Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Das andere Richtfest

Zimmer Nummer Eins lag im ersten Stock des Schottenhauses. Hinter der weißlackierten Flügeltür, die von schmalen, bis auf den Fußboden reichenden Spiegeln eingefaßt war, wohnte Konstanze Schröter.

Tiefe Ruhe lag zu dieser achten Morgenstunde über der Gegend um die Spiegeltür. Wenn ein unachtsamer Angestellter den Befehl des Herrn Kortüm übertreten und sich in diese Umgebung gewagt hätte, so würden dicke Flurläufer jedes Geräusch aufgesaugt haben. Aber es getraute sich niemand her. In den Dingen rings um Nummer Eins herum verstand Herr Kortüm keinen Spaß und brauchte nur in 320 größeren Zwischenräumen die Ausführungen seiner Anordnungen zu prüfen. Neu ankommende Gäste, die nicht Bescheid wußten, waren in so früher Morgenstunde nicht zu erwarten.

Klaus Schart hatte den Nachtzug benutzt, von der letzten Umsteigestelle ein gutes Stück laufen müssen und kam mit taunassen Stiefeln vor dem Schottenhaus an, ohne vom Herrn des Hauses oder einem Bedienten bemerkt zu werden. Er betrachtete sich offenbar auch gar nicht als gewöhnlichen Gast, trat ins Haus und stieg die Treppe hinauf. Im Spiegel links von Konstanzes Tür tauchte zunächst sein blonder Haarschopf auf, dann sein Kopf, seine Jacke – schließlich stand der ganze Schart in dem Spiegel und sah sich an. Was er hier wollte, hätte er schwer sagen und überhaupt nicht begründen können. Er wußte es wohl selbst nicht. Denn morgens zwischen sieben und acht konnte er sich doch nicht bei Konstanze für die Einladung bedanken wollen. Für die Vorlesung seiner Richtfestrede war es auch noch zu früh. Am ehesten hätte sein Wunsch eingeleuchtet, das Kortümmuseum zu besichtigen. Aber diese Räume lagen ein Stockwerk höher, und Klaus rührte sich nicht von der Stelle, blickte in den Spiegel und sah nicht einmal etwas. Denn sonst hätte er jetzt im Spiegel rechts von der Türe eine andre Gestalt auftauchen sehen. Zunächst ganz klein. Die Gestalt kam vom Ende des Flures lautlos auf den Teppichen herangewandelt. Aber sie wurde langsam größer, immer größer, und schließlich paßte sie kaum noch in den schmalen Spiegel: Herr Kortüm stand in gleicher Höhe mit Klaus Schart vor der weißlackierten Tür, nur um die Breite des Flurläufers von dem jungen Mann getrennt. Er kratzte sich langsam am Kinn und sagte endlich zu dem benachbarten Spiegelbild: »Guten Morgen.«

»Ahh – Herr Kortüm! Guten Morgen.«

»Bitte sprechen Sie hier nicht so laut, Herr Schart.« Mit einer großen Handbewegung lenkte er Klaus Scharts Aufmerksamkeit auf die leeren Flurwände. »Ich würde Ihnen einen Stuhl anbieten, aber Sie sehen, an dieser Stelle ist keine Sitzgelegenheit vorgesehen. Man würde sie als unpassend empfinden. Wir gehen wohl besser in die eigentlichen Gasträume hinunter.«

Herr Kortüm schritt voran. Klaus folgte auf den Zehen und sagte: »Ich bin nämlich in Ottstedt ausgestiegen und dann gelaufen.«

»Und zwar gleich bis hier herauf in den ersten Stock«, nickte Herr Kortüm, »ganz recht, ich sehe es.«

Die beiden Spiegel standen wieder menschenleer und vornehm gläsern neben der großen geschlossenen Flügeltüre, hinter der Konstanze schlief.

321 Herr Kortüm zeigte dem Schulmeister sein festlich bekränztes Bildnis: »Es ist erst vor kurzem fertig geworden, zeigt mich jedoch nicht nur in meinem gegenwärtigen Zustand, sondern als Kortüm überhaupt. Nur das eine Wappen rechts fehlt noch.«

Staunend betrachtete Klaus den ewigen Kortüm: »Als ich zuletzt hier oben war, hing nur ein kleines Wappenbild auf der leeren Wand. Sie hielten sich damals grade in der Stadt auf.«

Das Spiegelbild Scharts neben Zimmer Nummer Eins ärgerte Herrn Kortüm immer noch ein wenig, und er sagte: »Wenn Sie in Zukunft das Schottenhaus besuchen und, wie es das passendste ist, zuerst in diese Halle eintreten, werden Sie mich nicht mehr vergeblich in anderen Teilen des Hauses suchen« – er wies auf das Bild – »ich bin da.«

