Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Mittwoch nachmittag trieb leichter Nebel unter der Sonne; Tropfen fielen leise aus den Wolkenfetzen dort oben; ab und zu guckte die Sonne zwischen ihnen durch, um nachzusehen, wie es auf Erden stehe; sie setzte hier und dort einen Regenbogen hin zum Zeichen, daß sie es wohl zufrieden sei. Der Himmel wölbte sich dahinter erhaben und blau; die Luft war still, – es war ein herrliches Wetter!

In der alten Stallgamme, die seit langem vom Per Hansen zu einer Art Werkstätte und Stabbur eingerichtet worden war, nähte die Beret an einem Hemd für den Kleinsten. Die Tür stand offen; sie konnte hinaussehen; sie hatte soeben das Gössel mit Frühstück zu den Buben geschickt, die auf dem Acker die Kartoffeln behäufelten. Der Per Hansen besserte das Dach des neuen Stalles aus; es war im Frühjahrsfrost leck geworden, weil die Weidengerten als Dachsparren nicht stark genug waren. Sie hörte ihn arbeiten.

– Ach ja, er macht seine Sache gut, seufzte sie und sah von der Näharbeit auf, könnte ich doch auch die meine recht besorgen! –

Ihr Gesicht hatte den kindlichen Ausdruck, der auf den Pastor solchen Eindruck gemacht; die Augen träumten sich verloren in etwas hinein, das nicht war, wie es sein sollte, und doch nicht abzuändern stand; ein unnatürliches Glimmen schwelte in ihrer Tiefe.

Sie war ganz ruhig. Auch heute fühlte sie sich recht müde und schlaftrunken wie jeden Tag, seit der merkwürdige Mann die Hand auf sie gelegt und mit seiner sonderbaren Stimme gesagt hatte, jetzt löse er sie aus den Banden des Satans! Es war so eigen, daß einem Menschen solche Macht verliehen werden konnte! Aber er hatte ihr nichts vorgetäuscht, das fühlte sie; denn er hatte ihr Bürde auf Bürde abgenommen, und sie hatte den Druck so sehr schwinden gespürt, daß sie geglaubt hatte, sie steige geradeswegs zum Himmel auf. Seither war die Schlaftrunkenheit über sie gekommen. – Sie konnte es nicht fassen. Sie schlief des Nachts gut, war aber tagsüber noch so schlafbeschwert, daß sie sich nur mit Mühe wach hielt.

Ein herrlicher Mann war er, das war gewißlich wahr! Und wie schön er sie alle zum Singen gebracht hatte! – Sie lächelte bei der Erinnerung: Sollt' einer es für möglich halten, daß er sie dazu vermocht, hier in der Gamme genau die Choräle anzustimmen, wie die Leute sie in Norwegen in den Kirchen singen! – Und es schien auch allright gewesen zu sein; denn kein Unheil war um deswillen hinterher eingetroffen. Und noch immer schwebten die Melodien in der Stube – gestern noch hatte sie sie überall hören können; sie hatte eine aufgefangen und hatte sie gesungen, bis der Per Hansen hereingestürzt gekommen war und gefragt hatte, was denn geschehen sei. – Er hatte so seltsame Augen gemacht; er brauchte doch nicht ängstlich zu sein, weil sie sang? –

Und wie sie jetzt daran dachte, tauchten die Strophen eines Chorals in ihr auf; sie lauschte und summte leise mit.

Nein, sie durfte wohl nicht singen! Sie konnte wieder jemanden damit erschrecken, wo doch die Leute hier so schnell in Furcht gerieten. – Diese Handarbeit war übrigens nicht leicht – wie nett er in dem Hemde aussehen werde! Sie hörte ihn doch wohl, wenn er in der Stube aufwachte? Eine kräftige Stimme hatte der Bursch!

Wenn die Mutter erst erfuhr, daß er Pastor werden sollte, würde sie ihn sich wohl nicht mehr ausbitten.

Ein großes Lächeln legte sich über das erwachsene Kindergesicht: Ein Pastor in der Familie, – ich die Mutter eines Pastors, das ist ja ganz wie in der Bibel!

Die Hand legte Stich neben Stich, aber sie zitterte. Die Gedanken kamen ungestümer; die Hand vergaß das Nähen.

