Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Ein Museumsstück

Die dreimal vierundzwanzig Stunden zwischen Sterben und Begraben flechten sich für die Hinterbliebenen dornig zusammen, mühsame Schmerzenstage, zähe, bleiern.

Unausdenkbar drückend aber wird ihre Last für den Leiter der Veranstaltungen, wenn die Hauptperson, der Verblichene, vorzeitig abhanden gekommen ist. Ganz unsagbar drohend jedoch wölken sich die Konflikte über des Veranstalters Haupt, wenn ihm zu alledem auch noch einige der unerläßlichen Papiere fehlen, die das Gotteskind auf Erden bekanntlich erst zum Menschen machen oder aber von diesem Ehrentitel befreien: Geburts- und Totenschein.

Zum Glück hatte Monich wenigstens die eidesstattlichen Erklärungen dreier achtbarer Einwohner anzuführen. Frau Mimi Langloff, Frau Wissel und Herr Kellert hatten Kortüm in totem Zustand daliegen sehen, und die Doktorsfrau, geübt in dem, was man als Erste Hilfe bezeichnet, war der Frage sogar noch näher getreten. Doktor Langloff konnte nicht anders als Kenntnis nehmen von Monichs Feststellung, daß seine Gattin weder Puls und Herzschlag noch Atembewegungen bei dem Dahingegangenen wahrzunehmen vermocht hatte. Achselzuckend mußte der Doktor zugeben, daß solche Zustände todhafter Ohnmacht denkbar sind, daß jedoch Kortüms Leiden an sich nicht ohne weiteres in Zusammenhang mit einem solchen Anfall zu bringen sei. Die ärztliche Untersuchung fehle eben. Um einigermaßen klar zu sehen, müßte man wissen, welche Umstände unmittelbar vor dem angeblichen Hinscheiden des Kranken gewaltet hätten.

720 Ja, wo war der einzige Zeuge? Stannebein war doch ebenfalls unauffindbar! Und niemand sonst hatte im Augenblick der Katastrophe an Kortüms Lager geweilt. Die Behörden taten das ihrige – Monich das seinige.

Das erste, was er mit Beginn des neuen Jammertages zu tun hatte, war die Lektüre des ihm vom Zeitungsjungen selbstverständlich so rasch wie möglich überreichten »Besenröder Anzeigers«. Monich, noch in Unterkleidung, nahm das Blatt durch den Türspalt entgegen und las auf der letzten Seite in würdigen schwarzen Rahmen gefaßt die Anzeige: »Heute verschied unerwartet und nach kurzem Leiden Friedrich Joachim –«

Monich legte das Blatt auf die Flurkommode, ging ins Schlafzimmer, stieg ins Bett und zog die Decke über den Kopf.

Nicht lange war seines Bleibens an diesem Ort des Friedens.

Der Depeschenbote klingelte. Er klingelte beharrlich weiter, bis sich Monichs Türe abermals spaltbreit öffnete: »Eintreffe heute mittag. Arcularius.«

Es muß hier gesagt werden, daß Monich von diesem wohltuenden Beweis der Teilnahme des bekannten Kanzelredners, dem Monich doch selber gestern früh gelegentlich der Vollstreckung des Kortümschen letzten Willens auftragsgemäß das Manuskript der Grabrede gesandt hatte, lediglich mit einem nicht endenwollenden Fluch Kenntnis nahm. Er begann sich anzukleiden. Aber sofort stand wieder das Problem in seiner ganzen Furchtbarkeit vor Monich; sollte er jetzt mit den Beinen in die schwarzen Hosen fahren oder nicht! Er ging eine Weile hin und her. Schließlich murmelte Monich: »Auf jeden Fall is Kortüm weg – also schwarz, verdammig.«

Angemessene Kleidung gibt dem Menschen eine gewisse Haltung. Von oben bis unten schwarz, sah Monich recht stattlich aus. Aber oh, Monich wußte ja eben nicht, ob er angemessen gekleidet war! »Kortüm, Kortüm« . . . . Ja, Kortüm fehlte. In den ganz schwierigen Fällen des Lebens war Herrn Kortüm zuletzt immer etwas eingefallen. Monich stand plötzlich allein im Leben. »Nich einen einzigen Schritt setze ich vor die Bude«, sagte er, verschloß die Haustür und legte Riegel und Kette vor. Sogar die Aufwartefrau mußte umkehren.

