Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Hochzeit

Der alte Langloff schob den Fenstervorhang beiseite und sah nach dem Sonnenstand. Er konnte ohne Augenschmerzen mitten in die Sonne sehen. Sein wetterbraunes Gesicht legte sich dabei in viele Falten und Fältchen. Wenn er auf der Kommandobrücke seine Gedanken gehabt hatte über Kurs und Wind und Gegenwind, war ihm die Sonnenscheibe ein zuverlässiger Fangpunkt gewesen. Südsüdost stand sie heute und schien scharf in das Esperstedter Gasthofzimmer, in 479 dem er wohnte. Sein Sohn bat ihn immer wieder, doch in Besenroda Quartier zu nehmen, da das Flügelhaus zur Zeit leider nicht in Betracht kam. Dem Kapitän konnte im Doktorhaus ein Zimmer eingerichtet werden. Aber das nächstliegende, das eigentlich selbstverständliche Hotel für ihn wäre doch »Hackemann« gewesen. Er hatte dort viel Gesellschaft. »Hackemann« war ausgezeichnet besucht.

»Laß man«, sagte der Alte beharrlich. Er wollte jetzt mal ein paar Tage in Esperstedt wohnen. Erstens mußte er auf dem Wege nach Besenroda den gesunden Spaziergang durch das Schottengelände machen. Dabei kam er am Flügelhaus vorbei, und der Anblick dieses stattlichen Gebäudes wirkte auf seine Berechnungen wie das Weiterdrehen des Maschinenhebels auf die Fahrt des Schiffes; dieser erfreuliche Anblick drückte frischen Dampf in seine Überlegungen. Zweitens aber konnte es nicht schaden, ein wenig unter den Esperstedtern herumzuhören. So geschah es, daß der nach Besenroda gerichtete Brief, mit dem Langloff jetzt auf das Fensterbrett klopfte, einen halben Tag zu spät in seine Hände kam. Der Doktor hatte ihn mit dem Apothekerboten geschickt.

Sehr mißtrauisch sah der Alte in die Sonne. Wer war dieser Kortüm? Da schrieb, da wagte dieser Kerl seinem Sohn zu schreiben, daß er, Kortüm, für die Einladung zur Hochzeit ergebenst danke und mit Vergnügen erscheinen werde . . .

»Alle Wetter«, murmelte Langloff. Er nahm den Hut, machte sich auf den Weg und schritt tüchtig aus. Etwas ungelegen kam er gerade zur Sprechstunde im Doktorhaus an.

»Ich muß meinen Sohn sofort sprechen«, fuhr er die Haushälterin an.

Nach wenig Minuten trat der Doktor heraus: »Vater?«

»Auf zwei Worte.«

Im Wartezimmer saßen Patienten. Das alte Starckehaus war klein. Verlegen, wo sie miteinander sprechen könnten, traten sie in die Küche und schickten die Haushälterin hinaus.

»Was sagst du nun? Der Kerl kommt!«

Der Doktor zuckte mit den Achseln: »Ich habe dir's ja gesagt: man kann nie voraussehen, was er tut.«

»Ja, aber . . . nach der Preisgeschichte in Jena . . . nach der Eröffnung von ›Hackemann‹, sein Haus leer, unseres voll – er kann doch gar nicht zusagen, Schockschwerenot!«

»Du siehst's ja. Er kann. Ganz harmlos kann er. Und paß auf: der redet noch bei Tisch.«

480 »Was? Haha. Verhindr' ich.«

»Wie denn?«

»Oho! Wie redet er über dich! Und über mich! Da soll doch –«

»Das« – der Doktor machte eine Handbewegung – »na ja. Wir reden ja auch über ihn. Ich habe nur Sorge, was alles auf der Hochzeit passieren kann.«

»Glatt unverschämt«, murmelte der Alte. So sagte Langloffvater: unverschämt. Erst ließ sich Herr Kortüm von dem schlauen Kapitän Zug um Zug Bauer, Springer, Turm und Dame nehmen und dann, bei Gott! dann erschien der Geschlagene auf des anderen Siegesgastmahl ergebenst und mit Vergnügen . . .

»Alle Achtung«, murmelte der Kapitän Langloff widerwillig hochachtungsvoll.

