Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Schatten

In der Eingangshalle der Kunstakademie vollzog sich seit ein paar Wochen jeden Vormittag um zehn Uhr ein bemerkenswerter Auftritt. Am großen Mittelportal, das wegen des kalten Zugwindes in der schlechten Jahreszeit verschlossen war, erschien Herr Kortüm. Der Pförtner eilte mit dem Schlüssel herbei, öffnete das Portal, Herr Kortüm trat ein, der Pförtner schloß ab, und während Herr Kortüm durch die große Halle wandelte, begab sich der Pförtner wieder auf seinen Posten an der kleinen Tür, durch welche die gewöhnlichen Besucher der Akademie hereingelassen wurden. Nicht jeden, der zufällig gleichzeitig mit Herrn Kortüm Einlaß begehrte, freute diese Anwendung zweier verschiedener Maßstäbe zwischen Türen und Menschen. Als sich jedoch die Ursache dieses Vorganges herumgesprochen hatte, ließ man es trotz der anderslautenden Vorschriften dabei bewenden, denn in dem Bauwerk hausten ja lediglich künstlerisch veranlagte Menschen, denen der Sinn für Proportion bekanntlich eingeboren ist.

Der allererste Eintritt durch das große Portal fiel natürlich auch Herrn Kortüm nicht leicht. An Hand des Stadtplanes ging er vom Gasthof nach der Akademie, wohin ihn Professor Holdermann bestellt hatte. Herr Kortüm wollte sich malen lassen. Seit langen Jahren saß nun dieser Mann aus Hamburg im Thüringer Walde oben und betrieb seine einsame Gastwirtschaft. Die Fahrstraße zum Schottenhaus war nicht besser geworden, die Thüringer Sprache verstand Herr Kortüm immer noch mangelhaft, und der knappe Hamburger Tonfall wiederum kränkte die Thüringer, die sich denn angelegen sein ließen, alle die vielen seltsamen Erlebnisse des Herrn Kortüm unverkürzt und ungemildert weiter zu erzählen. Jene festliche Theateraufführung des Dichters Wingen auf Kortüms Schottenhaus war in gleich frischer Erinnerung wie Herrn Kortüms ungedeckte Zuschüsse – nur des reichlichen eigenen Verdienstes bei diesem Spiel gedachten die Nachbarn nicht mehr ganz so genau. Von Kortüms Museum wußte man dies und das, seine silberne Windfahne glänzte auf dem Dach des Schottenhauses hoch über 198 der Gegend als ein täglich neues Ärgernis in alter Frische, und von Kortüms Erlebnissen in der Gruft von Sankt Marien zu Kranichstedt, wo er mit seinem Freund August Monich einen ehrwürdigen Sarkophag in Brand gesetzt haben sollte, gingen merkwürdige Gerüchte um. Bis auf den jungen Besenröder Schulmeister Klaus Schart, der jetzt leider in Hörsel saß, am anderen Ende Thüringens, wohnten die alten Gefährten Kortüms noch am Fuße des Schottenhügels. Auch seine Freundin, die große Schauspielerin Konstanze Schröter, beehrte das stille Gasthaus von Zeit zu Zeit mit ihrer schönen Gegenwart – kurz, Kortüm lebte, er lebte so kräftig wie je: jetzt hielt er es sogar für angebracht, sein Porträt malen zu lassen.

Der Weg vom Gasthof nach der Akademie war Herrn Kortüm unbekannt, da er bisher wohl mit den theatralischen, nicht aber mit den bildenden Künsten in Berührung geraten war – jenen Sarkophag seines Vorfahren Torstenson abgerechnet. Jetzt lag das ansehnliche Gebäude mit den vielen großen Glasfenstern vor ihm. Herr Kortüm besaß ein natürliches Empfinden für die Gesetze der Architektur: genau wie es der Baumeister der Akademie durch geistvolle Linienführung berechnet hatte, führte dieser Zug der Linien Herrn Kortüm auf die Mitte der ausgedehnten Baulichkeit zu. Er stand vor dem Hauptportal.