Unwillkürlich verglich Schart Bild und Vorbild: »Das Bild ist sprechend ähnlich, aber es antwortet nicht –«

»Wollten Sie mich etwas fragen?«

»Ja.« Klaus nickte und fing von seinem Richtspruch an. Ein Spruch wäre es eigentlich gar nicht geworden. Aber Frau Schröter habe geschrieben, daß Verse nicht nötig seien. Er habe also eine Geschichte geschrieben: »Wie Pedro zu seinem Hause kommt.«

»Wer?«

»Pedro. Ich nenne den Mann in meiner Geschichte Pedro, weil er landfremd ist, wissen Sie?«

»Wo spielt denn Ihre Richtfestgeschichte?«

»Am Bodensee.«

»Aha. Und der Held ist ein Thüringer namens Pedro.«

»Nein. Ein Spanier namens Sancho, Herr Kortüm.«

Eine Weile sah Kortüm den Schulmeister von der Seite an. Dann kaute er mit den Zähnen, als ob er einen fragwürdigen Geschmack im Munde habe und sagte endlich: »So. Nun . . . vielleicht wäre es nicht falsch, wenn Sie mich mit dieser spanischen Geschichte vorher bekannt machten – eben noch haben Sie den Mann doch Pedro genannt, wenn ich recht verstanden habe.«

Klaus belehrte Herrn Kortüm eifrig: »Der das Haus vielleicht bekommt, das ist Pedro. Aber der richtige Held heißt Sancho.«

»Erlauben Sie, junger Mann – nicht der Held, sondern der andre kriegt das Haus, und das soll eine Richtfestrede sein?«

Der ganz richtige Held seiner Geschichte, erklärte Klaus weiter, wäre eigentlich auch jener Sancho nicht, sondern wieder ein andrer, und der 322 bekäme überhaupt und grundsätzlich und niemals etwas, außerdem sterbe er gleich im ersten Abschnitt und trete erst im vierten wieder auf – –

Jetzt wurde Herr Kortüm ernstlich besorgt. Eine Festrede mit einem Helden, der am Anfang stirbt und hinten wieder aufsteht?

»Dort, am Abhang nach Besenroda zu, steht eine neue Bank: wir wollen uns ruhig hinsetzen, und Sie erzählen mir Ihre Geschichte. Die Bank ist sehr abgelegen. Sie können mir ungestört alles sagen.«

In Büschen wilder Rosen versteckt stand Kortüms neue Bank. Noch trugen die Dornenreiser kaum Knospen, aber der Sitz lag heimlich eingesponnen in das Dickicht. Steil fiel der Abhang ins Ilmtal ab. Tief unten lag das Dorf.

An die Rückenlehne der Bank war ein Schild genagelt mit dieser dreizeiligen Aufschrift: »Gottesblick – Eigentümer F. J. Kortüm – Nur für meine Gäste.«

Herr Kortüm nahm Platz: »Setzen Sie sich, Herr Schart.«

Klaus las immer noch die Aufschrift. »Gottesblick«, murmelte er und sah von Herrn Kortüm weg prüfend in die Tiefe des Tales hinunter. Die Straßen erblickte er wie Striche auf einer Landkarte, die Häuser wie Bienenzellen, die Menschen wie hin und her rückende Spielfigürchen – unter jedem Hutpunkt ein heller Fleck: das Antlitz der Person. Ob das aber der Albrecht war oder der Monich oder der Hiebrich, konnte Klaus nicht entziffern. Und erst recht nicht, ob es in dem Fleck unter dem Hutpunkt lachte oder Sorgen fraß und Tränen verschluckte. Nur von einer Stelle auf die andre rücken sah man die unkenntlichen Figürchen vom Gottesblick aus, die große Richtung ihres Wandelns erkannte man, das bloße Lebendigsein und den maßlos leeren Raum, in dem es lebte . . .

Gottesblick? Klaus schüttelte den Kopf: »Im Katechismus steht das anders. Je höher Sie Ihre Ruhebank stellen, desto mehr sieht man vom Land und desto weniger von den Einwohnern.«

Herr Kortüm lächelte nur und wies mit der Krücke seines Stockes auf ein Flugzeug, das kaum sichtbar zwischen den Wolken seines Weges surrte: »Die höheren Ansichten kenne ich leider auch nicht. Vielleicht sieht man dort oben so viel, daß gar nichts mehr zu sehen ist. Nichts Lebendiges meine ich. Setzen Sie sich, Herr Schart. Ich habe genug durchgemacht, um meinen Gästen diesen Gottesblick hier guten Gewissens als hinreichend und als zuträglich empfehlen zu können.«

