Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Geld

Eines bösen Herbsttages tauchte im triefendnassen Thüringer Wald ein Gerücht auf, das nicht Regen, nicht Nebel aufhalten konnte. Die Wasserpfützen platschten breit über den Weg, wenn ein nachrichtengeladner guter Freund gelaufen kam, und der Nebel ließ den lieben 495 Nachbar im Laternenschein so gespenstergroß erscheinen, daß er an die tropfenden Tannenzweige stieß mit der Nase.

»Herr Kortüm muß verkaufen!«

»Siehst du . . .«

»Da haben wir's.«

Hiebrich griff nach dem Anschreibebuch und las murmelnd: »Zwei Schöpsenkeulen, sieben Haxen. Du, Frau, hat der Kortüm die drei Lendenbraten bezahlt damals, he?!« –

Mickewitz stand in der Offizin, pfiff leise, sah die Regenschwaden außen an den Glasfenstern hinabrinnen und sagte zu seinem Adoptivsohn: »Lege noch vier Briketts nach, Felix. Behaglich hier. Sehr gemütliches Wetter. Je enger die Wände, desto sicherer die Existenz. Nur nicht zu groß. Man sieht ja, wie's geht.« Er nahm einen Hustenzucker aus der Glasbüchse, schälte das Buntpapier ab und steckte ihn in den Mund.

Kuffert trat ein und rief noch im Klingeln der Türglocke: »Na?! Kaufen Sie's Flügelhaus? Nee? Hm. Wer weiß, wer nu kommt. Schade. 's hat sich gut gesessen da oben bei Kortüm. Manchen Abend, Mickewitz.« –

Doktor Windhebel stand auf der hinteren Plattform der Jenaer Straßenbahn und fuhr zur Universität, als eine vor dem Regen flüchtende und den Wagen stürmende Menschenwelle Windhebels Buchbinder auf die Elektrische wälzte, kräftig an den Gelehrten anquetschte und dem Buchbinder folgende Mitteilung auspreßte: »Sie fuhren doch immer aufs Flügelhaus, Herr Doktor – nu hat sich's ausgefahren. Was mein Bruder is, der Sparkassensekretär in Besenroda, der schreibt mir heute morgen, 's Flügelhaus soll pleite sein.«