Nun kam aber Herr Kortüm vom Lande. Er wußte nicht, daß solche großangelegten Portale und Freitreppen zwar das Auge erquicken, jedoch in der Regel nicht gangbar sind, und daß ein Mann, der wirklich hinter die städtischen Fassaden gelangen will, sich besser gleich ein Schlupfloch an der Rückseite sucht.

An Umwege aber hat Herr Kortüm sein Lebtag nicht gedacht. Er klopfte mit dem Fingerring scharf an die ungeheure geschliffene Glasscheibe des verschlossenen Hauptportals. Der Pförtner wies mit kurzer Handbewegung auf die kleine Nebentür. Herr Kortüm blickte wie gewöhnlich gradeaus, bemerkte weder Wink noch Seiteneingang und klopfte abermals und zwar ein wenig härter. Der Pförtner beschrieb mit beiden Armen eine heftige Kreisbewegung um seinen Oberkörper, doch nur mit dem Erfolg, daß Herr Kortüm ein drittes Mal klopfte. Jetzt duckte sich der Pförtner unter Anspannung aller seiner Muskeln zusammen und beschrieb mit geballten Fäusten diese Kreisbewegung nochmals und derart, daß er sich fast die Ärmel aus der Jacke riß.

»Anders rum!« schrie er dazu.

Die Riesentür war vortrefflich gebaut. Kein Ton drang heraus. Herr Kortüm rührte sich nicht von der Stelle, und der Pförtner wurde 199 bei dem Anblick dieses Herrn nun doch etwas unruhig – sollte der etwa befugt sein, Haupteingänge zu durchschreiten? Fast schien es so. Gelassen stand Herr Kortüm in der Mitte des Portals. Es paßte ihm wie Maßarbeit.

»Man kann nich wissen«, sagte der Pförtner, holte den großen Schlüssel aus dem Tischkasten und öffnete.

Herr Kortüm trat ein, entnahm seiner Brusttasche eine fremdartig lange Zigarre von seinem Äußeren, brannte sie sorgfältig an und fragte, ohne den Pförtner anzusehen: »Herr Professor Holdermann?«

Bereitwillig erhielt er eine genaue Beschreibung des Weges, der ungemein schwierig zu finden war, da er sich durch ein nach rein künstlerischen Gesichtspunkten geschaffenes Bauwerk hinzog, in dem es mehr auf Schönheit als auf Klarheit ankommt.

Der Pförtner sah gedankenvoll dem wehenden Rauchring nach, den Kortüms Zigarre in der Halle hinterlassen hatte: »Wenn jemand nischt sieht, sieht er entweder nischt oder er braucht nischt zu sehn« – in beiden Fällen würde der Pförtner dem Herrn auch weiterhin am Hauptportal behilflich sein müssen, obgleich die Verordnung hinsichtlich des Türengebrauches ihren guten Grund hatte. Wenn der Februarwind bösartig war, entstand ein unerträglicher Gegenzug. Da stand in der Mittelhalle ein Mann, der nichts von Herrn Kortüm, seinem klopfenden Fingerring und seiner Statur wußte. Als das Hauptportal aufging, zog er die Schultern hoch und sagte: »Nanu.« Am Ende des großen Ganges stand ein anderer, der sogleich die Mütze ins Genick rückte, weil er im Gegenzug Nackenschmerzen bekam. Ein dritter, der eben nachdenklich am Treppengeländer lehnte, verließ sogleich diesen unfreundlichen Ort, um seine Beschäftigung an einer geschützteren Stelle fortzusetzen. Dem fünften aber, der dienstlich einen Stoß Zeichnungen auf seinen Armen durch die Halle trug, wehten die Blätter ins Gesicht – kurz, es geschah, daß mit dem jedesmaligen Eintritt des Herrn Kortüm in die Akademie der bildenden Künste ein Windstoß durch das feierlich stille Gebäude fuhr. Nach einer Woche bereits – Holdermann hatte eben die Untermalung des Kortümporträts beendet – sagten die Insassen, wenn die Zeichenblätter wehten, die Türen und Fenster klappten und die auf offenem Gang in Nachdenken oder Zwiesprache Versunkenen ihre Rockkragen hochklappen mußten: »Herr Kortüm kommt.« Wie in Besenroda, in Esperstedt und an anderen Orten, so brachte auch hier Herrn Kortüms bloße Erscheinung, ganz ohne seine Absicht oder Schuld, Gegenzug über ruheliebende Leute. Aber – Herr 200 Kortüm stand vor Holdermanns Maleraugen, und darauf kam es diesen beiden Herren, darauf allein kommt es auch der Nachwelt an, die einst das Bildnis Kortüms von uns Zeitgenossen fordern wird, damit sie zu erkennen vermag, wer wir gewesen sind.

