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III

Der Pastor stand im vollen Ornat am Fenster. – Der Talar war zwar schon fadenscheinig und von den vielen, weiten Reisen, die er im Mantelsack hatte zurücklegen müssen, ziemlich zerknüllt; auch der Kragen hätte wohl etwas saubrer sein können. Aber dem schenkte niemand Beachtung: denn da stand ein richtiger norwegischer Pastor in Talar und Bäffchen! Und es war gewiß auch zutreffend, was Tönset'n von ihm gesagt: er war ein merkwürdiger Mann. Das Gesicht trat durch die Amtstracht noch kräftiger hervor, das Grau im Bart und das jugendlich Frische wurden lebendiger.

Der weißbetuchte Tisch war so dicht ans Fenster geschoben, daß der Pastor gerade noch Platz dahinter fand. Zwei selbstgegossene Lichte standen darauf in selbstgefertigten Leuchtern: es waren zwei Äste in vier Zoll Länge quer abgeschnitten; die Borke war weiß überstrichen; von weitem nahmen sich die Leuchter aus wie sinnreiche Kunstgegenstände. Die Lichter brannten noch nicht. Eine Bibel und ein Gesangbuch lagen zwischen ihnen.

Die Zeit der Zusammenkunft war gekommen; die Leute traten bedächtig ein und suchten sich Platz; auf den Betten saßen dicht gedrängt – wie Perlen auf einer Schnur – Frauen, hauptsächlich Mütter mit Kindern, die hinter ihnen hockten oder lagen. Auf der großen Lade drängten sich acht weitere mit ihrem Kroppzeug zusammen; die Lade war etwas von der Wand abgerückt worden, daß man ringsherum sitzen konnte; die sechs Bänke, Per Hansens und Hans Olsens gemeinsamer Bestand, waren brechend voll von Kindern und Frauen, aber auch von älteren Männern, die das lange Stehen nicht vertrugen. – Die Betten standen in der einen Ecke, der Herd in der andern, der Pastor mit dem Tisch in der dritten; in der vierten und in dem Raum, der noch in der Stubenmitte blieb, stand dicht gedrängt Mann an Mann – wie Heringe in einer Tonne. Jeder wollte den Pastor sehen. Aber nicht alle fanden sie Platz; die lehnten draußen an der Hüttenwand oder machten es sich auf dem Erdboden bequem; ihr Schwatzen und Lachen klang als gedämpftes Summen herein.

Die Frauen hatten sich zu der feierlichen Gelegenheit gesäubert und geputzt, auch die meisten Männer; etliche aber kamen geradeswegs von der Arbeit, – mit staubigen und verschwitzten Gesichtern.

»Jetzt müßt ihr still sein, guten Leute, – jetzt fangen wir an!« Er erhob die Stimme: »Und die draußen sind, müssen sich ganz ruhig verhalten!«

Lautlose Stille trat ein in dem vollgepackten Raum; das Atmen stieg und sank in ruhigem Wellenschlag; wie das Raunen eines fernen Meeres ließ es sich vernehmen.

Der Pastor verlas das Kirchengebet, gab an, welches Lied sie gemeinsam singen wollten, und sang selber vor; die Klangwogen kamen nachgespült – die eine jetzt, die andere hinterher; nachdem aber der erste Vers gesungen war, hallte die Stube in kräftigem Chorgesang. Dann kam die Liturgie. Und es wurde überhaupt daraus ein richtiger Gottesdienst, gerade wie in der Kirche daheim!

Als es allmählich recht warm wurde, zogen sich die Männer verstohlen die Jacken aus.

Der Pastor predigte über den Einzug der Kinder Israel in das Land Kanaan; er erinnerte an die Gefahren, die sie überstehen mußten, an die vielen Kämpfe; er erinnerte an das, was ihnen verheißen worden war, wofern sie dem Stamm ihrer Väter Treue hielten, und an die Gebote, die ihnen der Herr zur Richtschnur gegeben. Darauf malte er Israels Geschichte in kräftigen Strichen. Zuerst das Schicksal der zehn Stämme: sie wurden in die Gefangenschaft geführt und vergingen wie Morgentau auf der Widde. Keine Spur, kein Merkzeichen, nicht einmal ein alter Name deutet an, wo sie verblieben. Sei es nicht seltsam, daß ein ganzes Volk sich so spurlos verlieren könne? – Wie anders aber mit dem Volk der zwei Stämme! Auch das wurde gefesselt und in die Sklaverei geschleppt; aber es fühlte sich seiner Herkunft in unabänderlicher Treue verbunden, und Jahwe, der sie sich großgezogen, vergalt ihnen Treue um Treue. Und sie kehrten zurück und errichteten Zions Mauern in neuer Schönheit, – und aus ihrem Schoße erwuchs der Erlöser!

