagte, ich sollte mich immer gut aufführen, und versprach, für mich zu sorgen.

Ich wurde einige Zeit danach in die Schule eines benachbarten Dorfes geschickt, das seit undenklichen Zeiten zum Sprengel des alten Herrn gehört hatte. Da er aber weder Kostgeld für mich bezahlte noch mich mit Kleidungsstücken, Büchern und andern Notwendigkeiten versah, so befand ich mich in einer höchst elenden und verächtlichen Lage. Der Dorfpräzeptor, der mich bloß aus Furcht vor meinem Großvater kostenlos unterrichtete, bekümmerte sich wenig darum, ob ich im Lernen Fortschritte machte oder nicht. Trotz allen diesen Schwierigkeiten und ungünstigen Umständen nahm ich stark im Lateinischen zu. Sobald ich imstande war, leidlich zu schreiben, quälte ich meinen Großvater so mit Briefen, daß er meinen Lehrer zu sich kommen ließ und ihn wegen der Sorgfalt, die er auf meine Erziehung wendete, heftig beschimpfte. Er sagte, wann immer ich wegen Urkundenfälschung an den Galgen käme, wäre es meines Lehrers Schuld. Mein Blut läge auf seiner Seele.

Der Schulfuchs, der sich vor nichts mehr als vor seines Patrons Ungnade fürchtete, versicherte bei seiner Ehre, der Knabe hätte seine Geschicklichkeit seinen natürlichen Talenten und seinem anhaltenden Fleiße zu danken und keineswegs dem in der Schule genossenen Unterricht oder der erhaltenen Aufmunterung. Was er nun erlernt habe, könne er ihm freilich nicht wieder nehmen, wofern der gestrenge Herr ihm nicht die Macht einräume, seine Finger untüchtig zu machen. Auf die Art hoffe er, mit Gottes Hilfe den jungen Burschen an weiteren Fortschritten zu verhindern.

Das, wozu er sich anheischig gemacht hatte, erfüllte er redlich. Unter dem Vorwande, ich hätte unverschämte Briefe an meinen Großvater geschrieben, bohrte er in ein Brettchen fünf Löcher, durch die ich alle Finger meiner rechten Hand stecken mußte, und befestigte es mit einer Peitschenschnur dermaßen an meinem Gelenk, daß ich mich wirklich der Feder nicht bedienen konnte.

Indessen wurde ich dieses Abhaltungsmittel in wenigen Tagen durch einen Zufall los. Ich kam mit einem meiner Kameraden in Streit, der mich wegen meiner Armut und meiner Buße verhöhnte. Dieser unedelmütige Vorwurf brachte mich so auf, daß ich ihn mit meiner Handmaschine auf den Kopf schlug. Die Wunde ging bis auf den Hirnschädel, und er stürzte blutig und besinnungslos zu meinem und der andern Knaben größtem Schrecke zu Boden. Diese liefen sogleich zum Schulmeister, um ihm den Vorfall zu melden. Ich ward für diese Mißhandlung so grausam gezüchtigt, daß der Eindruck, den dies auf mich machte, nie erlöschen wird, wenn ich auch Methusalems Alter erreichte. Ebensowenig wird sich bei mir der Widerwille und Abscheu gegen den unbarmherzigen Tyrannen verlieren, der mich mit dieser Strafe belegte.

Die Verachtung, die mir mein dürftiges Äußeres von allen zuzog, die mich sahen, der beständige Mangel, dem ich ausgesetzt war, und mein Stolz, der keine Beleidigung erdulden konnte, dies alles verwickelte mich in unzählige verdrießliche Abenteuer. Ich ward dadurch endlich an Widerwärtigkeiten gewöhnt und zu Unternehmungen angeregt, die weit über mein Alter hinausgingen.

Öfters ward ich gar unmenschlich für einen Frevel gegeißelt, den ich nicht begangen hatte. Man nannte mich im ganzen Dorf einen Vagabunden und bürdete mir daher jeden Unfug auf, dessen Urheber unbekannt war. Ich ward mehrmals beschuldigt, Gärten, in die ich nie gekommen war, geplündert, Katzen, die ich nie gestoßen, getötet, Pfefferkuchen, die ich nicht angerührt, aufgenascht und alte Weiber, die ich nie gesehen hatte, beschimpft zu haben. Ein stammelnder Zimmermann sogar hatte Beredsamkeit genug, meinen Lehrer zu überzeugen, ich habe ein mit Schrot geladenes Pistol in sein Fenster hinein abgefeuert, wiewohl meine Wirtin und deren ganzes Haus bezeugten, ich hätte zu der Zeit, da dieser Mutwille verübt worden war, schon längst ruhig im Bett gelegen.

Einmal ward ich gepeitscht, weil ich mit genauer Not dem Ertrinken entgangen war, als eine Fähre, auf der ich mich befand, umschlug. Ein andermal, als ich von einer Quetschung wiederhergestellt war, die ein mit einem Karren über mich hinrennendes Pferd mir gemacht hatte; und ein drittes Mal, weil ich mich von einem Bäckerhunde hatte beißen lassen. Kurz, ich mochte schuldig oder unglücklich sein, die Züchtigung und das Mitleid dieses Despoten von Schulmeister äußerten sich stets gleich.