Wenn jetzt die Mutter kommt, dachte sie, und jetzt könnte sie gleich da sein, dann will ich ihr das alles erzählen – und dann will ich ihr das sagen: wäre ich in Norwegen geblieben, wärest du niemals die Großmutter eines Pastors geworden – das werde ich ihr sagen, – denn dort geschehen nicht so merkwürdige Dinge. – Aber dann glaubt sie mir vielleicht nicht, was ich ihr erzähle?

Das Gesicht wurde nachdenklich, die Hand ruhte im Schoße.

– Aber dann erzähle ich ihr, daß wir jetzt in unserer Hütte Kirche halten. Und dann wird sie lachend den Kopf schütteln: Ich glaube, da behauptest du mehr, als du verantworten kannst, du Beret! Gerad das wird sie sagen. Und dann antworte ich: Nein, Mutter, das tue ich keineswegs; denn jetzt höre nur, – und dann erzähle ich ihr alles: Wir haben eine Kirche, und darin ist ein Altar mit Lichtern und allem sonst – und der Altar, das ist die große Lade vom Vater! Da wird sie noch mehr erstaunen. Beret, wird sie sagen, du redest soviel dummes Zeug; du mußt deine Zunge besser hüten, mein liebes Kind, – schau, es geht nicht an, über all und jedes daherzuschwätzen! Dann aber zeige ich ihr, wie der Syvert mit der Kjersti und der Hans Olsen mit der Sörrina und alle die andern vor der Lade knieten und einen Brocken von des Herrn Herrlichkeit zugeteilt erhielten. Und den Hans Olsen und die Sörrina, die kennt sie, und denen wird sie glauben. – Ich werde ihr zeigen, wo die Lade gestanden hat. – Laß sehen, ob ich mich noch der Worte erinnere, die er brauchte: Die gnädige Vergebung aller deiner Sünden! Gewiß, er sagte ›aller,‹ das weiß ich noch ganz deutlich!

Sie saß lange Zeit in Gedanken versunken; die Näharbeit ruhte im Schoß, die Hand darauf.

– Die Mutter sitzt auf dem Stuhl beim Herd, wie immer, wenn sie hier ist. Ja, fragt sie, bist du jetzt sicher, daß er Pastor werden wird, Beret? Übereile dich nicht, – du bist stets gar so schnell zu locken gewesen! Darauf werde ich antworten: Ja, Mutter, daran darfst du niemals zweifeln! Denn ich hörte es ja selber, wie jener merkwürdige Mann hier mit dem Herrgott deswegen akkordierte und bekam, was er wollte, – auch der Per Hansen und ebenso die Sörrina haben es gehört – frage sie nur, wenn du mir nicht glaubst!

– Dann sieht die Mutter mich lange an, und dann sagt sie: Ja, verhält es sich so, daß der Herrgott ihn braucht, dann wäre es häßlich von mir, ihn zu beanspruchen, obwohl ich gar gern einen der Deinen bei mir haben möchte, – aber dann hüte ihn mir auch gut, du mein liebes Kind! Das werde ich tun, glaube mir, antworte ich ihr dann; denn er soll ja in die Welt hinaus und den Menschen von des Herrn Herrlichkeit mitteilen!

– Jetzt steht die Mutter auf und will wieder ihres Weges gehen, und dann sage ich: Vergiß auch nicht, den Vater zu grüßen! Und das von seiner Lade mußt du ihm auch erzählen. –

Berets Antlitz wurde lang und nachdenklich.

Plötzlich wurden ihre Gedanken abgelenkt: schwere Schritte gingen über die Hofreite und hielten beim Stall. Jemand sprach und ging hinein; – jetzt hörte sie Per Hansens Stimme.

Die Beret nahm ihre Näharbeit wieder vor.

– Ob sie da wieder etwas von ihm wollen? Es heißt jetzt Per Hansen vorn und Per Hansen hinten, und niemals ist hier Ruhe. Verstehen denn die Leute nicht, daß ich ihn daheim nicht entbehren kann? – Und niemandem kann er nein sagen. – – Das ist gewiß wieder einer, der eine Fuhre von ihm will, und dann bleiben sie solange weg!

Sie nähte eine Weile.

Der hatte aber viel auszurichten, – wer mochte es wohl sein? Die Beret legte die Arbeit hin, ging leise aus der Tür über die Hofreite und zur Stallwand; hier blieb sie stehen: Ach, das war ja der Hans Olsen ! Dann war es nicht gefährlich, der hatte gewiß keine Fuhre mehr nötig.