Die Malerei ging nicht völlig glatt vonstatten. Schon vor Beginn der eigentlichen künstlerischen Arbeit waren manche Schwierigkeiten zu überwinden. Herr Kortüm nämlich mußte einen kleinen fahrbaren Sockel besteigen. Holdermann schob dieses Podium im Atelier hin und her, um die beste Beleuchtung ausfindig zu machen. Da Herr Kortüm jedoch nicht schwindelfrei war, beunruhigte ihn diese unerwartete und wendungsreiche Fahrt nach dem Licht. Er hatte nicht bedacht, daß der Mensch auf der Suche nach seiner günstigsten Beleuchtung manchmal ins Schwanken kommt und alle Mühe hat, auf den Beinen zu bleiben.

Endlich war das Licht recht. Holdermann wies auf den geschnitzten Sessel, der auf dem Podium stand, und sagte: »Setzen Sie sich, Herr Kortüm.«

Herr Kortüm sah den Stuhl an, setzte sich, sagte »Nein« und stand wieder auf.

Keine Gründe des Malers konnten ihn zum Hinsetzen bewegen. Schließlich erläuterte er dem ärgerlich werdenden Professor, warum an Setzen nicht zu denken sei: »Im Sitzen, Meister, ist mein Gesichtsausdruck zu verbindlich. Ich weiß das von Lichtbildern. Nur im Notfalle sitze ich. Bedenken Sie, ich stehe einem großen und immer größer werdenden Hauswesen vor. Ganz abgesehen von meinem Freitagstisch, meinem Museum, meiner Quelle und vielem anderen – meine Gaststätte belebt sich dank der Empfehlung der großen Konstanze Schröter, der Schauspielerin, meiner Freundin. Es nimmt sich auf, wohin ich blicke. Ich vergrößere, ich baue: jeder will etwas von mir. Aber ich kann nicht überall zugleich sein. Sehen Sie, Meister, deshalb muß ich mich malen lassen. Das Bildnis kommt in die große Halle, über den Kamin. So ist denn mein Bild anwesend, wenn ich körperlich verhindert bin. Natürlich erfüllt das Bild nur dann seinen Zweck, wenn ich ernste durchdringende und einschüchternde Züge trage. Ich habe anfangs an Plastik gedacht. Aber eine Büste von mir, in Marmor etwa« – Herr Kortüm zuckte die Achseln – »nein nein, Meister, man wirkt in Marmor doch ausgesprochen abwesend. Für mich kommt die Malkunst in Frage.«

Holdermann war bei diesem Vortrag über Sinn und Unterschied der Künste ganz tiefsinnig geworden. Er hatte doch allerlei Erfahrung, 201 aber zum Zwecke der Einschüchterung hatte sich noch niemand bei ihm malen lassen: bei Gott, dachte er, die Kunst ist groß! Ich bin alt und erblicke immer neue sinnreiche Aufgaben und Absichten.

Herr Kortüm aber stellte das rechte Bein vor, stützte die linke Hand auf die Hüfte und nahm in die Rechte eine Papierrolle. Holdermann schüttelte trotz allen Verständnisses für den Zweck des Porträts den Kopf: »So stellt sich vielleicht ein General hin, nach der Schlacht –«

Herr Kortüm legte den Kopf noch etwas mehr zurück und blickte weit über Holdermann weg in die Ferne.