Und jetzt wandte der Pastor das Bild auf seine Zuhörer an: Auch sie seien in ein Kanaan eingewandert; aus dem uralten Wohnsitz ihres Stammes seien sie über das weite Meer in ein fremdes Land gezogen; hier sollten sie von neuem verwurzeln, und ihre Geschlechter in unabsehbare Zeiten hineinwachsen. Wohl hätten sie nicht gegen feindliche Stämme zu kämpfen, aber in anderer Form ständen auch ihnen Kämpfe bevor; denn die Mächte der Finsternis rasteten nimmer: Hier gebe es beschwerliche Reisen zur Stadt; rohes Heidentum umdrohe sie. Und auch der Reichtum halte hier wohl bald seinen Einzug! Die unendlichen Widden lägen vor ihnen in üppiger Fruchtbarkeit, aber auch voll der tiefen Schwermut, die in einem landfremden Gemüt so wunderliche Fäden spinne, zumal bei denen, die der Herr mit einem schweren Sinn begabt hat. Das Fremde, das Kalte, die machtvolle Einsamkeit der riesenhaften Widde, das alles zu bekämpfen, könne auch dem mutigsten Herzen blutsauer fallen.

Der Pastor legte ihnen seine Gedanken dar, wuchs vor ihnen an Größe und Kraft, je mehr er ihnen offenbarte, was sie im geheimen oft gefühlt. Als er aber zu guter Letzt auch noch die Heuschrecken anführte, da vermochte Tönset'n sich nicht länger zu zügeln; er mußte jetzt seinen Beifall auf irgendeine Weise durchaus zu erkennen geben: schob also mit kräftiger Faust den Rücken des vor ihm Stehenden zurück und spuckte gewaltig aus; schaute sich sodann mit Siegermiene um, als frage er: ›Hab ich's euch nicht gesagt: der ist ein ganz unvergleichlicher Pastor!‹

Aber jetzt kam der Pastor auf die Zukunft zu sprechen, und da hatte Tönset'n für nichts anderes mehr Auge und Ohr.

Verständen sie auch zur Genüge, welche Aufgabe der Herr ihnen mit diesem Lande gestellt habe? Und dankten sie ihm dafür? – Der Pastor sprach mit großer Würde. – Wie wollten sie die grenzenlose Freiheit, die der Herr in seiner Gnade ihnen geschenkt, anwenden? Sie wollten ein neues Reich errichten, – selbst den Grund dazu legen, selbst alles zimmern von Anbeginn an; – waren sie sich der Größe der Aufgabe, die auf ihren Schultern ruhte, und ihrer herrlichen Verantwortung auch bewußt? Der Herr habe ihnen damit eine Möglichkeit gegeben, zu der die Weltgeschichte kein Gegenstück kenne; wahrhaft werde es sich nunmehr erweisen, ob sie von guter Herkunft seien, ob freier Männer Kinder oder zu Sklaven geboren. – Und seien sie dessen nicht froh? – Zwar hätten sie weder eine Gefangenschaft noch ein Sklavenleben im alten Lande hinter sich gelassen – und auch dessen sollten sie dankbarlich gedenken; hier aber ständen sie vor der größten Aufgabe, die Gott der Herr jemals einem Volke gestellt!

Die Rede wurde immer wärmer und farbiger.

»Eine Ähnlichkeit aber zwischen euch und den Kindern Israel ist überzeugend: das Reich, das ihr jetzt gründet, wird ein Werk der Hoffnung werden, und den kommenden Geschlechtern nur in solchem Ausmaß zum Segen gereichen, wie ihr selber in Treuen haltet, was euch in der Kindheit die Altvordern eingeprägt haben. – Denn einen andern Grund kann niemand legen! Und wozu sonst sollen die Menschen wohl ihre Zuflucht nehmen? – Und heute stelle ich, ein geringer Sendbote, euch vor die Frage: wollt ihr handeln wie das Volk der zehn Stämme oder tun wie jene beiden Stämme und dafür niemals ausgelöscht werden, solange Menschen auf Erden leben?«

Der Pastor sprach, ohne die Stimme zu erheben; aber es lag in seinen Worten eine unwiderstehliche Innerlichkeit; seine Augen leuchteten; die Wangen glühten; das jugendlich Kindliche war reife Männlichkeit geworden.