Sie wollte schon wieder zurückgehen, da aber kam etwas, was sie innehalten ließ, – Worte, langsam von einer tiefen Stimme gesagt:

»Bekommt die Beret einen neuen Anfall, so weißt du, wie der ablaufen kann – es kann ein Unglück geschehen, das niemand von uns je vergessen wird, – wir haben genug von Ähnlichem erlebt. Das Knäblein wollen wir zu uns nehmen und werden es behüten, wie unser eigen Fleisch und Blut; – wir haben viel über das hier gesprochen, ich und die Sörrina.«

Der kindliche Gesichtsausdruck der Beret bedeckte sich plötzlich mit einem eigentümlich lauernden Zug.

Das fing jetzt also wieder an?! – Aber halt: jetzt antwortet der Per Hansen! – Der spricht doch mit so seltsamer Stimme – ist doch wohl nicht wieder erschreckt worden?

»Es ist schön von dir und der Sörrina, – das ist keine Frage; aber es muß so bleiben wie es ist. Es ist nun einmal so, daß sie die Mutter ist, und ich sehe, wie sie an ihm hängt. – Im letzten Frühling wußte ich noch nicht, wie ich mich diesen Sommer verhalten solle; aber jetzt habe ich mich entschlossen, es so bleiben zu lassen, wie es ist. Wird sie schon nicht wieder gesund, wenn wir ihn im Hause haben, so ist das schlechthin ausgeschlossen, wenn ich ihn erst fortbringe, – das glaube ich deutlich zu sehen. – Sie hat ihr Leben für ihn gewagt, und so soll sie ihn auch bei sich behalten, wie es auch gehen mag – ich sehe keinen anderen Ausweg. Das Schicksal, das lenkt uns alle, und es holt uns ein, ob wir auch hierhin oder dorthin entweichen.«

»Ich befürchte nur, du übernimmst dir eine allzu große Verantwortung,« wandte langsam der andere ein. »Du weißt, wie es letztes Jahr beinahe abgelaufen wäre.«

Es kam eine Pause. Das Antlitz der horchenden Frau spannte sich; ein Stock lehnte an der Stallwand, sie bückte sich schnell und packte ihn wild.

»Nein, siehst du,« sagte der Per Hansen, »gerade dessen soll niemand von uns so gewiß sein, obgleich es wohl so ausgesehen haben mag. – Denn es könnte ja doch auch so sein, daß sie es nicht auf die Weise bekommen hätte, wenn sie das Kind bei sich hätte behalten dürfen; – ich habe es wohl gemerkt, wie sie hier mit der Sehnsucht rang, als es fort war. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß vielleicht gerade das die Ursache gewesen ist. Vielleicht ist dadurch die Bürde für sie zu schwer geworden. – Und selbst wenn der Anfall trotzdem gekommen wäre, ist es noch nicht ausgemacht, daß sie dem Kinde etwas zugefügt hätte.«

Die Beret schlürfte die Worte wie ein Labsal; die Spannung legte sich, verging; die Hand ließ den Stock fallen; der Körper richtete sich auf, wurde so rank; und sie schaute um sich, – verwundert –: – Läuteten hoch oben nicht Glocken? –

Jetzt ließen sich die Stimmen im Stall weiter vernehmen.

»Glaubst du das wirklich?« fragte der Hans Olsen ernst.

»Ich will dir eins sagen, Hans Olsen: es gibt bald nichts, was ich von dem hier nicht schon geglaubt, – ich denke über nichts anderes mehr nach. Aber eines weiß ich: einen besseren Menschen als die Beret hat der Herrgott kaum je erschaffen – wenn ich ein so großes Wort aussprechen darf –, denn in ihr findet sich nichts Böses. Jetzt bin ich so weit, zu glauben, daß sie selbst in ihrer Verwirrung mit dem Kinde nichts Schlimmes beabsichtigt hat, wenn es auch für uns so ausgesehen haben mag. – Und schließlich ist das alles samt und sonders doch wohl meine Schuld!«