»– oder ein türkischer Großherr«, fügte der Maler ärgerlich hinzu.

Herr Kortüm lächelte: »Meister, malen Sie.«

Das Malen fing so an, wie sich Herr Kortüm diese Arbeit vorgestellt hatte. Der Künstler blickte ihm scharf ins Gesicht oder auf die Hände, die Weste, die Stiefel, musterte auch gelegentlich das Kortümganze und zeichnete alles, was er sah, mit einem Stück Kohle auf die mannshohe Leinwand. In der dritten Sitzung wirkte Holdermann zwar bereits mit Pinseln und Farben, aber die Art des Arbeitens fand nicht den Beifall des Objektes. Wenn Herr Kortüm das Atelier betrat, stand Holdermann bereits vor dem Bild, malte – Herr Kortüm bestieg das Podium, nahm die Papierrolle, sandte seinen Blick ins Weite – Holdermann malte, blieb mit dem Rücken zum Podium stehen, malte, sah Herrn Kortüm mit keinem Blick an, malte . . .

Teufel auch, was malt der Kerl, wenn er mich nicht sieht? fragte sich Herr Kortüm. Er hustete zunächst einmal. Holdermann malte. Herr Kortüm knarrte mit den Stiefeln, wiegte sich auf den quietschenden Podiumbrettern – nichts half.

»Meister –«

Schweigen.

»Meister, ich stehe hier.«

Holdermann hörte auf zu pinseln, fuhr mit zwei Fingern über die Stirn, besann sich. Hat der Mann geschlafen? dachte Kortüm. Aber der Professor legte niedergeschlagen die Palette hin:

»Warum stören Sie mich . . .«

»Ich wollte nur aufmerksam machen: vor der Wand da drüben, die Sie öfter so scharf ins Auge fassen, befinde ich mich gar nicht.«

»Ach, Wand! Drüben! Da! Nicht da!« – Holdermann schlug sich mit der Hand vor den Kopf – »Hier drin ist die Malerei!«

202 Herr Kortüm zog die Augenbrauen hoch und wies auf das Leinwandbildnis: »Ich bin doch erst eine Untermalung.«

»Wenn man sich nach Ihnen richtete, würden Sie Ihr Leben lang eine Untermalung bleiben!« rief der Professor. »Was wissen Sie von meinen Methoden! Sie gehören zu den Objekten mit Neigung zur Verkrampfung. Solche Objekte muß man erst sich windelweich stehen lassen! Wenn Sie beinah umfallen, dann werden Sie natürlich! Die dazu nötige Zeit nutze ich aus, um die geistigen Züge, die ich bei der vorigen Sitzung wahrgenommen habe, aus der die Wahrnehmungen läuternden Erinnerung zu malen!«

»Ah«, sagte Herr Kortüm. Daß er erst in halbtotem Zustande natürlich sein sollte, das kränkte ihn. Daß er sich aber nach wenigen Sitzungen bereits in die Erinnerung eines namhaften Meisters eingeprägt hatte, das wiederum behagte ihm. Er gab sich denn auch alle Mühe, recht wirkungsvoll dazustehen, und Holdermann konnte von vorn anfangen, Herrn Kortüm zu ermüden. Er versuchte es mit Gesprächen und ging, was er sonst beim Malen hartnäckig vermied, auf die Gedanken seines Objektes ein.