Die Leute hingen ihm am Munde, wenn auch nur wenige die Gedankenleiter, die er vor ihnen aufstellte, erklommen. Sie hörten, er predigte gut, und das genügte ihnen; sie waren von Herzen froh, daß dieser Mann heute vor ihnen stand; und sie fühlten sein ehrliches Wohlwollen. Und alles war so artig und unterhaltsam, und Leben und Betriebsamkeit stand in Aussicht: Der eine dachte daran, daß hier jetzt eine Kirchengemeinde gestiftet werden müsse, ein anderer an den passendsten Ort für die Kirche, ein dritter an den Kirchhof, wo der wohl am besten anzulegen sei; auch behördliche Leute aller Art müßten sie haben – o, sie wollten ihm schon beweisen, daß sie von redlichem Volk abstammten und sich selber zu regieren verständen! – In Tönset'n jedoch erhoben sich ernste Erwägungen betreffs eines wichtigen Punktes, eines ungemein wichtigen Punktes, und er grübelte darüber nach, wie er sich wohl betreffs dieses Punktes der Hilfe des Pastors vergewissern könne: Wenn sie nämlich jetzt die Kirchengemeinde organisierten, müßten sie natürlich auch einen Küster einsetzen! Wenn er andrerseits aber nun imstande gewesen war, ein Paar so zusammenzuschweißen, daß es nicht wieder aus dem Leim ging, dann glaubte er wohl annehmen zu dürfen, daß er auch befähigt sei, einen ordentlichen Küster abzugeben. – Abwarten!

Im hintersten Herdwinkel saß eine Frau mit einem blassen feingeschnittenen Gesicht, gut versteckt hinter den Köpfen und Rücken der Zuhörer. Als der Pastor zu reden begann, hatte sie sich vorgebeugt, bis sie ihn durch eine Lücke zwischen zwei Köpfen zu sehen bekam. Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte sie der Predigt, – anfänglich erstaunt, froh überrascht, darauf ungläubig und zweifelnd. Das Gesicht verschloß sich immer mehr, es bekam etwas Lauerndes; die Lippen formten sich zu Widerspruch, als wollten sie ausdrücken: ›Das darf nicht geschehen! Der betrügt uns – führt uns dahin, wo wir nicht gedeihen können.‹ – Der Mann neben ihr hielt auf dem Schoß ein schönes, blondes Büblein; das hatte feurige blaue Augen; die wanderten umher und lachten schelmisch, wenn sie anderen begegneten; aber bei der einschläfernden Wärme schlossen sie sich bald. – Von Zeit zu Zeit legte der Mann begütigend der Frau die Hand auf die Schulter, als wolle er sie beruhigen; dann lächelte sie zuversichtlicher; sie hatte nicht Zeit, ihn anzusehen, aber das Lächeln besagte: ›Sei unbesorgt, du, der soll mich nicht narren, – denn ich durchschaue ihn – den durchtriebenen Gesellen!‹ –

Als das Lied nach der Predigt gesungen war, sagte der Pastor:

»Jetzt rate ich, daß die, die bisher gesessen haben und sich kräftig genug fühlen zu stehen, mit denen, die bisher gestanden, den Platz wechseln; so erleichtern wir einander gegenseitig unsere Bürde! Laßt es aber mit Ordnung und Anstand geschehen.

Wir wollen jetzt die heilige Taufe vornehmen; ich wünsche dringend, daß alle ihr Erwachsenen dabei zugegen seid und euch dabei eures eigenen heiligen Paktes mit dem Herrn erinnert. – Bringt zunächst die noch nicht getauften Kinder heran; später kommen dann alle, die eine Nottaufe empfangen haben.«

Unruhe und Stimmengewirr waren trotz der Mahnung des Pastors nicht zu vermeiden; man stand auf, sprach leise und schob sich zwischen Rücken durch hinaus; wer die Zeit über draußen gewesen, drängte hinein, denn jetzt wollten sie von der Person des Mannes einen Eindruck haben, nachdem sie bisher bloß seine Stimme gehört hatten. – Sörine brachte Wasser in einer irdenen Schüssel, setzte sie auf den Tisch und legte ein reines Handtuch daneben. Die Täuflinge wurden denen, die sie zur Taufe tragen sollten, auf die Arme gelegt, die Paten standen auf und hielten suchend Umschau. Das Gedränge nahm zu, mehrere mußten hinausgehen.

Nach und nach aber trat doch wieder Stille ein; die Taufhandlung konnte beginnen.