323 »Da würde ich die Bank aber den Kortümblick nennen.«

»Nicht bei meinen Lebzeiten, junger Mann. Es ist so für alle Beteiligten unverbindlicher.«

Der alte und der junge Mann vergaßen über diesen und anderen Gesprächen, vom Gottes- und vom Menschenblick nach dem Himmel zu sehen. Hinter ihnen war eine bleigraue Wolkenwand aufgestiegen. Die ersten großen Tropfen klatschten auf die Erde. Kortüm sprang auf. Die Holzarbeiten in seinem noch dachlosen Neubau kamen ihm in den Sinn. Klaus Schart war noch schlimmer dran. Er trug den Anzug auf dem Leibe, in dem er nachher Konstanze begrüßen mußte. Ohne des Richtspruches zu gedenken, eilten sie nach dem Schottenhause. Aber es goß schon, ehe sie den Gartenzaun erreichten. Klaus wurde so naß, daß er sich in die hinteren Räumlichkeiten begeben mußte, um mit Liese und Lieses Bügeleisen eine Verbesserung seines Äußeren zu versuchen. Der Schulmeister war recht niedergeschlagen. Überhaupt verlief dieser Festtag ganz anders, als er sich's gedacht hatte. Es regnete in Strömen. Feuchte Gebirgskühle wehte durch das Haus. Konstanze ließ sich wenig sehen. Außer den üblichen Begrüßungsworten, die man in Gegenwart anderer Leute findet, konnte er kein Wort mit ihr wechseln. Schließlich war sie ganz verschwunden, und Liese erzählte, daß die Dame einfach zu Bett gegangen sei und lese. Über den Professor Holdermann aber war plötzlich das Pflichtbewußtsein hereingebrochen: in dieser wirklich allerletzten Stunde stieg er auf die Bockleiter, um rasch noch das Kortümwappen fertig zu malen.

Oh, wie gut erinnerte sich Klaus Schart noch jenes festlichen Abends, als die ersten Schauspieler aufs Schottenhaus gekommen waren . . . Erwartungsvoll sah er sich überall nach dem von Herrn Kortüm persönlich gedeckten Tisch um, nach dem seltenen Porzellan, dem alten Hamburger Familiensilber, den Blumen – nichts dergleichen entdeckte er. Keine Spur Festlichkeit in diesem großen ausgekühlten Hause. Holdermann antwortete auf seine Frage, wo denn das Festessen stattfinde: »Das war doch schon vorige Woche« – und malte weiter.

Es wurde zeitig dunkel. Man speiste an kleinen Tischen, wie immer, ohne Aufwand. Konstanze ließ sich auch jetzt nicht blicken. Immer stiller wurde es im Festhause. Klaus kam es am Ende vor, als ob nunmehr sämtliche Insassen zu Bett gegangen wären und sich mit Lektüre beschäftigten. Er rief auf den Flur hinaus: »Liese! He!! Ist niemand hier?«

Stille. Tiefe Ruhe und Dämmerung.

324 »Die liest wohl auch, verdammt nochmal!«

Bei diesen Worten aber war die Haustür aufgeflogen: »Wer flucht denn hier so, verdammig!?« Ein triefender Regenschirm klemmte sich durch den Türspalt. »Ach so, Sie sin's. Guten Tag auch.« Monich klappte den Schirm umständlich zu, schälte sich aus dem Mantel und begann, die nun bloßliegenden Körperteile ächzend mit seinem rotgepunkteten Taschentuch zu reiben: »So 'ne Nässe . . . Sind Sie auch in'n Regen gekommen? Nee? Na – wo wolln Sie 'n hin?«

»Auch ins Bette«, sagte Klaus trotzig.

»Hä?«

»Und lesen.«

»Nee, mein Lieber. Jetzt wird nich gelesen. Gearbeitet wird jetzt. 's geht gleich los.«

»Was geht los?«

»Nu, 's Richtefest!«

»Darauf warte ich seit heute früh.«

»Hähä. Haben Sie mich heute schon hier oben gesehn? Nee? Also! Ehe Monich nich da is, geht auch 's Fest nich los – he!«

Der Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr hatte einen anderen Ton am Leibe. Liese, der Hausknecht – eine Hilfskraft nach der anderen erschien.

»Lampen aus im Saal! Lichter solln angebrannt werden. Das is Unsinn, weil's Geld kost, un man sieht trotzdem nischt. Aber's soll nu mal sein. Un du holst Brennholz. Buchenscheite! Un such trockne aus, verstehste?«

Monich ergriff die Befehlsgewalt im Hause. Wahrscheinlich verschaffte ihm die besondere Art der Vorbereitung den nötigen Schwung zum Kommandieren: der Hauptmann machte eigenhändig Feuer im Kamin. Die Scheite prasselten hoch. Fauchend und funkenmitreißend stob der Qualm in den Schlot hinauf.