Die Vorbereitungen zur Hochzeit boten aber noch andre Schwierigkeiten. Mimi Schlick wollte durchaus das schönste Fest des Lebens auch diesmal wieder in ihrer Heimat, in Geestemünde feiern.

»Nein«, antworteten Langloffvater und Langloffsohn. Sie begründeten das Nein unwidersprechbar: »Dieses Hochzeitsfest muß, wie alles liegt und steht, vor allem vom Gesichtspunkt der Werbung aus betrachtet werden. Wir brauchen die gute Meinung der hiesigen Umgebung. Also muß Geld unter die Leute gebracht werden. Wir machen uns angenehm und nützlich. Nichts überzeugt so wie Benutzbarkeit. Doktorrechnungen sind nie angenehm. Also lassen wir uns mal einen ordentlichen Haufen Rechnungen von den Nachbarn schicken und bezahlen wir sie postwendend.«

Mimi war traurig. Sie hatte ein gefühlvolles Herz. Der alte Kirchturm zu Hause, die verschnittenen Linden, der wohlvertraute Altar – sie hatte es sich so poetisch gedacht. Nun sollte aber die Feier wenigstens ganz das heimatliche Gepräge tragen.

»Besenröder Gepräge«, mahnte der Alte.

»Nun, Vater – da muß man auf Mimis Wünsche Rücksicht nehmen. Was meinst du zum Beispiel, Liebe?«

»Es muß so sein: die Hochzeitsgäste und Zuschauer sitzen schon, und die Orgel spielt, und nun betritt das Brautpaar die Kirche. Wir kommen langsam herein«, sie nahm den Arm ihres Bräutigams und ging mit ihm auf dem Teppich hin, »und nun hört der Organist mit dem Präludium auf und spielt – aber ganz leise bloß – weltliche Lieder. Passende Lieder natürlich. ›Wir winden dir‹ und ›Aus der Jugendzeit‹ 481 und so was, Walter. Wenn das so langsam und leise klingt und man geht so hin dabei, die Tränen kommen einem in die Augen, so schön ist es. Bis wir an den Altar kommen. Nun fängt wieder die richtige geistliche Musik an. Aber die macht sich jetzt nochmal so weihevoll.«

»Ach, in der Art«, sagte der Alte beruhigt und steckte sich eine neue Zigarre an. »Das schad' nicht.«

»Und nun die Tischordnung. Die hab ich mir so ausgedacht. Die Schlicks, die Wodtkes, die Langloffs –«

»– die Kortüms«, knurrte der Kapitän. Aber am Ende war auch Mimis Tischordnung zu genehmigen.

»Jetzt die Speisenfolge«, begann die Braut von neuem, »wir müssen eine Doppelspeisenfolge reichen lassen: Vollküche und Diätküche –«

»– da haben wir's ja«, seufzte der Alte.

»– und dazu unsre heimischen Gerichte.«

»Dreifach also, mein Kind. Na ja. Da braucht keiner, wenn er nicht Diät will. Und eure Geestemünder Leberwurst zum ersten Frühstück – da laßt euch man was kommen.«

Als schließlich der Hochzeitstag anbrach, war die Braut ganz erschöpft von Versuchen, fremde Gebräuche in Besenröder Sitten einzubauen. Der Widerstand gegen gewisse heimische Sondergerichte nahm gefährliche Formen an. In der norddeutschen Wurst hatte die Thüringer Köchin Rosinen entdeckt. Erst dachte sie, es wären bloß Fliegen: »Nee!«, schrie die arme Frau aus, »das duld' ich nich! Das kost mich meinen guten Ruf! In meinem Leben krieg' ich keine Stelle wieder. Die Wurscht muß naus!«

Nur des alten Kapitäns Autorität rettete schließlich die Würste vor Mißhandlungen.

