Tobias Smollett
Die Abenteuer des Roderick Random
Tobias Smollett

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Vierzehntes Kapitel

Unsere Aufnahme bei Straps Freund und die meinige bei Cringer. Ich komme um meine ganze Barschaft

 

Den Nachmittag schlug mir mein Gefährte vor, seinen Freund zu besuchen, der, wie wir in Erfahrung gebracht hatten, in unserer Nachbarschaft wohnte. Ich ließ es mir gefallen, und wir waren so glücklich, ihn zu Hause anzutreffen. Dieser Mann, der vor drei oder vier Jahren aus Schottland gekommen war, hatte eine Schule gegründet, worin er Latein, Französisch und Englisch lehrte. Doch gab er hauptsächlich in der englischen Aussprache Unterricht, wobei er nach einer schnelleren, bisher ganz ungewöhnlichen Methode verfuhr. Und in der Tat, hätten seine Schüler so wie ihr Lehrer gesprochen, so würde der letzte Teil seines Versprechens bis auf ein Tüpfelchen erfüllt worden sein; denn wiewohl ich jedes Wort, was ich seit meiner Ankunft in England gehört, gar leicht verstanden hatte, so waren dennoch drei Teile von seinem Dialekt für mich so unverständlich, als wenn er arabisch oder irländisch gesprochen hätte.

Er war ein Mann von mittlerer Größe und ging, wiewohl er nicht über die Vierzig hinaus war, sehr gebückt. Sein Gesicht hatten die Blattern sehr durchlöchert, und sein Mund ging von einem Ohr zum andern. Sein Schlafrock bestand aus einem Plaid und war in der Mitte durch ein altes Degenkoppel von einem Sergeanten befestigt. Er trug eine Knotenperücke mit einem drei Zoll hohen Toupet, wie es unter König Karl II. Mode gewesen war.

Nachdem er Strap als seinen Verwandten recht höflich empfangen hatte, fragte er, wer ich sei. Als er es erfahren hatte, nahm er mich bei der Hand und sagte, er wäre mit meinem Vater noch in die Schule gegangen. Und als er meine Umstände vernommen hatte, versicherte er, er würde mir durch Rat und auf andere Art so viele Dienste leisten, wie er nur imstande wäre. Während dieser Rede durchmusterte er mich aufs genaueste, ging um mich etlichemal herum und sagte: »O du lieber Heiland! Welch ein Anblick!«

Ich erriet die Veranlassung dieses Ausrufes und sagte zu ihm: »Ich vermute, Sir, meine Kleidung steht Ihnen nicht recht an?« – »Kleidung?« versetzte er. »In Eurem Land mögt Ihr's nennen, wie Ihr wollt. Aber ich schwöre bei Gott, bei uns nennt man das einen Faschingsaufzug. Kein Christenmensch wird solch ein Gespenst ins Haus lassen. Bei meiner Seel! Ich wundere mich, daß Euch die Hunde nicht nachgerannt sind. Seid Ihr über den St.-James-Markt gekommen? Ihr seht aus – erhalt mir Gott mein Augenlicht – wie der Vetter vom Orang-Utan.«

Ich begann über diese Rede ein wenig ernsthaft zu werden und fragte ihn, ob ich wohl hoffen dürfe, morgen vor Mister Cringer gelassen zu werden, auf den es vornehmlich ankäme, daß ich mein Unterkommen fände. »Mister Cringer«, erwiderte er, sich den Kopf kratzend, »mag ein ehrenwerter Herr sein – ich weiß nichts gegen ihn; aber liegt Eure Hoffnung allein auf ihm? Wer hat Euch an ihn empfohlen?»

Ich zog Crabs Brief hervor und sagte ihm, worauf sich meine Hoffnung gründe. Er sah mich starr an und wiederholte sein: »Mister Cringer! O du lieber Heiland du!« Das erschien mir als ein böses Omen, und ich bat ihn, mir mit seinem Rat beizustehen. Er versprach mir, frei von der Brust weg mit mir zu sprechen. Zum Beweise hierfür gab er uns ein Warenlager von Perücken in der Nachbarschaft an, wo ich das Benötigte finden würde. Er schärfte mir ein, mich vor Cringer nicht eher sehen zu lassen, als bis ich das Fuchshaar abgeschafft hätte, das allein, merkte er an, hinlänglich sei, jedermann gegen mich Antipathie einzuflößen. Als wir im Begriffe waren, seinen Rat zu befolgen, rief er mich zurück und sagte, ich sollte ja zusehen, daß ich den Brief keinem andern als Cringer selbst zustellte.