»Noch mehr Holz! Bei dem Wetter muß erst die Esse warm werden. Sonst raucht's. Un Ihnen trän' de Augen beim Deklamieren, hähä!«

Dann ließ Monich vom Hausdiener Sessel heranbringen und im Halbkreis vor dem Kamin aufstellen. Ehe er aber einen Sessel genehmigte, erprobte er ihn gewissenhaft, setzte sich hinein und schaukelte ein wenig hin und her.

»Der is für Kortüm – groß, nich zu weich, un er hat eine steife Lehne. Kortüm sitzt doch am Anfang immer so grade da.« Er wandte sich an den Knecht und hob den Zeigefinger: »Aber paß auf, was er 325 trinkt. Bei Weißwein läßt'n stehn. Wenn er sich aber an 'n Rotwein macht, dann holste den Ledersessel dort her und schiebste'n hin: wenn er sich nämlich wohl fühlt, streckt er gerne de Beine von sich un legt sich hinten 'n bißchen über. Den hier« – Monich probte sorgfältig – »den nehm ich. Ich sitze bei Weiß un bei Rot weich un habe gerne so viel Polsterlehne um mich rum, daß grade noch Platz zum Einsteigen bleibt.«

Monich wählte für den Professor einen Brokatstuhl, für Lotte einen mittelgroßen Sessel. Für Konstanze aber suchte er einen vergoldeten Rokokostuhl aus, den er für theatermäßig hielt, dessen Verzierungen ihr jedoch unbedingt blaue Flecke verschaffen mußten. Klaus wollte sich jetzt einmischen, aber Monich sagte: »Sie setzen sich am besten dort an die Seite vom Kamin hin. Einer muß je aufs Feuer aufpassen, un ich habe de Getränke unter mir.«

Herr Kortüm sah noch einmal zur Haustür hinaus, da Monich alle Läden hatte schließen lassen. Eine Regenflut brach hernieder. Das Schottenhaus stand in schäumendem Nebel. Kortüm trat in den Saal, wo die Gäste schon um den Kamin standen und sich aufwärmten: »Heute gelingt's, meine Verehrten! Es strömt vom Himmel. Wir stecken mitten in einer Wolke. Kein Teufel findet das Schottenhaus in dieser Nacht. Wir sind geborgen.«

»Das sagt ein Gastwirt!« rief Holdermann. Dieser Kortüm pries sich glücklich, daß ihn samt seinem Gasthof die Götter in einer Wolke verbargen, damit kein Gast ihn finden konnte . . .

»Un trocknes Holz is auch genug da«, sagte Monich, hörte auf zu schüren und wollte nun den Gästen die Plätze anweisen: »Du dahin, Kortüm. Frau Wingen –«

Weiter kam er nicht. Konstanze setzte sich aus eigner Machtvollkommenheit in Holdermanns Stuhl, winkte Klaus Schart neben sich in Monichs Sessel, Lotte saß auf der anderen Seite neben Klaus, Kortüm in der Mitte vor den Flammen und seinem bekränzten Bildnis, an seiner Seite der Maler – zuletzt blieben nur Monich und der vergoldete Rokokostuhl übrig –

»Von dem verdammigten Ding hier rutsch' ich je runter«, sagte er leise zu Liese, »hilf mir den Ledersessel von drüben reinschaffen, Mädchen.«

Herr Kortüm schenkte ein, trank seinen Gästen zu, dann blickte er sorgenvoll Klaus an und sprach: »Bitte.«

326 Klaus Schart zog ein schmales Heft aus der Tasche, schlug es auf – da nahm ihm Konstanze die Papiere aus der Hand und las mit ihrer warmen Altstimme: »Wie Pedro zu seinem Hause kam – eine Geschichte zur Richtfestfeier des Herrn Kortüm, von Klaus Schart.«

Sie blätterte in dem Heft, überflog den Anfang, den Schluß, fing wieder von vorn an und las für sich die ganze Geschichte durch. Das dauerte eine gute Zeit. Sie blieb ganz unbefangen dabei, aber Kortüm rieb sich mit zurückgelegtem Kopf sein Kinn und betrachtete den ewigen Kortüm in der Girlande. Holdermann sah die lesende Frau mit seinen Maleraugen an. Klaus hatte die Hände in die Rocktaschen gesteckt, machte Fäuste, bis die Finger schmerzten, und hing mit dem Blick an den zarten Händen, die sein Heft hielten und langsam die Seiten umwandten. Monich heizte. Lotte hielt die Hände näher an die züngelnden Flammen. Niemand sprach. Gelegentlich hörte man einen Windstoß im Kamin fauchen. Kortüm hatte schon das dritte Mal eingeschenkt – endlich blickte Konstanze auf, sah den Schulmeister an, lächelte. Dann bat sie Holdermann, einen Kerzenleuchter so zu stellen, daß sie besseres Licht hatte, und begann:

»Wie alle Festschriften, so hat auch diese keine Überschrift. Ich fange so an: Meine Freunde –

In einer Turmstube des Schlosses Friedrichs von Alemannien genoß Don Quichote von der Mancha, elf Jahre nach der glücklichen Beendigung seiner vierten Ausfahrt, des Körpers müde und in der Seele ruhmessatt, den wohlverdienten Tod.

Der Ritter hatte in der dritten Morgenstunde eines eisigen Dezembertages plötzlich das Gefühl, als ob ihn der furchtbare deutsche Nachtwind nichts mehr angehe. Er richtete sich im Bette auf, und wie er lauschte, hörte er in weiter Entfernung Rosinante wiehern. Aber das alte Pferd lag längst in der andalusischen Erde begraben. Da merkte Don Quichote, daß ihm ein Zeichen gegeben werde und endlich das letzte Abenteuer nahe vor ihm sei.

Zum ersten Male seit elf Jahren lächelte er, streckte sich im Bette aus, so lang er war, und klingelte dem Diener.

Pedro schlurfte verschlafen herein, griff im Halbdunkel nach der gewohnten Medizinflasche und den Umschlägen, aber er hielt erstaunt mit Glas und Lappen inne, als er gewahr wurde, daß seinen Herrn, der gewöhnlich um diese Nachtstunde der Besänftigung bedurfte, eine 327 Fröhlichkeit angekommen sein mußte, denn er lag ganz ruhig im Schein des Nachtlichts und lächelte.

»Hierher stell dich«, sagte Don Quichote, »und mache dein Maul zu, Pedro. Du bist ein Geschenk meines gnädigen Herrn, und es paßt sich nicht, wenn königliche Gaben einen offenen Schlund haben. Paß auf: du wartest geduldig hier an meinem Bett, ich werde in aller Kürze verschieden sein. Dann legst du mir meinen Schild auf die Brust, löschst das Licht aus, gehst zum König, kniest hin und sagst: ›Herr, unser König! Don Quichote ist mit sich ins reine gekommen. Er hat in dieser Nacht den Tod getroffen und machte mit ihm einen Handel. Don Quichote nahm vom Tod das Leben und beglich es mit Verwesung. Das nunmehr ewige Leben Quichotes wird Deinen Untertanen Schatten geben, so daß sich Deine Majestät nicht mehr in ihre Sonne zu stellen braucht.‹ – Dann bummelst du nicht oder wartest gar auf das Saufgelage bei meiner Bestattung, hörst du, Pedro? sondern setzt dich schleunigst auf dein Pferd und bringst diesen Brief dem Grafen Panza aus Reichenau. Die Rolle Gold im Tischkasten gehört dir.«

Fünf Tage ritt Pedro durch Schnee und Dreck, ein braver Knecht, der sein nasses Brot im Sattel aß und wenig schlief bei langer Nacht. Als er nach Allensbach kam, war der Bodensee aufgegangen, und die Eisschollen trieben auf dem Wasser. Aber Pedro fand einen fluchenden Fischer, den das Goldstück des Reiters juckte und der seinen Kahn losband. Das flache Boot erhielt manchen bösen Stoß, aber der Geist des alten Don mußte es treiben: der Bote Pedro kam glücklich ans Reichenauer Ufer, wenn auch am falschen Inselende.

Der Lehnsherr hatte eben gespeist, als man ihm meldete, im Vorsaal stehe ein Mann im Lederkoller, der tropfe von Schneewasser und Schweiß wie ein Lachs, und der Kastellan müsse mit Lappen und Eimern laufen, um die Lache aufzuwaschen. Dennoch bestehe der Kerl darauf, selbst vor den Herrn Grafen zu treten, und behauptete, er habe einen Brief von einem toten Ritter bei sich.

Sancho Panza war alt geworden, aber noch wohlbeleibt und von rosiger Gesichtsfarbe. Er drehte langsam sein Haupt vom Kaminfeuer weg und sagte: »Wenn uns die Toten Briefe schreiben, mögen die Briefträger wohl breite Fußtapfen in der Halle machen. Rollt meinen Stuhl ans Fenster, holt den Boten herein, und mein Schreiber soll kommen.«

Der Raum war gewölbt, und als der Schreiber Sanchos die letzten Worte Don Quichotes von dem Papier ablas, blieben sie schwingend, 328 jedes Wort für sich, eine Weile im Gewölbe schweben und summten, ehe sie verklangen. Dieses Echo Don Quichotes machte den Lehnsherrn traurig, und er senkte seinen dicken Kopf auf die Brust.