»Universität!« rief der Schaffner. Aber Windhebel sah den Verkehrsbeamten verständnislos an und fuhr weiter, fuhr bis zur Endhaltestelle und wurde hier vom Schaffner ersucht, nunmehr die Straßenbahn zu verlassen, seine Fahrkarte sei abgelaufen. Windhebel stieg aus, spannte den Schirm auf und ging in tiefen Gedanken – »Kortüm, Kortüm« – zu Fuße nach der Universität zurück. Windhebel erreichte völlig durchnäßt den Hörsaal elf pünktlich mit dem Klingelzeichen, das den Schluß der Windhebelschen Vorlesung verkündete und sagte zu den verwunderten Studenten: »Meine Herren, es tut mir leid – ich wollte heute über Ursprung und Entstehung der Mondkrater lesen. Aber« – 496 Windhebel hob ein wenig die Arme, bewegte die Beine, damit das Wasser besser von ihm ablaufen konnte – »aber«, sprach er und spiegelte sich nachdenklich in der blanken Pfütze, die sich um seine Füße bildete – »aber, wenn ich so sagen soll: der Mann im Monde kam dazwischen, ja, das Ungemeine, meine Herren. Sie lächeln. Und Sie, Herr Schmidt, lachen. Lassen Sie mir bitte in meiner augenblicklichen Verfassung die Beruhigung, daß die mimischen Ausdrucksbewegungen Ihrer Gesichtsmuskulatur ausnahmsweise einmal nicht in Zusammenhang stehen mit dem gemeinhinnigen Heiterkeitsbedürfnis, sondern auf einem leider mit dem mißbrauchten Wort Humor bezeichneten Bewußtheitszustand beruhen. Meine Herren, wir als Astronomen wissen: Humor ist metamorphosierte Tragik. Heiterkeit hat mit Humor an sich gar nichts zu tun, Herr Schmidt. So wenig wie die Unlustgefühle erzeugenden Lebenslagen – Tod zum Beispiel oder Geldmangel – an sich für Tragik angesprochen werden dürfen. Leider aber zieht in einem Falle der Musculus risorius die Mundwinkel nach oben, im anderen Falle erzeugt der Quadratus labii superioris, die Oberlippe anziehend, einen sogenannten schmerzlichen Ausdruck. Aber Lachen oder Weinen, meine Herren Astronomen, bezeichnen mitnichten entweder Humor oder Tragik. Und die Rückseite des Mondes bleibt uns auch dann unbekannt, wenn wir im Anblick seiner Vorderseite einen tragischen oder einen humorischen Gesichtsausdruck im Mondantlitz wahrzunehmen glauben. Die völlige Verwirrung in diesem Fragenkomplex hat leider die gerade hier zuständige neuere Schauspielkunst über uns gebracht, als sie auf die antike Maske verzichtete und durch persönliches Gesichterschneiden jeweils Humor oder Tragik zu agieren gedachte. Da jedoch – und damit trete ich wieder in unseren eigentlichen mathematisch-astronomischen Bezirk zurück – Tragik und Humor in ihrer Verlängerung in einem Punkt sich schneiden, in der Seele nämlich, müssen wir sie – so leid es mir tut – innerhalb der Seele als eines ansehen und können dahingestellt sein lassen, ob das Resultat der Divergenz dieser Strahlen nach Austritt aus der menschlichen Seele an ihren erfreulicherweise unvorstellbaren Endpunkten etwa gleich ist der Strecke zwischen dem Fußpunkt und dem Scheitelpunkt Gottes. Jedenfalls aber – entschuldigen Sie diese Feststellung einer Selbstverständlichkeit in diesen Universitätsräumen, Herr Schmidt – ist die Vortragsweise, die Erscheinung, sei es die heitere, die tragische oder die tragihumorische, nicht ohne weiteres identisch mit der Substanz. Wir leben leider in einer menschlichen Welt und müssen uns hinsichtlich der Bedeutung der 497 Erscheinungsformen in manchem bescheiden. Mit Hilfe der Spektralanalyse können wir den wahren Grundstoff der Gestirne ermitteln, aber wir können das Spektroskop nicht in dem Sinne auf den Menschen und seine Werke richten, daß wir beispielsweise aus Trauer- oder Wander- oder Hochzeitsgewand oder aus einer sonstigen Maskerade auf den Wesensgehalt der Träger mit der Sicherheit schließen dürfen, wie sie unser Herz stärkt bei der Analyse der Sterne, Herr Schmidt. Nach diesen mehr allgemeinen Bemerkungen noch kurz die Mitteilung, daß ich die nächste Vorlesung im kleinen Kuppelsaal des Observatoriums Mittwoch zehn Uhr halte und dort das soeben nur angedeutete Thema: Über Ursprung und Entstehung der Krater auf dem Monde, nachhole.«

Doktor Windhebel schloß mit kräftigem Griff die Tür des Auditoriums hinter sich zu, ging nach Hause und befahl seiner Wirtin, eine Leine zu ziehen, damit er seine Kleidungsstücke trocknen könne. –

Also mit dem Elf-Uhr-Zug, Vater.« Doktor Langloff legte den Hörer hin. In Weimar ließ der alte Kapitän den Hörer unsanft in die Gabel fallen und begann einen längeren Spaziergang in seinem Zimmer. »Es ist soweit. Wir sind denn woll soweit.« Er schloß den Geldschrank auf, zog eine Mappe heraus: »'n bißchen kurz angerannt.« Er zählte, schrieb, rechnete, ging wieder im Zimmer herum, rechnete noch einmal. Am anderen Morgen saß er in der Bahn. Gegen Mittag stieg er in Besenroda aus. Aber Langloff ging nicht in die Pension Hackemann, wo er dringend erwartet wurde, sondern graden Weges aufs Flügelhaus: »Der Junge redet mir da man bloß zwischen mang.« –

Herr Kapitän?«

»Raus auf die Brücke, wenn's Fahrwasser schmal ist, haha: wir alle beide raus, Herr Kortüm. Sie sehn ja aber doch recht frisch dabei aus. Greift Sie gar nicht an? Na, denn fangen wir man gleich an. Wenn Geschäft, dann erst 's Geschäft.«

»Sie haben Geschäfte in hiesiger Gegend?«

Langloff sah Kortüm verdutzt an: »Sie denn ja woll auch, denk ich.« Er klopfte an seine Mappe: »Ich komme zu Ihnen als ernsthaftiger Reflektant.«

»Freut mich«, sprach Herr Kortüm, »nehmen Sie Platz. Ein Zimmer mit Bad. Wie damals? Hat es Ihnen konveniert? Nummer 498 achtzehn war es. Ist im Moment nicht ganz in Ordnung. In einer Viertelstunde steht aber alles bereit.« Herr Kortüm griff nach dem Schlüssel achtzehn am schwarzen Brett.