»Holt doch euern Verwandten Kortüm zum Kochen, Deuwel noch mal«, grollte der Alte, wenn sich die Kämpfe in der Küche bis an seinen Lehnstuhl zogen. Dieser Kortüm bereitete ihm mehr Sorgen, als Rosinen in der Wurst waren. Es stand tatsächlich zuverlässig fest, daß der Besenröder Schneider gestern Morgen gegen elf Uhr Kortüms Frack samt weißer Weste frisch gebügelt aufs Flügelhaus getragen hatte: »Der Kerl kommt wirklich!«

»Na, denn komm du man her, Elvira, altes Mädchen. Dunnerkiel, was hast du dir aufgetakelt. Die rote Rose da in Backbord. Wie 'ne Notlampe, Elvira.«

Elvira war beleidigt. Aber man kannte ja den Grobian, und was er ihr nun weiter zu eröffnen hatte, klang besser, klang sehr gut: Elvira 482 solle sich bereit halten. Sein Sohn würde sie – na, so in drei, vier Monaten in eins seiner Häuser setzen: »Deine Leibrente ist man mager, Elvira. Wir wollten eigentlich 'ne Hiesige nehmen. Aber die hat uns der neue Verwandte weggeschnappt, dieser Gastronom. Kortüm heißt der Kerl. Merk dir den Namen, Elvira. Und hab Achtung. Hörst du? Jetzt red ich im Ernst. Immer scharf Backbord, wenn du'n siehst. Und wenn mal was besondres sein sollte – es kann ab und an was besondres sein! – wend dich an mich, Elvira.«

Treppauf, treppab hastete es in der Pension Hackemann. Die Gäste wollten natürlich auch etwas sehen, und die Bänke im Mittelschiff der Kirche waren bereits gut besetzt. In der Mitte der ersten Reihe hatte Herr Kortüm Platz genommen. Immer noch kamen Leute. Auf der Orgelempore verteilte der Organist Notenblätter an die Singekinder. Der alte Kantor leitete heute die Aufführungen nicht – der kränkelte seit jenem Dominantenspiel des Todes. Mimi war auch ganz zufrieden, einem jungen Mann ohne Vorurteile ihr Musikprogramm darlegen und ihre Lieblingsmelodien aus der Jugendzeit nennen zu können. Der jugendliche Vertreter des Kantors fand den Gedanken sehr reizvoll. Zum Glück ist der Alte krank und hört's nicht, dachte er und stellte mit Mimi eine hübsche Liederfolge zusammen.

Mit Hilfe eines flinken Bengels, der um die Kirchenecke gucken und Botschaft auf die Empore bringen mußte, gelang auch alles aufs beste. Das feierliche geistliche Präludium erschallte. Knackfuß trat Luft, reichlich Luft. Es war ja Hochzeit, es gab ein Aufgeld, und es gab außerdem auch noch Getränke. Sicherlich gab es auf dieser Hochzeit Langloff reichlich Getränke aller Art: als er heute früh zur Probe gegangen war, hatte Knackfuß seinen Orgelspieler, des alten Kantors jungen Vertreter, den keiner recht kannte im Ort, den hatte er am offenen Fenster des Hackemannhauses stehen, mit Frau Mimi reden und dabei aus einem Glase eine dunkelbraune Flüssigkeit zu sich nehmen sehen.

»Na, ich hol es nach«, tröstete sich Knackfuß, als er den jungen Organisten recht beschwingt und fröhlich die Emporentreppe hinanklimmen sah, »aber genehmigt hat der schon einen.«

Fleißig trat er die Bälge. Das Präludium klang feierlich. Der junge Mensch spielte nicht schlecht. Knackfuß war zufrieden. Unterm Leitersteigen und Hinabrutschen in der Bälgekammer gedachte er des dunkelbraunen Getränkes: »Was es bloß war, verdammig. Schnaps? Nee, dazu sind die Langloffs zu fein. Bier? Der Schaum fehlte. Rotwein? Nicht rot genug. Weißwein? Zu rot . . .«

483 Plötzlich packte Knackfuß in jähem Schreck die Haltestange – was war das? »Ich hab mir's doch gedacht! Der hat ein' genehmigt! Verdammig, der spielt je Walzer in der Kirche!« . . . Knackfuß horchte: »Lieber Gott, jetzt macht er 'ne Polka.« Den Tod eines Organisten kann sich ein Bälgetreter aufs Gewissen laden bei leichtsinnigem Luftmachen, er hatte es doch erlebt – ein Ruck, Knackfuß hob das Gegengewicht aus – er atmete auf: tiefe Stille in der Kirche.