Der Brief lautete so: »Graf Panza zu Reichenau! Mein alter Sancho! Gute Nacht. Und diese Nacht, die ich Dir heute wünsche, ist keine Vermutung, sondern die kommt diesmal aus mir selber. Richten wir uns denn im Sattel hoch und reiten. Die Holzfeuer in der Mancha freilich hätte ich gerne noch einmal gerochen, wenn dieser Wunsch einem Ritter ziemte, der aus Beruf in der Irre zu reiten hat. Aber ich schreibe hier um Deinetwillen. Zuerst versichere ich Dir: es reitet sich beschwerlich in der Unsterblichkeit mit einem Wanst, mein Sancho. Das bedenke, besonders wenn sie Dich zu Tische rufen. Zweitens frage ich Dich: Sancho Panza, hast Du Deine Verbündeten abgeschafft? Verlaß Dich auf Dein eignes Eisen. Einzeln zuschanden geschlagen werden, läßt Heilung hoffen, ein Sieg im Bündnis nie. Bleibe für Dich, aber sieh nach Deinen Gehilfen. Frage sie nicht, sieh selber nach. Sancho, sitze beim Arbeiten nicht auf einem Polster. Steh auf aus Deinem Stuhl! Gehe heraus aus Deinem Kabinett. Die Tapeten und Schnitzereien an den Wänden und die Papiere auf Deinem Tisch verschließen den Blick ins Freie. Ziehe einen billigen Rock an, gehe zu Fuß auf die Straße, henkle die Leute ein und rede auf Du mit ihnen. Bitte den Verzweifelten um ein Stück Speck, frage den Verurteilten nach seinem Vorgesetzten, die jungen Mütter nach der Milch, den Stotterer nach der Wahrheit, den Pfaffen nach des Pharisäers Ende und sieh scharf zu, warum die Diebe bei Dir stehlen müssen. Erstatte mir Bericht über Deine Insel, aber gib mir nicht etwa die Antwort Deiner Gehilfen. Ach, Deiner Selbstsicht mißtraue ich bis ans Ende, denn Du bist faul, Sancho. Ich habe Dir oft gesagt, daß Du nur ein Schafskopf gegen mich bist, früh nicht aufstehst und nachts nicht arbeitest. Dennoch bist Du ein Lehnsherr, ich aber, von dessen Hauch Du lebst, habe nichts gewonnen mein Lebtag. Aber ich habe Dich lieb, Sancho, seit jenem Nachmittag beim Herzog, an dem Du mir gestandest, Du wolltest lieber als Sancho in den Himmel denn als Lehnsherr zur Hölle fahren. Bleibe dabei. Dann wird es auf Deiner Insel trotz Deiner Torheit schon gehen. Ich bleibe an jedem Ort im Reiche Gottes Dein Dir wohlgeneigter Don Quichote von der Mancha.«

Nach der Verlesung war es eine Weile still im Saal. Dann richtete der Lehnsherr den Kopf hoch und sagte zu seinem Schreiber: »Bestelle meine Sänfte mit vier Trägern.«

329 »Herr«, rief der Schreiber, »es wird ja Nacht, und der Tauwind bringt Euch Reißen.«

»Und zwei Fackelträger«, fuhr Sancho fort. »Du nimmst dein Schreibzeug und gehst neben mir.«

Erschrocken eilte der Schreiber hinaus. Sancho wandte sich nun zu dem Boten Pedro, betrachtete ihn und sagte lächelnd: »Gehe in die Küche. Trockne dich, iß und trink. Ich lasse dich rufen, wenn mein Brief an den Ritter Don Quichote von der Mancha fertig ist.«

»Brief? An den Ritter? Herr, ich sagte doch, der starb.«

»Esel«, sprach Sancho. »Aber du mußt eilig reiten. Er soll schnell Antwort haben.«

»Ich selbst habe ihm die Augen zugedrückt und den Schild auf seine Brust gelegt.«

»Und dann trittst du vor den Ritter und sagst –«

»Aber er ist ja längst begraben!«

»Halt's Maul!« rief Sancho. »Ritte Don Quichote nicht mehr auf der Erde, sondern im Himmel, so sähen wir's am bewegten Himmel und hörten das Getöse der Engel, weil der Ritter von der traurigen Gestalt durch sie hinritte zum Thron Gottes.« Sancho nickte versonnen vor sich hin und fügte hinzu: »Und weil es vielleicht den Ritter ankäme, den Thron Gottes geraderichten zu wollen.«