Weit entfernt, durch diese höllische Methode geschmeidiger zu werden, siegte vielmehr mein Unwille über die sklavische Zucht, die bisher meinen Gehorsam erzwungen hatte. Je mehr ich an Jahren und Kenntnissen zunahm, desto mehr sah ich die Ungerechtigkeit und Barbarei seines Betragens ein. Mit Hilfe einer außergewöhnlichen Veranlagung und durch Unterstützung und Anweisung des Unterschulmeisters, der meinen Vater auf seinen Reisen begleitet hatte, machte ich im Verstehen der klassischen Schriftsteller, im Schreiben und Rechnen erstaunliche Fortschritte. Daher kam es, daß ich noch vor meinem zwölften Jahr von jedermann für den Besten in der Schule erklärt wurde. Dies, mein kühner Mut und meine körperliche Stärke, wodurch ich mir fast alle Kameraden meines Alters unterwürfig gemacht hatte, verschafften mir bei ihnen so vielen Einfluß, daß ich gegen meinen Verfolger Pläne zu schmieden begann und die Hoffnung hatte, ihm in sehr kurzem Trotz bieten zu können.

Als ich das Haupt einer Verschwörung von dreißig Knaben war, wovon die meisten ungefähr meine Jahre hatten, beschloß ich, eh ich meinen großen Plan ausführte, ihre Herzhaftigkeit auf die Probe zu stellen, um zu sehen, wieweit ich mich darauf verlassen könne. Zu dem Ende griff ich an ihrer Spitze einen Trupp handfester Lehrjungen an, die sich eines uns zu unserer Erlustigung angewiesenen Platzes bemächtigt hatten und Kegel darauf spielten. Allein ich mußte zu meiner Kränkung sehen, daß mein Korps in einem Augenblick in die Flucht geschlagen und einem meiner Kameraden durch eine Kugel, die ihm einer von unsern Gegnern nachwarf, das Bein zerschmettert wurde. Diese Niederlage hinderte uns indes nicht, uns nachher in verschiedene Scharmützel mit ihnen einzulassen. Wir warfen uns darin von weitem mit Steinen, und ich trug Wunden davon, deren Narben noch zu sehen sind. Jene Attacken erneuerten wir so oft, daß die Feinde ihrer endlich überdrüssig wurden, ihre Eroberung aufgaben und uns im ruhigen Besitz unseres Territoriums ließen.

Wollt ich all die Siege erzählen, die ich mit den Verschworenen erfocht, so würd ich kein Ende finden. Unser kleines Heer ward endlich der Schrecken des ganzen Dorfes, so daß, wenn ein verschiedenes Interesse dasselbe in zwei Parteien teilte, die eine sich gemeiniglich wegen Beistandes an Roderick Random (so hieß ich) wandte, um ihrer Partei das Übergewicht zu verschaffen und ihre Gegner in Furcht zu erhalten.

Inzwischen nutzte ich jeden Feiertag, den wir bekamen, um meinen Großvater zu besuchen. Aber nur selten erhielt ich bei ihm Zutritt. Ihn belagerte beständig eine zahlreiche Schar von Enkelinnen, die zwar stets in Zank und Streit lebten, aber, sobald ich erschien, sich gegen ihren gemeinschaftlichen Feind vereinigten.

Sein Universalerbe, der ungefähr achtzehn Jahre alt war, trachtete nach nichts als nach Fuchsjagd; auch war er in der Tat zu weiter nichts tauglich, wiewohl mein Großvater sehr viele Sorgfalt auf seine Erziehung verwandt hatte und ihm einen Lehrer im Hause hielt, der zugleich Küsterstelle mit versah. Jener junge Aktäon, der von seinem Großvater die Antipathie gegen jeden Notleidenden ererbt hatte, erblickte mich nie, ohne daß er seine Jagdhunde gegen mich losließ und mich nötigte, in einer oder der anderen Bauernhütte eine Freistätte zu suchen. Zu solchen christlichen Zeitvertreiben munterte ihn sein Lehrer auf, der jede Gelegenheit ergriff, sich bei der aufgehenden Sonne beliebt zu machen. Der alte Herr, merkte er wohl, konnte nach dem Lauf der Natur nicht mehr lange leben, da er schon am Rande der Achtzig war.

Das Benehmen jenes schurkischen Schmeichlers machte mich gegen ihn so erbittert, daß ich eines Tages, als er mich mit seinen Hunden in einem Meierhofe belagerte, wo ich meine Zuflucht genommen hatte, einen großen Kieselstein nach ihm schleuderte. Als ein trefflicher Schütze erreichte ich mein Ziel und schlug ihm vier Vorderzähne aus, wodurch er denn zu seinem Küsteramte auf immer untauglich ward.


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