»Sauferei verdammigte. Der junge Mensch hätte je sich ums Brot gebracht.«

Wie eine abgelaufene Spieluhr waren in der Kirche Musik und Hochzeitszug stehen geblieben. »O wie liegt so weit, was« – Schluß. Rosen lagen auf dem Läufer verstreut, Nelken – Mimis linker weißseidener Schuh berührte eben mit der Spitze den Boden – Schluß. Das kunstvolle Uhrwerk stand. Lackstiefel und Silberschuh – reglos. Frackröcke und Seidenbausch – puppenhaft starr . . . nicht einmal die Köpfe drehten, wendeten sich: jedes Ohr lauschte . . . gleich mußte es wieder anfangen zu spielen. Quälende Sekunden, als nun der erste begann, den andern fragend anzusehen. Da erhob sich eine gewichtige Gestalt – Herr Kortüm. Er verbeugte sich leicht vor dem Brautpaar, das gerade in Höhe seiner Bank erstarrt war, machte eine einladende Handbewegung zum Altar hin und sprach gedämpft: »Ohne Bedenken« – er setzte sich, näherte den Mund dem Ohre seines Nachbars, Wodtke saß neben ihm, und sprach wiederum gedämpft, aber der ganzen Kirche vernehmlich: »Thüringer Festivitäten. Ich kenne das. Es ist hier so.«

Der Zug kam wieder in Gang, musikalisch freilich nur begleitet von dem zornigen Bimmeln der Orgelklingel in der Bälgekammer. Der Organist riß beinahe den Ziehknopf ab in seiner Verzweiflung, bis der Vorsänger mündlich die Bestellung auf Luft in die Kammer brachte. Nun hatte Knackfuß keine Verantwortung mehr. Er hatte das seinige getan. Knackfuß konnte sich wieder an seine Dienstvorschrift halten.

»Ein böses Omen«, flüsterte Mimi auf den Altarstufen.

»Unsinn«, murmelte der ebenfalls erschrockene Doktor.

Da setzte die Orgel wieder ein.

Die feierliche Handlung ging ohne weiteren Zwischenfall zu Ende. Auf dem Rückweg machten die Herren bereits wieder Späße über das außer Atem gekommene Lied.