Unterwegs frohlockte Strap über die gute Aufnahme, die uns bei seinem Freunde widerfahren war. Dieser hatte, wie er mir sagte, versprochen, ihn in zwei oder drei Tagen bei einem guten Prinzipal unterzubringen. »Und nun«, fuhr er fort, »sollt Ihr sehen, zu was für 'ner schönen Perücke ich Euch verhelfen will. Kein Barbier in ganz London, das sag ich ganz dreist, soll mich anführen und mir ein verrottetes Netz oder Haare von Toten, wären sie auch nur einen Schilling wert, anhängen.«

Mein eifriger Anwalt stritt sich in der Tat mit dem Kaufmann so arg herum, daß dieser ihn wohl zweimal ersuchte, den Laden zu verlassen und zu sehen, wo er anderwärts wohlfeiler ankommen könne. Zuletzt wählte ich einen schönen Stutz, wofür ich zehn Schillinge bezahlte. Wir begaben uns nach unserm Logis, wo mich Strap in einem Augenblick von dem Haar befreite, das dem Schulmeister so anstößig gewesen war.

Den folgenden Morgen standen wir sehr frühzeitig auf. Wir hatten gehört, daß Cringer bei Licht Audienz erteilte, weil er selbst mit Tagesanbruch sich bei dem Lever des Lords Terrier einfinden müßte, da dieser zwischen acht und neun Uhr dem aufstehenden Minister Cour zu machen genötigt wäre.

Als wir vor Cringers Hause waren, gab mir Strap einen Beweis von seiner Höflichkeit. Er bewegte den Türklopfer so laut und lange, daß er die ganze Straße in Alarm versetzte. Im zweiten Stock des nächsten Hauses öffnete sich bald darauf ein Fenster, und ein Nachttopf ward über den armen Barbier mit so gutem Erfolg ausgeleert, daß dieser bis auf die Haut durchnäßt wurde. Zum Glück befand ich mich einige Schritte von ihm und entging dadurch dieser nicht gut duftenden Wasserflut.

Inzwischen öffnete ein Lakai die Haustür. Da er niemanden weiter als uns erblickte, fragte er mit sehr finstrer Miene, ob ich den verdammten Lärm gemacht habe und was ich wolle. Ich sagte ihm, ich hätte Geschäfte bei seinem Herrn und möchte ihn gern sprechen. »Da müßt Ihr erst mehr Lebensart lernen«, versetzte der Bediente und warf mir die Tür vor der Nase zu.

Ärgerlich über diese fehlgeschlagene Erwartung, wandte sich mein Unwille gegen Strap, und ich erteilte ihm für seine unzeitige Dreistigkeit einen scharfen Verweis. Allein er gab darauf nicht acht, sondern wand die Feuchtigkeiten aus seiner Perücke. Sodann nahm er einen großen Stein auf und warf ihn gegen die Tür des Hauses, aus dem er war betaut worden, mit solcher Heftigkeit, daß sie, weil das Schloß nachgab, weit aufflog. Als mein Reisegefährte dies sah, legte er sich aufs Laufen und überließ es mir, ihm zu folgen, so gut ich konnte. Zeit, sich lange zu besinnen, war hier nicht; ich folgte ihm daher mit größtmöglicher Eile.

Als der Morgen dämmerte, befanden wir uns in einer ganz unbekannten Straße. Wir wanderten darin fort und gafften umher. Ein sehr anständig gekleideter Mann ging an mir vorbei, stand plötzlich still und hob etwas auf. Nachdem er es besehen hatte, kehrte er um und reichte es mir mit den Worten: »Sir, Sie haben eine halbe Krone verloren.«

Über einen solchen Beweis von Ehrlichkeit erstaunte ich nicht wenig und sagte ihm, sie gehöre mir nicht. Allein er bat mich dringend, nachzusehen, ob ich noch all mein Geld hätte. Ich zog daher meine Börse heraus – denn die hatte ich mir seit meiner Ankunft in der Stadt gekauft – und zählte mein Geld durch, das bis auf fünf Guineen, sieben Schillinge und zwei Pence geschmolzen war. Sodann versicherte ich ihm, ich hätte nichts verloren. »Nun, um so besser!« rief er aus. »Der liebe Gott hat's also beschert! Sie waren beide dabei, wie ich es aufnahm, und Sie können daher mit Fug und Recht halbpart verlangen.«

Ich erstaunte über diese Rede und hielt den Mann für das Haupt aller Redlichen; inzwischen weigerte ich mich schlechterdings, das Geringste von dieser Summe anzunehmen. »Ah! Sie sind auch gar zu bescheiden, meine Herren«, erwiderte er. »Wie ich merke, sind Sie Fremde. Wenigstens müssen Sie mir erlauben, Ihnen an diesem kalten, rauhen Morgen etwas Warmes vorzusetzen.«