Langloff ließ ihn den Schlüssel abnehmen, er kaute mit den Zähnen, sah Kortüm an. Kortüm hielt ihm den Schlüssel hin, zog die Augenbrauen hoch, sah Langloff an . . .

»Teufel, Herr Kortüm – wir wolln doch wohl nicht so lange Worte machen, daß ich die ganze Nacht hier überliegen muß?«

»So lange, wie es Ihnen beliebt, Herr Kapitän. Sie stören leider niemand. Mein Haus ist im Augenblick schwach besetzt.«

Jetzt lehnte sich Langloff zurück, sah Herrn Kortüm schlau an, rieb wie geldzählend den Daumen am Zeigefinger: »Wenn das hier man nicht so lange dauert, haha. Aber 's ist ja wirklich 'n bißchen leer geworden bei Ihnen. Also kurz und gut: was kostet Ihr Etablissement, wie's steht und liegt?«

»So fragt zuweilen ein Finanzamt, Herr Kapitän.«

»Und die Käufers, Herr Kortüm. Die fragen immer so zuerst. Ich reflektiere. Wenn wir sonst einig werden könnten – das Objekt ist 'n bißchen verbaut, Geld hierhinein, Geld dahinein, aber 's kann 'n ganz ansehenswertes Sanatorium dabei rauskommen. Sie haben in mir 'n ernsten Reflektanten – wenn man die Gelegenheit nicht zu doll in die Talers geht.«

»Da wollen Sie völlig beruhigt sein, Herr Kapitän. Die Gelegenheit geht nicht in die Taler.«

Langloff klopfte Herrn Kortüm aufs Knie: »Hab ich all immer gesagt: mit dem Herrn Kortüm gibt das kein Hin und Her.«

Der Herr des Flügelhauses nickte: »Habe ich mir auch immer in den letzten Wochen gesagt, Herr Kapitän: nur nicht verkaufen. Unabsehbar, so ein Verkauf.«

»Sie – wie?«

»Herr Kapitän?«

»Ja . . . aber Sie müssen man – doch nun so ganz allmählich . . .«

»Wenn ich alles getan hätte, was ich müßte – könnte ich Ihnen jetzt keine Zigarre anbieten, Herr Kapitän. Bitte. Ganz frische Brasil. Sind heute besser als die Sumatra.«

»Bauraten, Herr Kortüm, müssen aber man immer gemußt werden. Und dann die Hypothekenzinsen, Herr Kortüm, und der Wechsel bei Stopf und Sohn, Herr Kortüm, ist 'n Soll, dem nur 'n Haben gegenüber steht von Gästen, die wir man nicht haben, Herr Kortüm.«

499 »Habe ich mir auch gesagt, Herr Kapitän. Sie sind ja ausgezeichnet informiert, Herr Kapitän. Ja . . . .« – Kortüm griff nach einem Telegramm, das auf dem Schreibtisch lag – »und da habe ich mich vor ein paar Wochen mit der World in Verbindung gesetzt, Sie wissen: die World. Ich bin befreundet mit ihr. Ja . . .«

Langloff war ganz langsam aufgestanden, stützte die gewaltigen braunen Fäuste auf die Tischplatte: »Der Film – reflektiert??«

»Sollte man? Was meinen Sie! Die Esperstädter hätten es um mich verdient, daß sich der Film hierhersetzt zum Drehn und zum Erholen vom Drehn. Auch die Besenröder wären wert, daß ich ihnen einmal von einem noch nicht gefühlten Bedürfnis abhülfe. Der Kurort hat ja jetzt die Pension Hackemann.«