Nur der alte Langloff kniff die Augen noch fester zusammen, und die braune Seemannshaut seines schlauen biederen Gesichtes war in unzählige Fältchen geknittert: alle, sagte er sich, hatten beim Versagen der 484 Orgel die Fassung verloren, alle – bis auf einen! Wer nicht? Kortüm nicht! Warum nicht? Natürlich: der wußte eben Bescheid. In Langloff stieg ein schwarzer Verdacht auf. Der Kerl stak dahinter! Wer sollte heute auch an einem Ärgernis eine Freude haben? Niemand. Denn alle verdienten an der Hochzeit. Nur einer verdiente nicht: Kortüm nicht! Man erzählte sich da allerlei von einem Erdbeben, das auf dem Flügelhaus stattgefunden haben sollte. Wenn ein Kerl schon der Musik den Wind aus der Orgel genommen hat, was konnte der noch planen? Langloffvater bekam Angst. Er bog in den Seitenweg ein, betrat vor den Gästen das Haus. Er guckte unter den Tisch, ob die Beine etwa angesägt waren, denn wer Erdbeben machen kann . . . Hatte dieser Kortüm vielleicht nur zugesagt, er, der nicht mit Lieferungen und Leistungen für die Hochzeit Bedachte, um . . . Langloffvater lief in die Küche, stach mit der Gabel in die Braten, kostete die Soßen – kurz, der alte Kapitän kränkte die Köchin auf alle Weise. Sie sagte ihm denn in deutlicher Besenröder Sprache, was hierzu zu sagen war. Da hielt Langloff plötzlich den Kostelöffel reglos vorm Mund, eine Weile starrte er in scharfem Nachdenken geradeaus, dann warf er den Löffel hin und verschwand aus der Küche. Die geprüfte Köchin irrte aber, wenn sie glaubte, ihr Thüringer Zorn habe ihn vertrieben. Der Kapitän hatte die fremden Laute gar nicht verstanden. Nein, die Hauptsache war ihm eingefallen! Der Festwein! Der Gasthof »Zur Forelle« hatte ihn geliefert. Man wollte doch auch Esperstedter Einwohnern Verdienst zuwenden. Es hieß, eine Sorte sei in der »Forelle« nicht vorrätig gewesen und der Forellenwirt habe Herrn Kortüm um Aushilfe gebeten. Langloff eilte ins Badezimmer. Anscheinend harmlos ragte die gewaltige Flaschenbatterie Hals neben Hals aus dem Eiswasser. Welche Flaschen kamen aus Kortüms Keller? Freundlich blickten ihn die Hälse an. Aber wer traut dem Teufel? Dem alten Kapitän kam das kleine nette Arracfäßchen in den Sinn, das sie einmal im Hafen von Rangoon vor vielen Jahren in einer lustigen Nacht angebohrt, abgefüllt und – gut mit Petroleum wieder vollgegossen – kunstreich verschlossen hatten. Hm, der Alte besah schmunzelnd die Bouteillen in der Wanne: nach London war es fakturiert; wer mag das gewesen sein, der sich damals gewundert hat über den Arrac in London? Zum Teufel, ihm, dem Kapitän Langloff, sollte man nicht so kommen! Von Orgelmusik verstand er nichts. Aber – ha! Der Alte zog den Badehocker heran, setzte sich, holte den Korkenzieher aus der Tasche, öffnete die erste Flasche und nahm einen Probeschluck. »Ahh!« Diese Flasche jedenfalls war 485 gut. Er stellte sie links von sich. Flasche um Flasche hob der gewissenhafte Hochzeitvater aus der Badewanne und stellte sie nicht eher links zu den gutbefundenen, bis einwandfrei feststand: auch diese ist gut. Da die Wanne mit vielen verschiedenen Sorten gefüllt war – von den Gewächsen der Mosel, der Saar, Rheinhessens bis hin zu dem Saft der schweren Pfalz – und da die öligen Ausbrüche der fremdländischen Nachtischweine um den Badeofen herum auf dem Fußboden standen – nur der Rotwein war in der Anrichte aufgestapelt, da würde er nachher mal hingehn – da also allerlei in diesem Badezimmer auf seine Bestimmung wartete und der Alte die Creszenzen in der knappen Zeit unmöglich erst in bekömmliche Probiergruppen ordnen konnte, gestaltete sich die Prüfung gar nicht leicht. Mancher Flasche mußte er einen zweiten, einen dritten, ja einen vierten Probeschluck entnehmen, ehe er hinter den Eigengeschmack und seine verläßliche Reinheit kam. Freilich drängten ihm die Kräfte, welche im Weine schlummern, je länger desto beschwingter entgegen und verliehen ihm eine von Probe zu Probe steigende Prüflust. Schon stand ein ansehnlicher Posten einwandfreien Getränkes links von ihm, und der Alte zog weiter Gewächs um Gewächs frischen Mutes wie Unkraut aus dem Eisteich.

Bekanntlich genießt eine noch nicht aufgetaute größere Hochzeitsgesellschaft zwischen Kirche und Tafel das eine oder andere Törtchen, wohl auch einen Happen gewürzten Fleisches, und sie trinkt einen kleinen Schluck Vortischwein dazu. Die Stimmung hebt sich dabei, ohne gleich zu wohltemperiert zu werden. Die Hochzeitsgäste standen in den Festräumen herum, unterhielten sich ein wenig, begutachteten und verglichen die Hochzeitsgeschenke nach Geld- und Geschmackswert und sahen sich von Viertelstunde zu Viertelstunde länger nach der Flügeltür um, hinter welcher sie die Hochzeitstafel ahnten.

Sidonie sagte: »Bei uns geht man auf Hochzeiten spätestens eine Viertelstunde nach der Trauung zu Tisch.«

Ulrich: »In meiner Heimat auch.«

Frau Tips: »Wenn unser Willi mal heiratet, überlegen wir die Zeiteinteilung vorher.«

Der Gymnasiast Willi: »Ich habe Hunger.«

Wodtke aber sagte – freilich leise und nur zu seiner Schwester: »Himmelschocksternbombenelement, fängt die verfluchte Fresserei nu an oder nich!«

