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VI

Die Zeit wurde den Buben lang in des Vaters Abwesenheit. Dem Ole war es bald leid am Holzklotz zu stehen, wenn der Bruder nicht daneben stand; er machte sich oft in der Hütte zu schaffen, um nach Zeitvertreib zu suchen. Mit dem Großen-Hans war es kaum besser bestellt; er hatte sich zwar dadurch, daß der Vater ihm ein sonderbares Geheimnis anvertraut hatte, sehr gehoben gefühlt, aber dieses Geheimnis war nicht sonderbar genug, um nicht bei dem Gedanken an die Enten in den westlichen Sümpfen gänzlich zu verblassen. Der Vater brachte bestimmt aus der Stadt etwas für die Enten mit, und eigentlich müßten der Bruder und er jetzt nachschauen gehen. Und die Iren waren jetzt abgefahren; da standen nun ihre Gammen leer; ob es da nicht Merkwürdiges gab ? – – Und mit der Mutter ließ sich jetzt gar zu schlecht plaudern. Wenn er mit ihr sprach, konnte sie plötzlich wie abwesend sein, bloß noch ›ha‹ und ›ja‹ antworten. Das kam gewiß von dem Seltsamen, das ihr bevorstand und woran sie so sehr denken müsse, meinte der Große-Hans. Er ließ jedoch des Vaters Auftrag nicht außer acht, ging ungern hinaus, trotz der Langeweile in der Hütte.

Ein paar Tage nach der Abreise der Stadtfahrer schickte sie den Großen-Hans zur Kjersti nach einer Stopfnadel; die ihre hatte sie so gut aufgehoben, daß sie sie nicht wiederfinden konnte. Der Ole bastelte in der Stube an einer Schleuder, die er sich ausgedacht hatte.

Plötzlich kam der Hans mit der Stopfnadel hereingestürmt. Keuchend berichtete er, daß Tönset'n ein gewaltiges Tier getötet habe; es sei fürchterlich groß, fast wie ein Bär, – ja Tönset'n habe also gesagt, es sei ein Bär. Die Kjersti habe ihn einen Eimer holen heißen, dann bekämen sie heut zum Abend frisches Fleisch.

Beide Buben bettelten und greinten, sich das Tier ansehen zu dürfen; die Mutter ließ sich nicht weiter über den Fall aus, gab ihnen einen Kübel mit, und sie sollten bald wiederkommen.

Als die Buben den Abhang heruntergerannt kamen, war die Kjersti gerade dabei, den Körper zu zerlegen; Tönset'n bemühte sich, das Fell an der Stalltür aufzuspannen; er hatte Nägel im Mund, blutige Hände und bot einen grauslichen Anblick.

»Was hast du da ergattert?« fragte der Ole.

»Einen Bären, Bub!« nickte Tönset'n, nahm die Nägel aus dem Mund und spuckte braun.

»Ho! einen Bären!« schnob der Ole verächtlich.

»Etwa nicht, Gevatter? – O ja, alles vorhanden, was dazu gehört!« Tönset'n äußerte sich so entschieden, daß man ihm nicht mehr gut widersprechen konnte.

»Wo überraschtest du ihn denn?« fragte der Große-Hans.

»Etwas westlich von den Iren. – Waren übrigens zwei; hatten sich zum Winterschlaf eingegraben; das hier ist also das Junge, die Alte riß aus.«

»Du hast ja aber gar keine Flinte« wandte der Ole ein.

»Da hab' ich doch aber, was weit besser ist! Ich nahm halt die Eisenstange!« Tönset'n spuckte gewaltig und guckte die Buben bedeutsam an. »Ich zerkrachte ihm einfach den Kopf! – Mit der Eisenstange hier gehe ich gern auf jeden Tiger und jedes Nashorn los!«

»Was wurde denn aus der Alten?« fragte der Ole; Tönset'ns Begeisterung begann anzustecken.

»Sie jagte nach Norden über die Prärie. Kommt jetzt, nehmt ein paar Bissen mit heim, – das gibt eine leckere Suppe. Es gibt nichts Feineres als Bärenfleisch!«

Die Buben kamen mit und die Kjersti teilte zu. Es mußte ein gewaltiger Körper gewesen sein; da lag ein mächtiger Haufen Fleisch. »Ist das wirklich Bärenfleisch?« fragte der Ole sie, jetzt zwar etwas schüchterner.