»Sie verkaufen an den Film?«

»Ich sagte schon, Herr Kapitän: ich verkaufe nicht. Ich verpachte.«

Mit vielen Falten in der Stirn sah der Kapitän zu, wie Kortüm in Gedanken die Worlddepesche sorgfältig zusammenkniff. Ein einziges Mal in seinem Leben war er auf Grund geraten. Im Kattegatt war das. Als längst pensionierter Kapitän hörte er das Knirschen noch im Traum, wenn er mal abends ein bißchen stark gegessen hatte: jetzt knirschte es wieder unterm Kiel. Langsam rieb er seine Nase. Kortüm blies Zigarrenrauch auf den Schreibtisch. Er war sehr zufrieden mit sich. Aber Langloff – – dieses verrückte Haus hier oben – nein, mit einem ernstzunehmenden Wettbewerber konnte er wirklich nicht gerechnet haben. Und nun saß er auf der Pension Hackemann fest. »Der Film wird die Umgebung beunruhigen«, sagte Langloff. Die Leute hätten sich bereits beschwert.

»Die Leute beschweren sich immer und über alles, Herr Kapitän.«

Was die World könne, ein Kapitän Langloff könne das auch: der Alte klopfte auf seine Mappe. Kortüm antwortete höflich, man brauche sich ja nur mal ein wenig über die Pachtung zu unterhalten.

»Auf Pachtung reflektiere ich nicht.«

»Über Kauf, Herr Kapitän, muß ich vorher mit der World sprechen. Die Depesche traf vor Ihnen bei mir ein. Einen Mann wie Utzenstorff stößt man nicht vor den Kopf.«

Langloff wiegte den Kopf hin und her: »Hm. Nun ja. Oho.« Dann empfahl er sich und sagte, man würde ja vielleicht morgen wohl noch voneinander hören.

Herr Kortüm aber stieg über Treppen und Gänge hinan in den Oberstock, klopfte an Lottes Tür und begann noch auf der Schwelle mit 500 vielen Hahas und Jawohls zu erzählen, daß der Kapitän Langloff vielleicht ein Frachtschiff lenken könne, aber nicht ihn, den Herrn Kortüm. Er gebrauchte Worte wie abgestochen, abgestunken und abgerutscht. Lotte hörte zu, ließ den Herrn des Flügelhauses austriumphieren und sagte dann: »In zwölf Tagen brauchen Sie viertausend Mark, Herr Kortüm. Und das mit dem Film haben Sie dem Herrn Kapitän doch bloß halb gesagt. Das ist ja auch besser so. Aber die Gesellschaft will das Schottengelände nur als Ganzes kaufen. Samt ›Waage‹ und Lohberg. Sie müßten also fort von hier, wenn Sie an die verkaufen. Und das wollen Sie doch eben nicht, haben Sie gesagt. Hoffentlich reist Herr Langloff nun nicht gleich ab, sondern kommt morgen wieder.«

Daß der Lotte Wingen der Weitblick fehlte, hatte Herr Kortüm schon öfter festgestellt, daß sie trotzdem manchmal recht hatte, bestätigte der Herr des Flügelhauses meistens erst am anderen Tage und dann im stillen und bei sich. Jetzt aber hatte Lotte derart recht, daß es Kortüm auf der Stelle einsah. Beinahe hätte er dem Kapitän gleich einen kleinen Gegenbesuch gemacht. Lotte hielt ihn mit Mühe von dieser Höflichkeit ab. Das könne er immer noch. –

Der Kapitän trat etwas kleinlaut in das Zimmer seines Sohnes, der ihn ungeduldig erwartet hatte und schon glaubte, sein Vater hätte sich die Sache anders überlegt und käme gar nicht: »Gott sei Dank, Vater!« rief er ihm entgegen.