»Meister, mir scheint, das Bild wird etwas dunkel.«

»Ich bin jetzt bei der Anlage der Schatten.«

»Bringen Sie nicht sehr viel Schatten in mein Bild? Leute, die mich kennen, sagen –«

Holdermann unterbrach ihn kurz: »In jedem Gemälde nimmt der Schatten bekanntlich den weitaus größeren Raum ein. Licht sitzt nur hie und da.«

»Sie bringen also vorwiegend Schatten hervor«, sagte Herr Kortüm nachdenklich. »Hm . . . Wie verschieden sind die Berufe, Meister! Ich als ein Wirt habe mit aller Kraft für Licht und Annehmlichkeit zu sorgen.«

Holdermann schüttelte unwirsch den Kopf: »Beim künstlerischen Schaffen kommt es nicht auf Annehmlichkeit an, sondern auf Wahrheit. Ich fange das Leben mit Hilfe von Farbe ein. Das Licht aber, Herr Kortüm, stumpft die Farbe ab. In den Halbtönen und Schatten gedeiht sie am sattesten.«

Herr Kortüm geriet in immer tieferes Nachdenken über die Beziehung von Schatten und Sattsein. Seine Haltung wurde dabei immer gelöster und natürlicher. Jetzt hatte ihn der Professor endlich wieder malreif. Er konnte einfach malen, was er sah. Herr Kortüm war von sich abgelenkt. Und er blieb es eine gute Weile, denn allerlei seltsame 203 Geräusche im Vorraum, den ein Vorhang vom Atelier trennte, sorgten dafür, daß er so bald nicht wieder zu sich kam. Die Eingangstür klappte. Leichte Schritte gingen hin und her. Bruchstücke einer Melodie erklangen, zierlich und leise, unverkennbar in Sopran. Holdermann malte und merkte nichts. Aber Herr Kortüm wunderte sich sehr über die zunehmend gefährlicher werdenden Geräusche. Da schienen Druckknöpfe gleich reihenweise aufgeknipst zu werden. Eine Schnalle schnappte. Ein Schuh fiel hin, ohne Zweifel ein leichter Schuh. Und jetzt – bei Gott, das klang so, als wenn nackte Füße tappten, leichte Füße . . .

Herr Kortüm hatte die Augenbrauen ganz hochgezogen, den Mund gespitzt. Er hielt das linke Ohr ein wenig schief. Holdermann malte wie ein Besessener: das Objekt war hinreißend lebensvoll –

Da klirrten die Vorhangringe, eine weiße Hand zeigte sich, der Vorhang ging auseinander, und in die Werkstatt trat ein Mädchen, in einen herrlichen apfelgrünen Schal gewickelt, der sich in glänzenden Falten an ihren Körper schmiegte. Daß er sich an nichts sonst als an den Körper schmiegte, stand außer jeder Frage, denn der apfelgrüne Schal reichte durchaus nicht bis zu den Knöcheln.

Ein Unglück, ein Versehen in der Türnummer wahrscheinlich. Herr Kortüm, ritterlich wie er war, rührte sich nicht, als ob ihn die fremde Dame etwa für ein Kleidergestell halten sollte, für etwas Lebloses jedenfalls. Aber die Dame schien sich gar keine Gedanken zu machen, ob das Ding auf dem Podium da oben lebendig war oder nicht. Sie sah nur einen Augenblick überrascht auf und kam dann ruhig weiter in das Atelier herein, als ob sie hier zu Hause wäre. Hilfesuchend blickte Herr Kortüm zu Holdermann hin. Der Maler jedoch hielt mit der Linken seine Leinwand gepackt wie ein Wilder, malte mit zusammengebissenen Zähnen, sah nichts als das Bild und hörte offenbar überhaupt nichts. Dabei kam die Dame immer näher. – Allmächtiger, sie kommt auf mein Podium, dachte Herr Kortüm, und das Podium gerät ins Rollen, wenn man es berührt, und ich komme ins Schwanken, wenn es rollt – was tut man überhaupt in einem solchen Fall – stellt man sich vor? – ich werde – etwas nach links werde ich rücken – damit sie Platz hat . . . Nein – sie ging am Podium vorüber, summte gleichmütig die Melodie mit geschlossenen Lippen. Sie setzte sich in einen Sessel am Fenster und fing an, mit dem Eichhörnchen zu spielen, das dort in seinem Käfig saß. Sie öffnete das Gitter. Das Tier schien sie zu kennen, beschnupperte zutraulich ihre Hand. Volles Sonnenlicht fiel auf die Gruppe. Herr Kortüm war bezaubert. Rühren 204 durfte er sich nicht, nur die Augen konnte er drehen, und seine Augäpfel verdrehte er, bis sie schmerzten. Ihr schwarzes Haar glänzte seidig im Gegenlicht. Sie neckte das Eichhörnchen mit einem Pinselstiel. Das Tier fauchte, krallte sich in ihre Knie, sie lachte lautlos . . .