Pedro ging seitwärts wie ein Kalb durch den Saal zur Türe und schielte auf den Lehnsherrn. Er war besonderen Dienst gewohnt als Knecht des alten Don, aber diese Rede Sanchos, welche Tote als Lebende, den Himmel als seine Erde nahm und den Thron Gottes vor das Richtmaß Quichotes stellte, war ihm in die Glieder gefahren. –

Der Seewind wehte dem Lehnsherrn die roten Vorhänge der Sänfte ins Gesicht, aber Sancho merkte es nicht, hörte in Gedanken versunken die Tritte der Träger ins Schneewasser platschen und sah auf seinen Schreiber, der neben dem Fenster einherschritt als ein schwarzer Schatten, auf den zuweilen der Fackelschein fiel. Er hatte befohlen, daß man ihn nach Oberzell und von da über den Rücken der ganzen Insel bis nach Unterzell trage.

An der Vorhalle von St. Georg hielten seine Leute an, neugierig, was nun geschehen würde. Sancho steckte seinen Kopf durchs linke Fenster: kahle Weinberge, ein paar nasse Zweige, in der Entfernung brauste der See. Nun sah er zur rechten Seite hinaus: neben dem Turmgemäuer, in der Hütte des Weinbergwächters, war noch Licht. Es ließ sich nahe ans Fenster tragen und klopfte mit seinem Stock an 330 den Laden, der sogleich von einem alten Weibe geöffnet wurde. Sancho sah in dem kleinen Raum ein Kindlein im Korbe liegen, welches aus Leibeskräften schrie.

»Wo ist die Mutter des Kindes?« fragte der Lehnsherr.

»Sie liegt krank nebenan.«

»Warum sorgst du nicht besser für das Wurm, daß es in der Nacht jammert zum Erbarmen?« herrschte Sancho die erschrockene Frau an.

»Es liegt warm und hat die Milch gehabt«, stammelte die Alte und starrte die Fackeln und Hellebarden an.

»Warum es schreit, Weib!«

»Herr, ein Kindlein muß schreien. Es wird davon stark auf der Brust.«

»Schreibe!« sagte Sancho zu seinem Schreiber, und ein Fackelträger hielt das flackernde Licht näher. »Zum ersten: In meinem Reiche sind die Kindlein satt und haben es warm. Damit sie jedoch stark werden, müssen sie vor Jammer schreien!«

Dann klappte er mit seinem Stock der Alten den Laden vor der Nase zu und hieß die Sänfte weitertragen.

Sie kamen auf die Höhe der Insel, wo nichts steht als ein windgebeugter alter Birnbaum und darunter ein kleines hölzernes Heuhaus. Sancho ließ anhalten und genoß den Blick auf seine Insel, die unter dem ziehenden Wintergewölk im wechselnden Mondlicht lag. Da war es Sancho, als ob er reden höre. Er sah zum linken und zum rechten Fenster hinaus, aber es war niemand zu sehen. So kann, dachte Sancho, die Rede nur in dem Häuschen vor sich gehen, und das wunderte ihn. Er erhob sich mit vieler Mühe aus seinen Kissen, indem er sich auf seinen vor Erstaunen sprachlosen Schreiber stützte, stieg ächzend aus seiner Sänfte heraus und ging durch die Nässe zu dem Heuhaus, neben ihm die Fackelträger, hinter ihm Schreiber und Hellebarden. Er stieß die Tür auf, das Fackellicht fiel in die grasduftende Kammer, und in dem Heu, das sich üppig und sammetfarben aufpolsterte, erblickte er die Disputanten: einen Burschen und ein Mädchen. Aber er sah nur die Köpfe, denn weil es Winter war, hatten sich die beiden tief ins Heu gesteckt und starrten jetzt mit runden Augen und offenen Mündern entsetzt auf den fackelbeglänzten dicken Mann, der in seinem Scharlachmantel blitzend wie ein Altarbild vor den Hellebarden und der blauen Nacht stand.

»O ihr Bande!« sagte Sancho. »Ei, ihr Gesindel! Wie heißt du denn, mein Sohn?«

331 »Ich bin doch der Adam vom Mittelfischer.«

»Der Adam, sieh!« rief Sancho seinem Schreiber zu. »Der Adam bei der Eva. Und ich – ich soll wie der Herrgott an der Pforte stehn. Denkt ihr Pack denn, daß ich Lehnsherr bin, um vor dem Paradiese draußen im Schnee zu regieren? Schreibe! Zum zweiten: In meinem Reiche liegt Eva . . . Nein, schreibe nichts, du Ochse!« schrie er seinen Schreiber an, welcher erschrocken bis an den Grabenrand zurückwich. Der konnte nicht wissen, daß dem Lehnsherrn vom langen Stehen die nasse Kühle bis ins Knie gezogen war und ihm plötzlich einen wilden Stich versetzte. Sancho warf mit eigener Hand donnernd die Tür des Häuschens zu und hinkte murmelnd zu seinen Kissen.