»Nichts zu danken«, sagte der Alte. »Gar nichts. Der Kerl verhandelt schon.«

»Was?!«

»Und mit wem? He? Mit seinem Anhang!«

»Der hat kein Geld.«

»So? Himmeldonnerwetter! Weißt du, mit wem? Mit dem Film, Schockschwerenot.«

Die beiden großen Männer des Schottengeländes schliefen in dieser Nacht so unruhig wie Wellington in Mont Saint Jean und Napoleon in Caillou, ehe Blücher kam und unter dem Namen Waterloo die Angelegenheit ordnete: Kortüm sah im Traume Papiere aufs Flügelhaus marschieren in Reih und Glied, voran eines, das besonders bunt mit Marken und Siegeln geschmückt war und die stolze Zahl Viertausend am Helmbusch trug. Mit Schrecken sah er diese Armee Quartier nehmen in seinem Haus, sah die dürren Papiere statt der Gäste die leeren Plätze im Speisesaal besetzen, sah sie zu fressen 501 anheben, dicker werden, immer fetter – und er, der Herr Kortüm, das Mundtuch unter den Arm geklemmt, bediente sie höflich, denn jedes Papier trug die Unterschrift: »Fr. J. Kortüm«. Der Herr des Flügelhauses stöhnte träumend auf. Was kommt dort für ein Wagen? Ah, Herr Utzenstorff! Nur mit einer seidenen Badehose und einem goldenen Gürtel bekleidet, entstieg der Chef der Produktion dem ungeheuren Gefährt, reichte Kortüm beide Hände: Haha, das macht gar nichts, mein Freund – nehmen Sie ruhig meinen Wagen. Chauffeur! Fahren Sie meinen Freund Kortüm zum Bahnhof! Und Kortüm sah sich einsteigen, mit einem sogenannten Necessaire unterm Arm. Meine silberne Windfahne! schrie Kortüm auf, wollte nach der drehenden schimmernden Doppelmaske greifen – da wachte er auf, richtete sich im Bette hoch . . .

Langloff aber sah sich im Traum vor dem Schalter des Esperstedter Tageblattes stehen und ein Inserat entwerfen: Pension Hackemann, vor kurzem völlig renoviert, umständehalber per sofort zu verkaufen. Offerten unter Kattegatt . . .

Am andern, sehr frühen Morgen träumte der Kapitän nicht mehr, sondern hörte sich – freilich unter mehrfachem Nana, Nanu und Oho – die Rede seines Sohnes an, des Doktors Walter Langloff. Eine kleine Landpraxis sei ja nun doch nicht das Ziel seines Lebens gewesen! Habe er das nicht stets gesagt? Und eine solche anstrengende Praxis nach den langen Jahren auf See mit der Diätpension Hackemann auf dem Halse, die der Teufel im gleichen Augenblick hole, in dem da oben der Film einziehe – nein: einem Sanatorium habe all die viele Mühe gegolten! Habe denn er so überstürzt heiraten und sich hier festsetzen wollen? – »Oder hast du mir zugeredet, lieber Vater! Aber du warst ja nur halb auf meiner Hochzeit – nichts für ungut: nun sei wenigstens nicht nur halb bei dem Sanatorium Flügelhaus, lieber Vater.«

Kortüm und Langloff frühstückten an diesem Tage zwar beide in tiefen Gedanken, aber beide rasch, ohne größere Umstände und ohne die anschließende Morgenzigarre zu genehmigen. Kortüm griff eben nach seinem Hut, als Lotte einen erleichterten Seufzer tat und sagte: »Da kommt er.«