Herre Gott, wie läuteten heute die Glocken so schön! –

»Denn ich sehe jetzt ein: ich hätte sie nicht hierher locken sollen,« fuhr der Per Hansen traurig fort. »Ja, vielleicht war es sogar von Anfang an verkehrt, daß wir beide zusammenkamen? – Du weißt, wie es in Nordland war: Da hatten wir Boote, die wir auf Lofotfahrt gebrauchten, und die konnten vielerlei aushalten; und dann hatten wir Nachen, mit denen fischten wir daheim; die waren ebenso hübsch und für ihre Bestimmung ebensogut zu gebrauchen wie die andern für die ihre; aber wir konnten sie nicht gegeneinander austauschen. Es geht nicht an, in einem Nachen auf den Lofot zu segeln, – und ebensowenig kannst du mit einem Sechsruderer auf die Heimfischerei. Für dich und mich ist das hier draußen gar keine Sache; andere mögen für das Leben hier nicht taugen und können darum doch bessere Männer sein als wir. Es gibt mancherlei und vielerlei, was wir nicht verstehen.«

»Oh, ich sollte doch wohl die Beret kennen!«

»Das – glaube ich nun, tust du durchaus nicht, – so redlich und tüchtig du auch bist. Ich lebe jetzt seit all den Jahren mit ihr zusammen und muß einräumen, daß ich sie gar noch nicht kenne. – Jetzt erst fange ich an zu begreifen, wie viel und wie sehr sie gelitten hat, seit wir herkamen. – Es ist schon so, wie der Pastor sagt, das Mutterherz ergründet niemand. – Ich wollte nur stets darauflos und vorwärts; denn ich dachte mir eben, daß, was mir Freude macht, wohl auch andern gefallen müsse. Und was ist daraus geworden? Ich wollte ihr einen prächtigen Königshof bauen, und wir sitzen noch immer in der Erdhütte, und alles ist der reine Jammer. – Den Entschluß aber habe ich gefaßt: das Kind soll sie behalten. – Hab im übrigen Dank für dein Anerbieten.«

Tiefer Kummer sprach aus Per Hansens Worten; er war drückender als der graue Herbstabend, der sich bisweilen über die Prärie schleppt.

»Du sollst es uns nicht verübeln,« sagte Hans Olsens schwere, ernste Stimme; »denn wir haben allein Gutes beabsichtigt.«

Da rührte sich die Frau vor der Stallwand und schritt davon, unbewußt. Zwischen leichten Wolken hingen am Südhimmel noch die Streifen eines Regenbogens. Bei seinem Anblick verklärte sich ihr Antlitz.

Allmächtiger! Geschahen Zeichen am Himmel? – Dort droben stand die Herrlichkeit des Herrn! Siehe, der ganze Himmel war von ihr erfüllt ... dort, und auch dort war sie und war allerorten! –

Sie schritt weiter zur Wohngamme; sie wollte schon vorübergehen; da schrie da drin ein Kind aus Leibeskräften.

Sie blieb stehen, strich sich über Gesicht und Haar, trat darauf schnell in die Gamme. Im Bett gegenüber der Tür saß das Kind und schrie, als gehe es ans Leben.

Sie stürzte hin, warf sich darüber, riß den Buben an sich und umfaßte ihn, als hätte sie ein Kind wiedergefunden, das schon unerbittlich verloren gewesen. Sie sang und weinte zugleich leise vor sich hin; Dankbarkeit spülte Welle auf Welle in ihr Bewußtsein.

Der kleine Kerl war so überrascht, daß er plötzlich mucksmäuschenstill schwieg und sich eine Weile ruhig verhielt; dann zappelte er sich los und warf sich aufs Kopfkissen. Den einen Zeigefinger steckte er in den Mund, mit dem andern zeigte er steil in die Höhe, wie Kinder oft tun, wenn sie noch nicht so recht wissen, ob sie maulen sollen oder lieber vergnügt sein. Und dabei war er so unwiderstehlich lustig anzuschauen, daß sie sich danebenlegen mußte. Da strahlte er; der Finger kam aus der Luft herab, um ihr ins Gesicht zu pieken; und dann lachten sie alle beide auf, die Beret aber so laut und ausgelassen, daß er den Finger wieder zurückzog und ein höchst nachdenkliches Gesicht aufsetzte. – Als sie das sah, mäßigte sie sich und fing an, ihn leise zu liebkosen; und jetzt hatte sie ihn bald ganz für sich gewonnen.


 << zurück weiter >>