Der Plan, ein festes Winterlager zu beziehen, war gut. Durchführen ließ er sich nicht. Als er hinter der Gardine guckte, wer denn schon wieder draußen klingelte, sah er Lotte Wingen stehen und aufgeregt von einem Bein aufs andre treten. Vor der Alleinerbin mußte der 721 Testamentsvollstrecker schon seinen Bau öffnen. In fliegender Hast berichtete Lotte von der Ankunft des Sarges: »So kann er doch nicht da stehn bleiben!«

»Nee. Absolutemang nich.«

»Haben Sie ihn bestellt?«

Monich seufzte. Frauen wie Lotte fragen immer so direkt. Freilich, Monich wußte ja: wegen dieser unbequemen Art, klar zu sehen und klar sehen zu wollen, hatte ihr Kortüm sein Lebenswerk in die Hände gegeben. Monich antwortete zunächst ein wenig ausweichend: »Wie kann denn aber der Kerl, der Hanke, der elendige, auch so prompt liefern!«

Lotte hätte nun einwenden können, daß die Beerdigungsindustrie ihrem Wesen nach auf schlagartige Leistung eingerichtet ist. Nur die Rüstungsindustrie sei ihr an Promptheit annähernd zu vergleichen. Jedoch Lotte erörterte jetzt gar nichts, sondern stellte abermals eine schlichte Frage: »Was soll'n nun werden?«

»Je, Frau Wingen, Sie sind Universalerbin!«

»Um Gottes willen, seien Sie still! Was mit dem Sarg werden soll, frage ich!«

Herr Kortüm war eben nicht da! Wie sollte Monich eine solche Frage beantworten? Kortüm hätte unbedingt gesagt: »Wohin? Haha. In mein Museum, Monich!« Ja, sie hätten ein Nummernschild drangeklebt; Zeit, Ort, Material und Bestimmungszweck auf einem Täfelchen vermerkt, dieses Schild an die Stirnseite der Neuerwerbung genagelt, und im Katalog eine entsprechende Eintragung unter der Abteilung ›Gebrauchsgegenstände und heimischer Kunstfleiß‹ vorgenommen.

Auf diesen angemessensten aller Gedanken kam Monich nicht. »Hanke soll'n wieder abholn«, entschied er.

»Bitte, sagen Sie ihm das aber gleich, Herr Monich. Was sollen die Gäste denken, wenn –«

»Iche? Nee! Auf der Straße laß ich mich heute nich sehn! Na nee! Ich lasse mich jetzt von niemandem ansprechen! Ih, da sollte mich je eher der Deiwel holn. Außerdem kommt nachher der Pastor, der 's Begräbnis macht.«

»Wer, Herr Monich, wer kommt? Wozu??«

»Verflucht nochmal, kann ich'n etwa nausschmeißen?« Monich wurde immer aufgeregter. »Soll ich etwa sagen: ›Herr Superndente, hier is nischt zu begraben. Der Tote is weg. Zu predigen gibt's da nischt. Wir wissen auch nich, wo er is.‹ Nee, nee, Frau Wingen, das muß ich Arculariussen doch erst auseinandersetzen. Ganz sukzessive und 722 sachtemang. Das geht nich, wie Sie sich das denken. Das begreift doch auch 'n Studierter nich gleich.«

»Herr Monich, das mag sein, wie's will. Der Sarg, den Sie bestell haben, muß aus dem Haus. Sie haben das Geschäft mit Hanke gemacht, und Sie müssen Hanken sagen, er soll'n wieder abholen.«

Monich ging zum Fenster, er zog die Gardine glatt, er rückte am Wandspiegel, dann begann er: »Wie wär's denn nu, wenn Sie nur drweile, bloß drweile, wissen Sie? wenn Sie ein Tuch drüber hängen täten? Kein schwarzes, nee, 'n bißchen was Freundliches. Vielleicht eine bunte Vitrasche? Ich habe da 'n paar hübsche neue Muster in meinem Laden, wenn Sie gleich mal rein kommen wollen –«

»Nichts da, Herr Monich. Der Sarg muß fort. Das gibt Gerede, und er vertreibt mir die Gäste.«

Eine Weile beschränkte sich Monich auf die Aneinanderreihung von gemurmelten Flüchen. Dann schwieg er. Nach wieder einiger Zeit murmelte er: »Kortüm, Kortüm . . .« Wie einen Schutzpatron rief er den abgeschiedenen Herrn und Meister des Schottengeländes an. Das schien zu helfen: »Nu weiß'ch was. Passen Sie auf. Wir rücken eine Anzeige in 'n ›Besenröder‹. Sie gehn je vorbei un können den Zettel gleich mitnehmen, Frau Wingen. Deswegen brauche ich doch nich erst hin. Wir schreiben einfach: Sarg, schwarz mit Silberbeschlag – er hat doch Silberbeschlag? Sehn Se! – also mit Silberbeschlag un so gut wie neu, is vorteilhaft abzugeben. Angebote unter –«