Langloff trat ein: »Wünsche allerseits schönsten guten Morgen.«

»Ich danke, Herr Kapitän –«

»Bin Ihrer Meinung, Herr Kortüm –«

»Ohne viel Drumrum.«

502 »Zur Sache.«

»Wie sich's für uns schickt.«

»Was hülfen viele Worte.«

»Nur Snack, Herr Kortüm.«

»Also.«

Eine Stunde redeten sie. Zwei, drei Stunden. Sie machten einen gemeinsamen kleinen Gang ums Haus. Dann sprachen sie wieder eine Stunde. Aber am Mittag speisten sie beide gemeinsam in der »Goldenen Waage«, nachdem sie Doktor Langloff durch einen expressen Boten eingeladen hatten, ebenfalls ein paar Happen daselbst einnehmen zu wollen. Friedrich Joachim Kortüm hatte das Flügelhaus an den Dr. med. Langloff verpachtet, vorläufig auf fünf Jahre. Leider aber ging gerade, als der Vertrag in einzelnen Punkten skizziert werden sollte, Frau Wingen mit einem Stoß Tischtüchern durch die »Waage«, und Langloff konnte nicht verhindern, daß Kortüm diese Person einlud, Platz zu nehmen und daß sie sitzen blieb bis zum letzten Strich an dem Vertragswerk. Nicht einmal die Einladung zum Mittagessen an den Doktor übergab sie dem Boten außerhalb des Gastzimmers, sondern sie klingelte den Kerl herein zu sich. So geschickt der alte Kapitän den Strom aufwärts kreuzte, so ruhig fuhr ihn Lotte mit gelegentlichen Zwischenbemerkungen und Vorschlägen abwärts. Langloff mußte mit einer an sich ungehörig ansehnlichen Vorauszahlung herausrücken. Er fand sich auch mit Kortüms wichtigster Bedingung ab, weil dieser Gastronom andernfalls sofort an die World verkauft hätte: Kortüm behielt außer der für Langloff unwichtigen kleinen Wirtschaft auf dem Lohberg die »Waage« – da werden wir dich verfluchten Kerl bald rausgeräuchert haben, und wenn wir den Bordeaux um eine Mark fünfzig die Flasche verkaufen sollten, tröstete sich der Kapitän. Zu den »Waage«-Räumen verlangte Kortüm die nötigen Stuben für die Bedienung und sein Arbeitszimmer. Angesichts dieses feindlichen Zimmerkeils in dem künftigen Sanatorium aber blieb der Kapitän fest. Es kam fast zum Bruch. Lotte mußte vermitteln. Grollend – Herr Kortüm vergaß das Lotte nie! – gab er sein Arbeitszimmer preis, um sich mit einem Gelaß über der »Waage« zu begnügen. Es glückte dem Kapitän, der in diesem Punkte nicht zu erschüttern war, an Hand des Hausplanes das gesamte Kortümwesen auf einem gar nicht weiträumigen Bezirk um die »Waage« herum zusammenzudrängen und Kortüm zu veranlassen, die nötigen baulichen Abgrenzungen und Änderungen auf seine Kosten durchzuführen:

503 »Scharfe Grenze. Keine Türen zwischen uns. Keine Fenster.«

»Und mein Personal?« sprach Kortüm drohend.

»Wen brauchen Sie denn schon.«

»Zuvörderst die Wirtschafterin – derzeit ist das Frau Wingen.«

Langloff hatte im Laufe der Besprechung vor dieser Wirtschafterin Respekt bekommen, und plötzlich stieg dem Kapitän ein Gedanke auf . . . scharf sah er Kortüm aus halbgekniffenen Augen an: »Sagen Sie mal, Herr Kortüm – wollen Sie etwa Zimmer vermieten in der Saison? Wie?« Man einigte sich auf einen weiteren Passus, nach dem Herr Kortüm die »Waage« nur als Ausschanklokal betreiben, keinesfalls aber zur Pension ausbauen dürfe.

»Wie die Pension Hackemann?« fragte Kortüm. »Nein, Herr Kapitän. Aber in der Wirtschaft auf dem Lohberg – dort muß ich Wanderern ein Nachtlager verabreichen können.«

Langloff nickte. Diese Leute kümmerten ihn so wenig wie der Püsterich, den Kortüm für sich verlangte: »Dann muß das Scheusal aber von dem Hofe weg. Dagegen hat kein Mensch was einzuwenden.«

»Und die Quelle, Herr Kapitän?«

»Zwanzig Meter Rohr und die läuft hin, wo Sie wollen.«

»Ich werde den Fliederweg vor der ›Waage‹ zu einem kleinen Fliederplatz erweitern und den Püsterich dort hinstellen.«

»Auf Ihre Kosten«, sagte der Kapitän und trocknete den Schweiß auf seiner Stirn. Auch das allerletzte kam in Ordnung: der Vertrag trat in Kraft am kommenden ersten Januar. –

Gegen Abend kam Monich. Kortüm ging mit seinem alten Freund langsam um das Anwesen herum. Auf der Südwiese standen sie still.