Es duftete ja auch längst nach Braten. Die Köchin hatte den 486 Lohndiener schon zweimal geschickt: es wäre höchste Zeit, die Kruste brutzelte schon. Die Jugend begann eine zwanglose Gruppe zu bilden, welche immer lauter wurde. Die Alten sahen nicht ein, warum sie stehen sollten, nahmen Platz und gähnten. Alles war da und bereit – nur einer fehlte: der liebe Vater. Wo war der Kapitän? Man suchte im Schlafzimmer, auf dem Balkon, im Garten. Man klopfte an Türen, hinter denen er allenfalls noch einmal rasch verschwunden sein könnte. Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein? Auf dem Weg von der Kirche zu »Hackemann« war er zuletzt gesehen worden. Wodtke erinnerte sich, daß ihm der alte Herr da schon sonderbar vorgekommen wäre – so in sich gekehrt.

Herr Kortüm stand neben seiner Tischdame Elvira, und Elvira sah ihn forschend an: »Sie wissen auch nichts?«

Aber Kortüm machte nur eine scharf waagrechte Handbewegung: »Thüringer Festivitäten. Ich sagte es bereits. Das ist hier so.«

Die Lage wurde bedrohlich. Ohne den Vater ging's doch nicht. Der Doktor lief schließlich selber durchs Haus, riß alle Türen auf: »Vater!« und fand ihn hinter der letzten: »Aber Vater . . .«

»Jawoll, haha!« – in der Badewanne befand sich kein prüfbarer Stoff mehr. Der Alte war mit seinem Hocker an den Badeofen gerückt, untersuchte die Nachtischweine und drehte der Türe dabei den Rücken zu. Die Enden seiner Frackschöße saugten sich auf dem Kachelboden voll Wasser, Korkstöpsel lagen herum wie Schrapnellkugeln nach schwerem Gefecht. Dem Alten mußte das enge Badezimmer zugesagt haben, vielleicht waren Kajütenerinnerungen in ihm aufgestiegen. Er rauchte eine mächtige Hochzeitsnachtischzigarre mit rotgoldner Binde – »Haha!« – und zeigte auf das geprüfte Material: »Ohne Bedenken! Ganz ohne Bedenken, mein Junge!«

Am Arme seines Sohnes betrat der Kapitän die blumengeschmückten Festgemächer. Vor seinem inneren Auge verwandelte sich die Enge der Kajüte in die Weite des Sonnendecks, die Flieder- und Rosensträuße in Palmenwedel: »Na Kinnings, denn wollen wir man losheiraten« – und er begann den seltsamen Verlauf einer Hochzeitsfeier in Olohombo zu schildern, die er mitgemacht hatte. Die Braut schlug die Augen nieder angesichts der Gebräuche jener zivilisatorisch noch unberührten Negerbevölkerung. Die Hochzeitsgesellschaft traute ihren Ohren nicht. Herr Kortüm zog die Augenbrauen ganz hoch. Er hatte ja auch viel von der Welt gesehen und wußte besser als die sonstige Verwandtschaft, was von der schwarzen Mary ohne Gnade jetzt noch zutage 487 kommen würde, wenn der fröhliche Kapitän sein Garn unbehindert weiterzuspinnen vermochte.

»Also, Elvira: sie nimmt den Palmschurz ab –«

»He thinks the Mary«, unterbrach ihn Kortüm, griff nach Langloffs Arm, henkelte ihn ein – da standen die beiden großen Männer des Schottengeländes Arm in Arm! Er oder ich! hatte Langloff gesagt. Und Holdermann hatte die zwei malen wollen als ein Doppelbildnis . . .