»Da ist ordentlich was dran!« meinte die Kjersti. »Zeig deinen Kübel her: die Beret hat eine tüchtige Stärkung nötig.

– Gebt auch der Sörine im Vorbeigehen ein wenig ab.« Die Buben brauchten lange für den Heimweg. Immer wieder mußten sie den Kübel hinsetzen, um sich zu wundern, daß hier Bären in der Nähe herumstrichen. Dann waren doch sicher Tiger und Löwen und anderes Merkwürdige auch nicht weit ab! Sie bebten vor Entzücken!

Endlich gelangten sie zur Sörine, wo sie sich wieder lange aufhielten, denn es mußte selbstredend umständlich von dem Meisterstreich, den Tönset'n heute geführt, Bericht erstattet werden.

Und als sie schließlich aufbrachen, kam die Sofie mit hinaus, um zu beobachten, ob sie sich nicht fürchteten. Da mußten die Buben halt wieder verweilen, um vor ihr auszumalen, wie sie jetzt die Lange Marie holen und Mutter Bär selber aufpirschen wollten. – »Und bange sei ihnen gar nicht?« fragte die Sofie. – »Bange? Pö! Bewahre!« rief der Große-Hans. »Bange sind überhaupt bloß Mädel und alte Weiber,« meinte der Ole. – Da lachte die Sofie sie gewaltig aus; und jetzt spreizten sie sich und versuchten zu spucken wie Tönset'n; aber braun wurde es nicht. –

Die Mutter bekam es schon mit der Angst. Sie ging vor die Tür und sah nach ihnen aus. Als die Buben endlich heimgelangten, waren sie so von ihren Erlebnissen besessen, daß sie sich ganz unbändig anstellten, und das machte die Mutter nur noch besorgter. Sie packte sie fest bei der Schulter und schüttelte sie. Auf der Stelle sollten sie sich hinter ihre Bücher setzen! Draußen gebe es heute nichts mehr herumzulungern.

Das war doch nicht auszuhalten! Der Ole fing an, mit der Mutter zu rechten, und sein Gesicht blitzte sie förmlich an: begreife sie denn gar nicht, ein wirklicher Bär laufe auf der Prärie herum; ein Riesenbär also! Und – und – der Vater sei nicht daheim, aber die Flinte stehe geladen und bereit; für alles übrige würden schon er und der Große-Hans sorgen! In einer Stunde sei der Bär erlegt, – der Große-Hans glaube sogar zu wissen, wo seine Höhle sei. Mitten in die Schläfe solle er's kriegen!

Die Buben tobten wie ein Unwetter. Die Mutter mußte sie mit Gewalt zur Tür hineindrängen.

In der Stube blickten sie sich um wie wütende Stierkälber. Erst nachdem die Mutter sie wiederholt ermahnt hatte, suchten sie die Bücher. Aber schließlich hatte der Ole doch den Katechismus gefunden und der Bruder die Biblische Geschichte. Sie setzten sich an den Tisch vorm Fenster und wollten lernen.

Aber auch dort ging alles verkehrt; sie gerieten sich in die Haare, weil sie beide denselben Platz am Fenster haben wollten. Eine arge Rauferei entstand. Der Ole war stärker, der Bruder behender. Der Ole glaubte, er sei als der ältere in des Vaters Abwesenheit selbstverständlich der Herr im Hause und dürfe sich allerlei bezähmen: er warf jetzt mit Redensarten um sich, die er von den Erwachsenen aufgeschnappt, wenn denen die Arbeit nicht nach Wunsch von der Hand ging. Kaum hörte das der Große-Hans, so wollte er nicht zurückstehen – getraute sich's der Ole, getraute er sich's noch allemal; er kannte diese Redensarten auch und obendrein noch viel bessere! – Der Tisch stürzte fast um; die Bücher flogen auf die Erde und litten Schaden. Das Gössel sah ihr Treiben, bekam's mit der Angst und heulte laut auf.

Beim Herde wusch die Mutter das Fleisch, legte es in den Kessel und setzte es über. Sie vernahm alles, machte ihre Arbeit, ohne ein Wort zu sagen; aber das Gesicht wurde noch grauer.