»Mein Gott!« rief plötzlich Holdermann. Kortüms Blick schweifte rasch wieder ins Nichts. »Was machen Sie denn für Augen!«

»Hm«, sprach Herr Kortüm, »die – die Anstrengung, Meister. Wir haben heute lange gearbeitet.«

Der Maler sah nach der Uhr: »Ist es möglich? Für heute habe ich genug. Gehn Sie nach Hause, Kitty. Morgen um dieselbe Zeit.«

Kitty nickte, ohne die Augen von dem Eichhörnchen zu wenden. Spielend, neckend sperrte sie es wieder in den Käsig, gab ihm aus dem Futterkasten eine Haselnuß, lachte, stand auf und schritt an Herrn Kortüm vorbei zum Vorhang, wie sie gekommen war: seidig apfelgrün und leuchtend.

Während Holdermann die Pinsel auswusch, saß Herr Kortüm nachdenklich in dem geschnitzten Sessel, der ihm nach seiner Meinung den Gesichtsausdruck zu sehr milderte. In brummendem Baß mühte er sich, die Melodie wiederzufinden, die das Mädchen gesummt hatte. Aber Herr Kortüm war ganz unmusikalisch. Deshalb versuchte er diese apfelgrüne Melodie von einer anderen Seite in Angriff zu nehmen:

»Meister«, sprach er.

»Hm?« – Holdermann rieb seine Pinsel behaglich im Seifenschaum der hohlen Hand.

»Meinen Sie nicht auch, man sollte jetzt einen kleinen Schluck Rotwein zu sich nehmen?«

Der Maler hörte auf zu reiben, besah den Schaumberg in seiner Hand, blies hinein – Flöckchen um Flöckchen hob sich, schwebte, wehte weiß schimmernd durch die in Dämmerung sinkende hohe Werkstatt.

»Ein Gedanke«, sagte Holdermann vor sich hin, »allerdings wollte meine Frau gerade heute abend – hm – Herr Kortüm: gehen wir!«

Einträchtig gingen sie dahin. Zufrieden nahmen sie Platz am runden Tisch bei Fuß. Behaglich tranken sie nach den Mühen des Tages Schluck um Schluck. Und als der gewölbte Boden der Flasche apfelgrün schimmernd wie eine Insel aus dem Weinrest auftauchte, begann Herr Kortüm: »Jene Dame – malen Sie die auch?«

»Welche Dame?«

»Sie nannten sie Kitty, Meister.«

Holdermann lachte: »Dame, na. Aber ich male sie. Freilich.«

205 Herr Kortüm legte die Hand auf Holdermanns Arm: »Doch gewiß nicht so schattig?«

»Wie Ihr Bild? Nein, Herr Kortüm. Kitty hat keinen schwarzen Rock an.«

»Mehr apfelgrün?«

»Weniger, Verehrter: das Bild heißt ›Diana im Bade‹.«

»Ahh! Also nur Licht!«

»Im Gegenteil. Nur Farbe. Mit Licht ist da wenig zu machen. Ich sagte Ihnen ja schon: Halbtöne sind hier am Platze.«

Herr Kortüm schenkte sich den Rest der Flasche ein, trank ihn aus und sprach: »Das gefällt mir nicht, Meister. Bei ihr« – er machte eine Handbewegung wie die Kapellmeister, wenn sie die Celli in Crescendo gehen lassen – »bei ihr ist es eine gebieterische Pflicht des Künstlers, ein tief farbiges Licht zu erfinden. Jenes Licht, das am späten Abend des siebenten Schöpfungstages über dem Paradiese des Herrn unterging« – Herr Kortüm lehnte sich weit zurück – »ihre Schönheit muß klingen wie ein Ruf aus jener denkwürdigen Nacht, in der die Liebe auf Erden begann.«