Schon wollte ich diese Einladung ablehnen, als mir Strap zuwisperte: »Der Herr wird's übelnehmen«, daher ließ ich es mir gefallen. »Wo wollen wir hingehen?« fragte der Fremde. »Ich bin in dieser Gegend der Stadt ganz unbekannt.« – »Uns geht es nicht um ein Haar besser«, entgegnete ich. »Nun, so wollen wir in das erste Wirtshaus gehen, das wir offen finden.«

Unterwegs begann er folgendes Gespräch: »Wie ich an Ihrer Aussprache merke, meine Herren, sind Sie aus Schottland. Meine Großmutter väterlicherseits war auch von dort, und das hat mich für dies Land so eingenommen, daß ich keinen Schottländer sehen kann, ohne daß mein Herz vor Freude wallt. – Die Schottländer sind recht brave Leute! Dort gibt's kaum eine große Familie, die sich nicht einiger Heldentaten rühmen kann, welche ihre Ahnen vor vielen hundert Jahren verrichtet haben. Zum Beispiel Ihre Douglasse, Gordons, Campbells, Hamiltons. Hier in England ist keine einzige so alte Familie. Überdies wird jedermann bei Ihnen gut, sogar gelehrt erzogen. Ich habe einen Tabulettkrämer gekannt, der sein Griechisch und Hebräisch so parlierte, als wäre es seine Muttersprache. Und was Ehrlichkeit anlangt? – Ich hatte einmal einen Bedienten, der hieß Gregory MacGregor, dem Kerl hätte ich ungezähltes Geld anvertrauen können.«

Diese Lobrede auf mein Vaterland gewann dem Manne, der sie hielt, meine Zuneigung so sehr, daß ich glaube, ich wäre für ihn in den Tod gegangen. Straps Augen schwammen in Tränen. Wir passierten endlich ein schmales, finstres Gäßchen, worin wir ein Wirtshaus erblickten. Sofort gingen wir hinein. Am Kaminfeuer saß ein Mann, der eine Pfeife rauchte und einen Krug Wermutbier vor sich stehen hatte.

Unser neuer Bekannter fragte uns, ob wir schon Flip mit Eiern getrunken hätten. Als wir dies mit Nein beantworteten, versicherte er uns, es sei ein gar köstliches Getränk, und befahl, ein Quart für uns zuzubereiten; dabei verlangte er Pfeifen und Tabak. Der Eierflip züngelte uns sehr an, und wir ließen ihn uns herzlich gut schmecken. Die Unterredung, die unser Führer einleitete, drehte sich um die Schlingen, welche jungen unerfahrenen Leuten in dieser Hauptstadt gelegt würden. Dieser Unbekannte beschrieb uns unendlich viele Betrügereien, die täglich an unwissenden und unbedachtsamen Personen verübt würden, und warnte uns mit einem so treuherzigen und teilnehmenden Wesen, daß wir das gütige Geschick, welches uns diesem Mann in den Weg geführt hatte, tausendmal segneten.

Als wir nach einiger Zeit mit unserm Kruge zu Ende waren, fing unser neuer Freund an zu gähnen und sagte dabei, er habe die ganze Nacht durch bei einem Patienten gewacht. Darauf schlug er uns vor, einen Zeitvertreib zu Hilfe zu nehmen, um ihn munter zu erhalten. »Wie wär's«, fuhr er fort, »wenn wir zum Zeitvertreib Whist spielten? Aber halt! das geht nicht, unser sind nur drei, und ich verstehe kein anderes Spiel. Die Wahrheit zu sagen, spiele ich nur selten, bloß aus Gefälligkeit oder in solchem Fall wie jetzt, wenn ich in Gefahr stehe einzuschlafen.«

Wiewohl ich zum Spiel gerade keine Neigung hatte, so war es mir doch nicht so zuwider, daß ich nicht ein oder zwei Stunden mit einem Freund bei Karten hätte zubringen sollen. Da ich nun wußte, daß Strap von diesem Spiel soviel wie ich verstand, so trug ich keine Bedenken, zu äußern, ich wünschte, daß wir den vierten Mann finden könnten.

In dieser Verlegenheit nahm der Herr, den wir beim Eintritt in das Haus am Kamin fanden und der diese Rede angehört hatte, sehr ernsthaft seine Pfeife aus dem Munde und sagte: »Meine Herren, meine Pfeife ist, wie Sie sehen, aus« (er klopfte die Asche ins Feuer), »und ehe Sie Langeweile haben sollen, will ich wohl ein Spielchen mitmachen. Doch müssen Sie wissen, daß ich niemals um hohe Summen spiele.«

Wir nahmen sein Anerbieten mit Vergnügen an. Wir hoben ab, um zu erfahren, wer Spielpartner des andern werden sollte, und er wurde der meinige; die Partie ging um drei Pence. Wir waren so glücklich, daß ich in kurzem eine halbe Krone gewann. Der Herr, den wir auf der Straße angetroffen hatten, machte nunmehr die Bemerkung, er habe heute kein Glück. Daher schlug er vor, entweder ganz aufzuhören oder die Partner zu wechseln. Mein gutes Glück und die Erwartung, es noch höher zu treiben, hatten mich hitzig gemacht; überdies nahm ich wahr, daß die beiden Fremden ganz gleichgültig spielten. Deshalb machte ich mich anheischig, ihm Revanche zu geben; wir hoben wieder ab, und Strap und ich wurden zu unserm wechselseitigen Vergnügen Partner.