»Und in fünf Jahren habe ich mich finanziell erholt und übernehme es wieder, Monich.«

»Da feierst du dann 's dritte Richtefest.«

Herr Kortüm nickte: »Weißt du, Monich, der Vertrag könnte günstiger sein. Aber Frau Wingen sieht nur das nächstliegende. Frauen sind kurzsichtig.«

»Kortüm, jetzt bist du stille: wenn ich dich richtig verstanden habe, is jeder Punkt, der günstig is, von Lotten.«

»Aber mein Arbeitszimmer! Wenn ich denke, daß darin nun dieser Doktor die Leute zu Tode kuriert!«

»Pscht. Nich so laut, Kortüm. Der junge Langloff is 'n ganz ordentlicher Doktor. Mein Reißen hat keiner weggekriegt – der hat's geschafft. Un du, Kortüm, du hast in deinem Arbeitszimmer 'n Gästen 504 zum guten Leben verholfen, aber dich, dich hast du um ein Haar pleite kuriert.«

»In meinem neuen ›Waagen‹-Betrieb soll das ganz anders angefaßt werden. Ich plane eine neuartige –«

»Kortüm! Hast du Lotten vorher gefragt?! Nee? Um Gottes willen, plane jetzt nur nischt! Jetzt sitze mal 'n bißchen stille und verkaufe den Gästen, die zu dir kommen, was sie haben wollen un mache zivile Preise, un weiter machst du nischt vorderhand. Mir wollen schon Gäste kriegen, verdammig. Du unterbietst Langloffn 'n bißchen, du kannst auch 'n kleinen Rabatt geben –«

»Ist verboten, Monich.«

»In meiner Brangsche is es verboten. Bei Leinewand. Aber bei dir – da wolln wir uns doch erst 'n bißchen rumhörn. Un wenn du immer 'n kleinen Finger übern Eichstrich einschänkst, is das etwa auch verboten? Das wolln wir doch sehn, ob dir das einer verbieten kann! Und dann paßt du gut auf, was es bei Langloffen zu essen gibt: macht der . . . sagen wir mal Rindfleisch mit Zwibbelsoße, machst du's auch un, Kortüm: un gibst hinterher Kartoffelpuffer zu mit Preißelbeeren als Nachtisch. Un ich gehe überall rum und erzähle das so unter der Hand. Un paß auf – in zwei Jahren hast du den Hund verdammigten pleite.«

»Monich – schäme dich. Das ist ja niederträchtig, was du da redest –«

»Besser wie deine Pläne is es auf jeden Fall, das sag'ch dir.«

»So. Und wenn Langloff pleite ist: Monich, wer zahlt mir meine Pacht?«

»Hm. Kortüm – Lotte steht jetzt nich hinter dir: jetzt hast du von alleine was Richtiges gesagt. Diesmal hast du's getroffen. Nee, pleite is zuviel auf einen Hieb. Aber die Suppe versalzen kannst du'n, daß der Kerl jeden Abend betet: lieber Gott, wer weiß, was morgen kommt.«

Bei diesen Ratschlägen seines hilfsbereiten Freundes glitt Kortüms Auge langsam über seinen Flügelhausbesitz, wie er da baumumrauscht zwischen dem steilen Lohberg im Westen und dem Hachelstein im Osten geborgen lag: »Weißt du noch, Monich? Das Festspiel damals? Es war schön. Frau Konstanze Schröter ist lange nicht hier gewesen. Einmal habe ich sie leider verfehlt. In Jena war ich zu der Zeit. Sie wird sich auch wundern, wenn sie's hört. Aber ich richte ihr zwei Zimmer im Lohberghaus her. Da hat sie einen noch weiteren Ausblick. Ach ja. Diese Frau hat einen Weitblick. Als mir damals Schwartenmacher die silberne Windfahne aufs Dach setzte, sagte sie –«

505 »Richtig, Kortüm! Deine Windfahne! Gucke mal, wie sie sich dreht. Um die is es eigentlich schade. Wozu braucht denn der Kerl, der Langloff, eine Windfahne?«

Schwermütig sah Kortüm die Fahne mit der lachenden und weinenden Maske an.

»Mach sie doch ab.«

Die beiden Männer blickten sich eine Weile an, sie nickten, sie lächelten . . .

»In der Tat, Monich –«

»Gleich morgen früh.«

»Morgen früh lasse ich den Schlosser holen.«

»Un dann setzst du sie heimlich bei dir auf den Boden. Bis zum dritten Richtefest.«

Kortüm rieb sein Kinn. Dann sagte er: »Ich werde durch den runden Tisch, der in der großen Stube in der ›Waage‹ steht, ein Loch bohren lassen. Da stecken wir sie durch. Die großen Sonnenschirme werden ja im Sommer auch in dieser Weise befestigt.«

»Siehst du, Kortüm, das is 'n Plan: kostet nischt un macht was her.«

 


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