Sobald sie jedoch fertig war, fuhr sie hinaus und kam mit einer Weidengerte wieder. Und jetzt ging sie strenge vor, schlug, wo es hintraf, ohne Aufhören, ohne ein Wort zu sagen. Die Gerte sauste und traf und verursachte Schmerzensgewimmer. – Die Buben ließen das Raufen, sahen die Mutter entsetzt an, – sie hatte doch noch niemals Hand an sie gelegt! – Und wie seltsam jetzt ihre Augen blickten?

Sie stürzten sich über die am Boden liegenden Bücher, während die Prügel niederhagelten. Das Gössel stand in der Mitte der Stube und brüllte vor Entsetzen.

Erst als die Mutter versehentlich die Tischkante traf und die Gerte zerknickte, hielt sie inne und schien zur Besinnung zu kommen. Sie ging zur Hütte hinaus, ohne auf das Kind zu achten, blieb lange draußen; als sie wieder hereinkam, brachte sie einen Arm voll Holz mit, ging zum Herd damit und heizte ein. Hob dann das Gössel auf und legte sich mit ihm aufs Bett. – Die Buben saßen am Tisch und lernten; keiner hob den Blick vom Buch.

Unendlich still war's jetzt in der Hütte. Der Ole stopfte sich die Finger in die Ohren, um die Stille nicht zu hören, der Bruder begann laut zu lesen. Schlimm nagte die Reue am Ole, aber noch böser am Großen-Hans; er erinnerte sich jetzt deutlich dessen, was der Vater ihm anvertraut und was er selber versprochen hatte, und da war er fast den ganzen Tag weggewesen! Er fühlte am ganzen Körper brennende Hitze. – – Er hatte im Buch die Auserwählung der zwölf Jünger aufgeschlagen; aber die paßte jetzt nicht! – Er blätterte, bis er an Samson kam, las ein wenig davon und später von David und Goliath; und dann nahm er die Abschnitte von Joseph und seinen Brüdern vor. Da wurde ihm leichter ums Herz, – denn gerade so ein Bub wie der Joseph wollte auch er einst werden!

Der Ole schämte sich gewaltig, als er die Mutter mit dem Holz hereinkommen sah; obwohl – war das etwa seine Sache? Der Bruder sollte ja doch die Magd spielen. Und dann wurde er wütend: diesmal also war's dem Großen-Hans seine Schuld.

Klar! Hätte der ihm den Platz nicht überlassen können? – – Er rackerte sich aber doch brav durch den dritten Artikel durch, den er übrigens schon recht ordentlich konnte. – Als seine Entrüstung sich gedämpft hatte, gab er sich daran, zu überdenken, wie fürchterlich Tönset'n sie beide doch zum Narren gemacht – der und einen Bären totschlagen! Ein elender alter Dachs war das. Und jetzt schmorte diese Schweinerei dahinten auf dem Herd, – sollte ihr Abendessen vorstellen! Und die Mutter so zornig, daß es nicht anging, ihr's zu sagen! – Und vor ihm ochste der Bruder und jappte und zog durch die Nase hoch; ein jeder könnt' sehen, daß aus dem nie und nimmer ein Mann wurd'. – – Der Ole schlug das Buch zu und ging hinaus zum Holzhacken. Er wagte nicht, zum Bett hinzuschauen.

Der Große-Hans saß über seinem Buch, bis es dunkel geworden war und er die Buchstaben nicht mehr unterscheiden konnte. Er wagte jetzt ab und zu aufzublicken. Die Mutter lag noch immer mit abgekehrtem Gesicht; und das Gössel lag schlummernd hoch oben auf dem Kissen. – – Der Bub stand lautlos auf, sah sich um, nahm einen leeren Wasserzuber und ging nach Wasser. Draußen setzte er ihn neben die Tür und ließ Buntscheck, Indi und die beiden Ochsen in den Stall und band sie fest. Er ranzte sie heute abend tüchtig an: Die Mutter sollte hören, daß er die Wirtschaft zuverlässig besorgte! – Als er endlich mit dem Wasserzuber hineinkam, war die Mutter aufgestanden; er konnte nichts Außergewöhnliches an ihr bemerken.