Holdermann wiegte lächelnd den Kopf: »Was ihren Ruf angeht« – Herr Kortüm sah ihn groß an – »Kittys Ruf meine ich, Lieber. Nicht Evas Ruf. Also Kittys Ruf: zu dem passen die Halbtöne besser.«

Herr Kortüm stieß die leere Flasche so gewaltig auf den Tisch, daß der Weinwirt Fuß nach einer neuen lief. »Meister!« rief Kortüm.

»Ihr Ruf ist nämlich schlecht –«, fuhr Holdermann gelassen fort.

»Meister!!« – Herr Kortüm stand auf. Eben kam Fuß mit der Flasche. Holdermann schenkte sich ein und vollendete seinen Satz: »– sauschlecht ist er.«

Verstört guckte Fuß die Flasche an.

»Schämen Sie sich«, sprach Herr Kortüm dumpf.

Fuß roch in den Flaschenhals: »Vielleicht schmeckt er bloß nach Korken?« Aber schon sprach Herr Kortüm weiter: »Ich kenne die Frauen. Ich sehe sie an und weiß, von wannen sie kommen und wohin sie gehen!«

Holdermann zuckte die Achseln: »Je, wenn Sie's besser wissen . . .« und der Weinwirt Fuß atmete auf: »Ach so, Sie reden bloß von 'nem Mädchen.«

»Von einer Dame«, sprach Herr Kortüm verweisend.

»Deren Vorname Kitty ist«, nickte der Maler, kniff ein Auge zu und sah Herrn Kortüm an: »Wissen Sie was? Wenn Sie Kittys Ruf kränkt – verschaffen Sie ihr doch einen anderen.«

206 »Verlassen Sie sich darauf, Herr Professor, ich werde das meinige tun. Wenn ich die junge Dame im Geiste mit dem Eichhörnchen spielen sehe . . . wie das Tierchen zutraulich auf ihrem Knie saß – und wenn ich Sie nun so schmähen höre: ich weiß, was es heißt, wenn die Leute reden und nicht wissen, was sie reden –«

»Erlauben Sie –«, begann Holdermann, aber er kam nicht weiter.

»Wenn Sie verleumden, nachforschen, hinterm Rücken Delikte sammeln, verdächtigen, herabsetzen, rumhören, lügen, verdrehen, unterschieben, mit den Augen blinzeln, dem anderen ins Ohr sprechen, gehört und nichts gesagt haben wollen, andeuten, jemand mit dem Ellenbogen anstoßen, ihn leise auf die Fußzehe treten, anonyme Briefe schreiben, denunzieren –«

»Also, Herr Kortüm!« rief der Maler.

»Alle Wetter!« Der Weinwirt staunte seinen Gast an.

»Unterbrechen Sie mich nicht immer, Herr Fuß«, sprach Kortüm. Er hatte gestanden. Jetzt nahm er wieder Platz. Keiner von den Dreien sagte etwas. Aber das Mittel des Sitzens scheint wahrhaftig bei ihm anzuschlagen, dachte Holdermann. Kortüms Gesichtszüge wurden milder. Er lächelte, trank, nickte träumerisch: »Sie ist eine Dame . . .«

Der Maler betrachtete ihn neugierig: »Damen sind sie alle«, sagte er. Eine Handbewegung hieß ihn schweigen – Herr Kortüm war noch nicht fertig: »Gerüchte sammeln, Bilder machen aus Straßenstaub« – er fuhr auf – »Du sollst dir von deinem Nächsten kein Bild machen aus Straßenstaub! Seht sie doch mit offenem Auge an: ein Blick sagt es – sie ist jemand. Gewiß, sie hat Schweres hinter sich. Sagen wir, hm . . . sie steht allein . . . ihre Lieben sind umgekommen . . . in Rußland« – plötzlich wandte er sich zu Fuß und sagte nahe an seinem Gesicht – »in sibirischen Graphitbergwerken, Herr Fuß!«

Der Wirt fuhr zurück: »Ich glaube 's je auch. Man kennt je so 'n Mädchen auch nicht so genau. Man hört bloß dies un man hört das –«

»Und klatscht dann«, sprach Herr Kortüm.