»Herr Monich, der Sarg muß heute morgen noch aus dem Haus.«

»Na ja doch!« schrie der verzweifelte Monich jetzt. »Ich gehe je schon! Aber ich werde mir doch wohl erst noch meinen Kaffee kochen können, wo heute die Aufwartefrau nich kommt! Un 'n Bäffchen Brot werde ich doch noch genehmigen können! Oder soll ich etwa mit nüchternem Magen so ein gottverdammigtes Geschäft erledigen?!«

»Gewiß, Herr Monich. Also schön. Und ich danke Ihnen auch vielmals.«

Zur Rücknahme einer gelieferten Begräbnisausstattung war Hanke in seiner bisherigen Praxis noch nicht aufgefordert worden. Er wehrte sich aufs entschiedenste und beklagte sich zugleich bitterlich: »Ich konnte mir's je denken, daß da was passiert, wenn's mit Kortüm zu tun hat! Aber daß einem jemand so kommen kann, wie du mir, Monich – nee nee, geliefert is geliefert.«

Fledermaushaft huschten seit ein paar Stunden die Spukgeschichten 723 durch das Schottengelände. Kortüm hatte unzählige Unwahrscheinlichkeiten ins Land gebracht – Theaterspiel, Film, Maskenfest, einen Sarkophag hatte er in Brand gesetzt, ein Erdbeben in Gang – alles war höchst erstaunlich, jedoch erträglich und auch einträglich gewesen. Aber jetzt, aber jetzt brachte dieser unvergleichliche Gastwirt einen Totentanz in der Besenröder und Esperstedter friedsamem Lande zur Aufführung, einen Totentanz, dem kein Attribut fehlte – – nur, bei Gott, der Tote! Noch wollten die Leute selbstverständlich nicht alles glauben, was da geredet wurde. Es war ja schlechterdings unmöglich! Wir leben doch in einem polizierten Staat; zu seinem Maskenfest war Herr Kortüm zweimal anwesend und zu seinem Begräbnis überhaupt nicht! Alles hat Grenzen!

»Nee«, sagte Hanke, »das wollen wir doch 'nmal sehn, ob sich einer von seinem eigenen Begräbnis drücken kann.«

Bei seinen wohlausgebauten Geschäftsverbindungen hatte er sofort gehört, daß mit dem Verstorbenen auf dem Lohberg nicht alles in Ordnung sei. Hanke war ein Mann der Tat, ein Praktiker des Lebens, ein tüchtiger Mann, der vorwärts kommen wollte. Beim ersten Hauch des Gerüchtes griff er ungesäumt nach Hammer und Meißel und hieb Kortüms Namen in den granitenen Stein: »Nu muß er 'n nehmen, hä.« Von dieser Steinarbeit erwähnte der gewitzte Meister vorderhand noch nichts. »Eins nachm andern«, dachte er, »erst die Sargsache.« Monich erreichte nach schwerer Verhandlung denn auch nicht mehr als Hankes Bereitwilligkeit, den Sarg auf Monichs Kosten wieder abzuholen und im Schaufenster seines Ladens als verkäuflich zur Schau zu stellen. Falls sich ein Käufer finden sollte, würde Hanke an Monich den Erlös auszahlen, abzüglich der Unkosten für Pflege, Aufpolieren sowie der Zinsen. Hanke hatte natürlich angesichts des vorliegenden Objektes einen Sarg feinster Ausführung geschickt, wie man sie sonst nur in großen Städten sieht. Mit Recht prangte dieses sehenswerte Extrastück nun in der Mitte von Hankes Ladenfenster und wurde von allen Vorübergehenden bewundert. Den Kortümsarg nannten ihn die Einwohner. Leider wurde er nie verkauft. Die Leute fürchteten sich vor dieser fürstlich geschmückten Truhe. Von einem guten Sarg muß ja auch verlangt werden, daß er wenigstens keine Geschichte hat. Der Kortümsarg steht heute noch bei Hanke im Schaufenster.