Den Taufchoral wußten die meisten Erwachsenen auswendig, und trotz der drückenden und stickigen Luft in der Gamme erscholl das Lied voller Kraft. – Vierzehn Kinder waren noch nicht getauft; das jüngste erst drei Wochen alt – ein winziges Wichtlein, das süß in der Mutter Armen schlief, – ein Dirnlein schien es zu sein; das älteste vierjährig, – ein kräftiger, dicker, braunhaariger, hungriger Schlingel, der zur allgemeinen Erheiterung laut schwätzte und durchaus herunter und zur Mutter wollte. Die Taufhandlung ging jedoch ruhig und würdig vor sich. Die von Tönset'n getraute Jossie kam zuletzt an die Reihe, mit allen drei quecksilbrigen Gören. Mit sozusagen väterlichem Stolz ließ der Syvert die Augen auf ihr ruhen und faltete andächtig die Hände, als sie mit dem Kleinsten auf dem Arm vortrat.

Zuletzt kamen drei Kinder, die aus Laienhänden die Nottaufe empfangen hatten, an die Reihe. Die Sörine trat zuerst vor und trug das Kind, das sie selbst zur Welt geholt, zum zweiten Male zur Taufe. Der Bub war auf dem Arm der Patin aufgewacht und richtete zwei blitzende blaue Augen auf den Pastor; laut auflachend fragte er die Patin, was denn das für einer sei mit Bart und langem schwarzem Weiberrock. Die Sörine versuchte ihn zum Schweigen zu bringen. »Der hat ja keine Hosen an!« lachte der Schelm und versteckte sich an ihren Hals. Die in der Nähe Sitzenden mußten sich vorbeugen, um ihre Heiterkeit schicklich zu verbergen.

Als jedoch der Pastor nach des Kindes Namen fragte, die Sörine ihn angab und er laut und deutlich wiederholte: »Peder Sieg, sagtest du?« – da geschah etwas. Aus dem blassen Gesicht hinter dem Herd kam gequältes Stöhnen; die Beret erhob sich, preßte sich gewaltsam durch die Menge, die scheu vor ihr zur Seite wich und sich hinter ihr sogleich wieder schloß. Der Per Hansen wollte ihr eilig nach, konnte sich aber nur mit Mühe durch die Schar zwängen, die sich jetzt vor ihm zusammendrängte, um besser sehen zu können.

Ihre Stimme gellte durch den Raum: »Diese Missetat darf nicht geschehen!« Sie war bereits halbwegs zum Altar; einige versperrten ihr den Weg, andere versuchten sie zu beschwichtigen. »0 laßt mich!« schrie sie. »Diese Sünde darf nicht zugegeben werden, – denn welcher Mensch könnte hier siegen, wo der Gottseibeiuns uns alle samt und sonders holt! – Habt ihr denn alle miteinander keinen Sinn und Verstand mehr!« – Die schneidenden, angstbebenden Worte durchfuhren sie alle mit Grauen; die Männer erhoben sich ratlos; die Weiber verbargen schluchzend ihr Gesicht, die Kinder verkrochen sich; ein Mägdlein auf einem der Betten kreischte entsetzt auf; in der Tür drängten sich Gesichter, die sehen wollten, was es gäbe.

Der Pastor unterbrach die Taufhandlung.

»Bring deine Frau hinaus, Peder Holm! Die Luft hier drin ist für einen kranken Menschen zu stickig, – ich spreche später mit ihr – und ihr andern behaltet eure Ruhe!«

Es dauerte lange, bis die Bewegung sich legte.

Der Per Hansen hatte sich jetzt endlich bis zur Beret durchgezwängt und trug sie auf seinen Armen hinaus; nur mühsam bahnte er sich Weg, während die Beret wie rasend um sich schlug und sich losreißen wollte; der Mund schäumte ihr. »Des Teufels Werk!« murmelte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Jetzt holt er mir mein Knäblein! – Herr hilf uns, wir verderben!« –

Der Gottesdienst währte noch geraume Zeit. Am Schluß kündete der Pastor an, daß er Sonntag in zwei Wochen wieder Kirche zu halten gedenke; dann wolle er zugleich das Abendmahl reichen. »Wir fangen pünktlich um 11 Uhr hier im Hause an.« – Er machte eine Pause und ließ den Blick über die Zuhörer gleiten, und ein müdes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, – er senkte die Stimme: »Und dann wäre es nicht abwegig, wenn ihr Männer euch zuvor ein wenig säubertet; vor dem Herrgott macht es wohl kaum einen Unterschied, ihr selbst aber werdet dann mehr Feierstimmung in euch spüren!«


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