Holdermann ließ keine seiner Bewegungen und Mienen aus den Augen. Er war begeistert. Das ist ein Objekt! dachte er.

»Ihr klatscht«, fuhr Herr Kortüm fort, »ja, und was tut sie?«

»Nu, was die Leute sind«, begann Fuß auseinanderzusetzen, »die meinen –«

Er verstummte. Herr Kortüm hatte ihm nur schweigend ins Auge geblickt. Nun nickte er langsam mit dem Kopfe: »Ich will Ihnen sagen, was sie tut, Herr Fuß: sie opfert sich für die bildenden Künste in der Welt.«

207 »Opfert?« rief Holdermann.

»Opfert. Sie läßt sich malen. Ich weiß, was das heißt.« Der Maler schlug mit der Hand auf den Tisch, aber Herr Kortüm ließ sich nun nicht mehr stören: »Sie lebt der Schönheit. Darum verdient sie auch ein Wohlergehn.« Lächelnd blickte Kortüm aus halbgeschlossenen Augen in den Tabakdampf und begann nun einen Lebenslauf aus Rauch zu weben, über den Kitty nicht schlecht erschrocken wäre, wenn sie sich in dem wehenden Dunst erkannt hätte: »In einem apfelgrünen Gewande sehe ich sie dahin gehen . . . einen Hochzeitszug sehe ich im Geiste . . .« Kortüm verlobte sie, er verheiratete sie, gab ihr eine ansehnliche Verwandtschaft, ja, er log ihr, die doch wenig mehr als einen apfelgrünen Schal besaß, alles an, was zur Leibesnahrung und Notdurft gehört, als Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut . . .

Holdermann hütete sich, diese Reden zu unterbrechen. Er sah sein Objekt in immer neuem Lichte. Wenn es dem Wirt zu bunt wurde und sein Mund zum Reden aufging, sagte der Maler: »Herr Kortüm weiß das.« So geschah es, daß die gute Kitty im Laufe einer Nacht einen Lebenswandel bekam, den der Weinwirt Fuß nur mit Hochachtung betrachten konnte: »Wenn man das hört un wenn man dann hört, was die Leute sagen . . .« Herr Kortüm hob den Zeigefinger und machte den Weinwirt, der so viele Menschen in der Stadt kannte, haftbar für die Verbreitung eines guten Leumundes zugunsten Kittys, des Modelles. Er war unermüdlich im Erfinden. Herr Kortüm rächte sich in dieser Nacht am Klatsch.

Es war ihm ein Genuß, der Welt, die fortdauernd Böses log, einmal das Gute vorzulügen. Er wollte dem Schönen eine Gasse schlagen mitten durch die Wirklichkeit, und er ahnte nicht, welche bedauerlichen Folgen dieses hochherzige Unternehmen für ihn haben mußte. Denn die Sphären der Menschen sind unverschieblich – Herr Kortüm hätte sich hüten sollen, an dem goldenen Gestänge dieses Planetariums herumzubiegen.

»Also Licht, Meister!« rief er, als sie aufstanden von ihrem Tisch.

»Aber die Farbe, Herr Kortüm!«

»Licht ist mehr als Farbe.«

Holdermann kam spät in dieser Nacht nach Hause. Seine Gattin richtete sich im Bett hoch: »Theodor!«

»Guten Morgen, Liebe.«

208 »Was malst du denn jetzt eigentlich?«

»Ach«, sprach Holdermann versonnen und sah vor sich hin, als ob er nachdenken müßte, was er denn zur Zeit male: »Ich würde sagen: Schatten – – wenn sie nicht so licht wären . . .«

 


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