Nein, diesmal hatte sie wohl nicht geweint? Der Große-Hans war darüber so erfreut, daß er sogleich zum Bruder hinausmußte; der betätigte sich beim Hauklotz so eifrig, daß ihm der Schweiß troff. Die Buben blieben draußen bis zur Dunkelheit; sie schwätzten eifrig – von allen erdenklichen Dingen. Aber was ihnen am meisten das Herz bedrückte – das Gesicht der Mutter, als sie sie prügelte – das brachten sie nicht fertig zu erwähnen.

In der Stube brannte die Lampe. Das Gössel krabbelte wieder beruhigt mit seinen Siebensachen auf dem Boden herum. Beide Buben kamen still hereingeschlichen und setzten sich hinter die Bücher. Aber es wurde nichts Rechtes mit dem Lernen. – – Endlich war ›das‹ fertig, was auf dem Herd schmorte; die Mutter deckte auf; die Buben setzten sich an den Tisch – der Ole zaudernd. »Schling jetzt bloß das Trollfutter runter!« tuschelte er dem Bruder zu und schnitt eine Fratze. – Der Große-Hans stocherte mit seinem Löffel in einer der Tischritzen; sie waren groß, die Ritzen; er konnte das Auge darauf legen und weit über den Boden sehen. Der Lehmboden war in dem matten Lampenlicht so sonderbar braun; die Ritzen legten Streifen darüber; das war hübsch anzusehen, und der Große-Hans fand, es müsse artig sein, wenn der Fußboden auch bei Tageslicht so aussehen würde.

Die Mutter schöpfte aus dem Kessel in die große Schüssel und setzte sie auf den Tisch; sie war voller Suppe, Kartoffeln und Möhren, und unten lagen die Fleischstücke. Es sah lecker aus; aber die Buben beeilten sich trotzdem durchaus nicht mit dem Zulangen. Jetzt setzten sich die Mutter und das Gössel dazu; das Kind freute sich so sehr auf das schöne Essen, daß es sich mit dem Tischgebet möglichst beeilte.

Die Mutter und das Kind fingen sogleich an zu löffeln, und da konnten die Buben nicht länger dabeisitzen. Der Große-Hans nahm einen Löffel Suppe, pustete, schloß die Augen und ließ es hinuntergleiten. – Der Ole nahm einen, hustete gleich, als habe er sich verschluckt, bückte sich unter den Tisch und spuckte wieder aus. Die Mutter fragte leise, wie es ihnen schmecke. Da konnte der Ole sich nicht länger halten; er sah die Mutter flehend an und sagte mit tränenerstickter Stimme:

»Ich mein', es schmeckt nach Hund.« Und damit tat er den Löffel weg.

Der Große-Hans fand es recht häßlich, daß der Ole so von dem Essen spreche, das die Mutter für sie hergerichtet hatte, und goß Löffel auf Löffel in sich hinein; aber er schwitzte.

»Ich habe nun so viele Male sagen hören,« meinte die Mutter ruhig, »daß Bärenfleisch gut schmecke; – die Suppe hat Beigeschmack, merke ich, aber sie geht an; wir müssen halt das Fleisch beiseite tun.«

»Das ist ja gar nicht Bärenfleisch!« rief der Ole verzweifelt.

»Was sagst du da?« Die Mutter ließ erschreckt den Löffel sinken.

»Nein, – ein alter verlauster Dachs ist das, – der Vater hat oft gesagt, der sei nicht eßbar!«

»Ja, und es ist alles wahr!« fiel der Große-Hans ängstlich ein und quetschte seinen Löffel in eine Tischritze. »Ich hab's an dem Schwanzende gesehen, – der Syvert hatte es nicht abgeschnitten. – Und jetzt wird mir übel!«

Die Beret erhob sich zitternd, nahm die Schüssel und ging damit hinaus, trug sie weit ins Dunkel hinein und schüttete den Inhalt weg; das Gössel tappelte weinend hinterher. Die Buben warfen sich derweil über den Tisch vorwurfsvolle Blicke zu: »Hättest du's Maul nicht halten können?«

Die Mutter kam wieder herein, setzte den Kessel übers Feuer und scheuerte ihn gründlich. Dann kochte sie ihnen einen Brei; aber als der glücklich fertig war, konnte sie selber nichts genießen.

Diese Nacht verhängte sie das Fenster noch dichter als gestern. – Sie saß noch lange auf, konnte sich gleichsam nicht legen.


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