Der Abschluß des Vertrages Monich-Hanke gelang erst kurz vor Mittag. Und noch konnte Kortüms Testamentsvollstrecker nicht ans 724 Essen denken. Arcularius trat ein, reichte Monich beide Hände und sprach: »Gottes Wege sind dunkel.«

»Rabenschwarz«, antwortete Monich, »keine Handbreit Helligkeit um mich armes Luder. Ich kann mir die Augen ausgucken un sehe nich, wo ich hin soll, Herr Superndent. Na, nu nehmen Sie erst einmal Platz« – Monich stieß einen tiefen Seufzer aus – »un fangen wir denn an.«

Äußerlich paßten die beiden Disputanten gut zueinander – feierlich und schwarz von den Stiefeln bis zu den Kragenknöpfen saßen sie einander gegenüber.

Der Pastor zog Kortüms Leichenrede aus der Tasche und begann: »Diese Rede, mein Wertester, ist für einen Laien eine erstaunliche Leistung. Sie ist an sich und als solche ein Dokument von Rang, aber sie enthält Gedankengänge, die auf einem Friedhof und an einem offenen Grabe befremdend anmuten würden. Bitte, lieber Herr Monich, stellen Sie sich vor: hier stehe ich, dort die Trauergemeinde, und da unten in der Grube steht der Sarg –«

»Nee, da steht er nich, verdammig – mit Verlaub gesagt, Herr Superndent. Entschuldigen Sie, daß ich eben ein bißchen fluchte, aber in meinem Kopp geht heute alles durcheinander. Nee, da steht der Sarg eben nich, verdammig. Der steht wieder an seinem Ort. In Hanken seinem Laden nämlich. Un Hanke is 'n Halunke. Un ich habe auf dem Sarg sozusagen eine Hypothek drauf.«

»Setzen wir uns«, antwortete Arcularius erschrocken und bedachte nicht, daß ja beide schon saßen, jeder in einem Plüschsessel. »Wir haben uns wohl mißverstanden.«

»Das is es! Mißverstanden! Sehn Se, die ganze Sache kommt mir seit anderthalb Tagen schon ganz verflucht mißverständlich vor. Passen Sie mal auf, Herr Superndent, das is nämlich alles ganz anders: ich mache also Kortüm seinen Brief mitn letzten Anordnungen auf un fange an anzuordnen. Man denkt doch, tot is tot, un man kauft die Ausstattung un man annonciert un man eröffnet's Testament – un nachher? Un nu? Himmelbomben –«

»Herr Monich!«

»Nischt für ungut. Un nu? Jetzt hörn Sie gut zu, Herr Superndent, jetzt sagen Sie auch ›verdammig noch 'nmal‹ wie unsereiner! Jetzt, hä, jetzt weiß keiner, wo Kortüm is.«

»Ein Christ, Herr Monich, weiß, wo er ist«, sprach Arcularius.

»Na, da bin ich doch neugierig! Da wärn Sie doch der erste! Hä, wo is 'r 'n?«

725 »Diese Frageweise –«

Monich sprang auf und schrie: »Weg is'r! Fort! Verschwunden!«

August Monich berichtete nun den wahren Sachverhalt der Reihe nach, sah Arcularius' Gesicht immer länger, Arcularius' Augen immer größer werden und sammelte entladungsfroh allen Jammer, alle Sorge dieser furchtbaren Tage in einem Schlußsatz, in der entsetzlichen Frage: »Also, Herr Superndent, wo is er? Wissen Sie's? Ich weiß es nich. Lotte weiß es nich. Hanke weiß es nich. Der Doktor weiß es nich. 's Gericht weiß es nich. Die Polizei weiß es nich. Niemand weiß es nich. Aber Sie wissen's vielleicht?«

Oh . . . wahrhaftig! Dieses Problem lag jenseits von Bibel, Koran und Upanischaden. Am ehesten hätte Arcularius vielleicht in den totemistischen Kulturen Anhaltspunkte gefunden. Aber um in diesen entlegenen Quellen zu suchen, war Arcularius viel zu tief in sein Menschentum hinein erschrocken. »Unser Kortüm?« fragte Arcularius nur.

Diese zwei Worte hoben August Monich auch endlich wieder aus dem Straßenstaub.

»Je«, sagte er still vor sich hin und schwieg.

»Wir werden suchen und Licht in die Sache bringen, Herr Monich.«

»Ob wir ihn finden? 's gibt Sachen, Herr Superndent, mit denen is es nich richtig – nischt für ungut, aber ich weiß es: Kortüm hat einmal Bilder gesucht – in Memleben is es gewesen – un die Bilder waren bloß deswegen nich zu finden, weil die Sonne draufschien.«

 


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