»– den Palmschurz also –«

»– ab. Ganz recht. Ich habe mir einen solchen Palmschurz mitgebracht –«

»– man bloß nicht aufschneiden –«

»– er hängt in meinem Museum, Herr Kapitän: überzeugen Sie sich –«

Und Herr Kortüm führte den ungläubigen Kapitän vor den Augen der dankbaren Hochzeitsgesellschaft aus dem Saal. Aber noch innerhalb des Festraumes begann Langloff von gefälschten Palmschürzen zu reden, von der Tatsache, daß Schürzen als solchen, ob Kattun oder Palmenblatt, nicht zu trauen sei, von falschem Wein, falschen Orgeln und falschen Gastronomen. Der Lohndiener jedoch öffnete weit die Flügeltür, und die Festgäste nahmen endlich Platz. Das Tischgespräch war ein zweiteiliges: wie Diät- und Vollküche, so gab es Diät- und Vollsätze. Laut unterhielt man sich vom Krieg in China, leise von der Erscheinung Langloffs und dem Verschwinden der beiden Senioren dieser Tafelrunde. Wie man weiß, verwandeln sich mündliche Nachrichten, besonders wenn sie pianissimo weitergegeben werden müssen, auf ihrem Wege in ganz merkwürdiger Weise. Sie folgen jenem von der Sprachwissenschaft leider noch nicht erforschten Gesetz einer geheimnisvollen Lautverschiebung. Aus dem Wort »proben« zum Beispiel wird »zechen«, die Selbst- und Mitlaute von »zechen« verunstalten sich zu »saufen« und dieses alte Wort »saufen« tritt dann auch noch aus dem Indikativ Präsentis in das abschließende Partizipium perfecti »besoffen«.

Der alte Langloff – »haha, Herr Kortüm!« – ließ sich nicht ins Kortümmuseum führen. »Nee nee, wer weiß . . .« Er suchte sich einen schönen Ledersessel im leeren Schreibzimmer der Pension Hackemann, erzählte Herrn Kortüm noch dies und das von Olohombo, sprach von Liebe und Ehe in fremden Erdteilen – was man jedoch nicht in diesem Buche finden, sondern in den einschlägigen ethnographischen Werken nachlesen wolle – und schlief ein.

488 Kortüm ging in tiefen Gedanken um den Stuhl seines nicht gemalten Pendants der Holdermannschen Bildidee herum. Aber Langloff schnarchte so mächtig, daß Kortüm sich aus dem Fenster lehnte, um nachzusehen, ob dieses Schreibzimmer etwa über dem Speisesaal läge und der Kapitän die Unterhaltung der Hochzeitsgesellschaft beeinträchtigen könne. Nein, es lag genug Raum zwischen der Hochzeit und dem Hochzeitsvater.

Ihm ist geholfen, dachte Kortüm, fühlte die Leere in seinem Magen und sagte laut: »Helfen wir nun uns.«

Als ihn der Lohndiener auf dem Flur erblickte, öffnete er weit die Flügeltür. Herr Kortüm betrat die Schwelle des Saales.

Es muß berichtet werden, daß bei seinem Anblick ein deutlich vernehmbares »Ahh« im Speisesaal hörbar wurde. Zwei leere Stühle – Stühle, den Würdigsten gestellt! – bedrücken jede Tafelrunde. Jetzt nahte wenigstens der eine Präsident.

»Wunderbar!« rief Wodtke, »nun kriegen wir auch noch unsre Tischrede.«

Kortüm sah ihn fragend an.

»Ach ja«, flüsterte die tief erregte Mimi, »Schwiegervater hält ja die Begrüßungsrede heute doch wohl nicht mehr.«

»Wohl nicht« – Herr Kortüm trat zu dem leeren Stuhl in der Mitte der Tafel, so daß er neben Mimis Platz stand. Elvira mußte heute auf einen Tischherrn verzichten. Es war nicht so gedacht, aber es hatte sich so gemacht. Und Herr Kortüm ließ sein Auge über die Festgäste schweifen, nickte ihnen zu und begrüßte sie in Vertretung des Herrn Kapitäns, der erst später in ihrer Mitte erscheinen werde. Kortüm wies auf die Schüsseln, Platten und Flaschen: man greife freudig zu. Hochzeit sei eine seltene Feier. Man esse und trinke nach Kräften, so daß es dem Hausherrn noch in späten Tagen eine Lust wäre, so feierfroher Gäste zu gedenken. Er, Kortüm, wisse es: ein Festprogramm sei nur der magere Umriß – die Gäste erst malen ihn aus in bunten Farben, und der Wirt brauche sich dann nur des leuchtenden Bildes zu freuen. »Ja, meine Verehrten, ein Wirt denkt, und der Gast lenkt: feiern wir! Genießen wir, was uns in Fülle geboten! Zum Wohle! Es lebe das junge Paar!« rief Kortüm, der Hochzeitsgast, und hob sein Glas.

Es wurde doch noch eine schöne Feier. 489

 


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