Mein Glück verließ mich nicht, und in weniger als einer Stunde hatten wir ihnen mehr als dreißig Schillinge abgewonnen, denn je mehr sie verloren, desto eifriger wurden sie und verdoppelten den Einsatz. Zuletzt begann die unbeständige Göttin uns ganz den Rücken zu drehen, und wir büßten nicht nur unsern Gewinst, sondern noch dazu vierzig Schillinge von unserem eignen Gelde ein. Dieser Verlust kränkte mich außerordentlich und machte auf Straps Gesicht gar merklichen Eindruck. Es ward immer länger und länger. Wie unsre Gegenspieler dies sahen, waren sie so gütig, uns unseren Verlust wiedergewinnen zu lassen, ja sogar, um uns zu trösten, eine kleine Summe darüber.

Nunmehr machte mein Reisegefährte gar weislich die Erinnerung, es wäre Zeit weiterzugehen. Allein der Mann, der sich im Wirtshaus zu uns gefunden hatte, fing an, die Karten zu verfluchen und murmelte vor sich hin, wir hätten unsern Gewinst nicht unserer Geschicklichkeit im Spiele, sondern einzig und allein dem blinden Glück zu danken. Diese Anmerkung wurmte mich so sehr, daß ich ihn auf eine Partie Pikett um eine Krone herausforderte. Mit Schwierigkeit ließ er sich überreden, diese Einladung anzunehmen.

In weniger als einer Stunde hatte unser Wettkampf ein Ende und ich, zu meiner unbeschreiblichen Betrübnis, all mein Geld bis auf den letzten Schilling verloren! Strap weigerte sich schlechterdings, mir nur mit einem Sixpence zu helfen. Der Herr, der uns in diese Schenke geführt hatte, entnahm aus meinen trostlosen Blicken, wie mir zumute war; mein Herz hätte vor Kummer und Ärger bersten mögen. Indes stand der andere Fremde auf und ging mit meinem Gelde weg. Nunmehr hob jener folgendergestalt an zu sprechen: »Mir tut es sehr leid, daß Sie so unglücklich gewesen sind, und wenn's in meiner Macht stünde, hülfe ich Ihnen recht gern. Aber sagen Sie mir doch um Himmels willen, was bewog Sie denn, so hineinzulaufen? Bei den Spielern ist das ein Grundsatz, ihr Glück so weit zu verfolgen, wie es gehen will, und, sobald es umschlägt, aufzuhören. Sie sind ein junger Mann und zu heftig in Ihren Leidenschaften; Sie müssen sie besser im Zaume halten lernen. Erfahrung ist übrigens der beste Lehrmeister. Die heutige wird Ihnen noch im späten Alter nützlich sein. Was den Mann anlangt, der Ihnen das Geld abgewann, so wollte er mir nicht recht gefallen. Merkten Sie nicht, daß ich Ihnen einen Wink gab, beizeiten aufzuhören?«

»Nein«, versetzte ich. »Nicht?« erwiderte er. »Jaja, Sie waren bloß auf Ihr Spiel erpicht. Aber hören Sie«, fuhr er mit leiserer Stimme fort, »wissen Sie gewiß, daß der junge Mensch da ehrlich ist? Seine Blicke sind ein wenig verdächtig. Doch ich kann mich auch irren. Wie er vorher hinter Ihnen stand, schnitt er Gesichter über Gesichter. Es ist recht schändliches Volk hier in der Stadt.«

Ich sagte ihm, von meines Kameraden Redlichkeit wäre ich fest überzeugt; und die Grimassen, die er ihn habe machen sehen, hätten bloß von seiner ängstlichen Teilnahme an meinem Verlust hergerührt. »Oh, wenn das ist«, rief er, »so bitt ich um Vergebung. Sehen Sie doch einmal nach, Herr Wirt, wieviel wir schuldig sind!«

Die Rechnung belief sich auf achtzehn Pence. Der Herr hatte die Güte, sie zu zahlen, schüttelte sodann uns beiden die Hand und sagte, es würde ihm recht lieb sein, uns einmal wiederzusehen.


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