Langsam schwankte die Sänfte den Weg entlang. Der erzürnte Sancho kroch mit seinen Fackeln wie ein Glühwurm über den Rücken seines Reiches. Der Zug kam vor das Haus des Faßbinders, welcher noch auf war, beim Schein der Laterne auf dem Holzzeug hämmerte und dabei schimpfte.

»Warum schläfst du nicht, Hans, und machst Lärm in der Nacht?« fragte ihn Sancho.

»Der Teufel hol's, ich wurde über Tag nicht fertig.«

»Wirst du nicht satt, daß du den Tag und die Nacht verarbeiten mußt?«

»Satt schon, Herr, uns geht's soweit gut. Aber die Zeiten sind unsicher, und ich will doppelt verdienen, solange es noch geht.«

»Hm«, dachte Sancho, »die Kinder schreien ohne Not, und die Männer arbeiten doppelt ohne Not und schreien auch. Schreibe! Zum dritten: In meinem Reiche bringt sich ein gesättigter Mann um den Nachtschlaf, damit er mehr hat, als er über Tag verzehren kann. Weiter.«

Aber die Fahrt war bald zu Ende. Vor St. Peter und Paul in Unterzell mußten sie jedoch noch einmal anhalten und blickten erstaunt zum vorderen Turm der Stiftskirche hinauf. Im Schalloch vor der Stundenglocke saß der Küster und sang mit hallender Stimme, das Haupt zum Monde gekehrt, unbekümmert um Fackeln und Sänfte unten, einen Choral:

»Herr, du regierst und hältst die Welt,
Ich halte dich, daß sie nicht fällt.«

Eben wollte Sancho die Absicht dieses Gottesdienstes ergründen, als in dem dunklen Gebüsch am Wege etwas huschte.

»Greif zu!« rief er.

Die Fackelträger griffen und hielten einen Kerl am Kragen.

332 »Was schleichst du hier?« fragte der Lehnsherr.

Der Mann schwieg. Aber in der Luft über ihnen erschallte ohne Pause der Lobgesang, und Sancho wurde ärgerlich.

»Was hast du in dem Beutel da? Zeig her.«

Der Schreiber wickelte das Tuch auseinander, zog einen langen neuen Rock hervor und sagte: »Des Küsters Kirchenrock.«

»Du bist ein Dieb«, sprach Sancho. »Warum stahlst du den Rock? Du kannst ihn doch nicht tragen.«

»Ich dachte, Herr Graf, es kann einmal schlimm kommen. Da hätte ich ihn denn.«

»Und der Küster, Halunke?«

»Der hat noch einen.«

»Du hast ja auch einen eigenen an.«

»Aber der Küster, Herr, hat außen um den Rock noch seine große Stiftskirche und den mächtigen Herrn Abt und zuäußerst den großmächtigen Herrn Lehnsherrn. Ich habe außen um mich bloß den Wind.«

Sancho lehnte sich zurück und sann nach: warum hat der Dieb bloß den Wind und nicht den Abt und mich?

»He, Kerl, warum sagst du, daß du nur den Wind hast? Bin ich nicht auch dein gnädiger Graf und Herr?«

»Ja, Herr, Ihr seid gnädig und freut Euch, wenn wir zufrieden sind. Das weiß ich wohl und wollte mich deshalb auch nur zufrieden stellen.«

Sancho murmelte in der Tiefe der Sänfte: »Der Schuft, wenn ich ihn nicht entlasse, beweist er mir noch, daß er stahl aus Liebe zu mir.« Polternd fuhr er ihn an: »Was hättest du denn getan, wenn ich dich nicht erwischt hätte?«

»O Herr! Ich hätte den Rock auf den Boden getragen, hätte ihn befühlt, glatt gestrichen und gebürstet und wäre zufrieden gewesen wie der Kaiser. Herr, tut mir nichts! Ich hätte – den Rock hätte ich umarmt und gestreichelt und gesagt: Lieber weicher Rock, lang lebe der Herr Lehnsherr und der Herr Abt und der Herr Küster!«

»Ich glaube«, sprach Sancho, »hier sagte jemand eben die Wahrheit. Mach, daß du fortkommst, und stiehl nicht wieder. Schreibe! Zum vierten: In meinem Reiche stiehlt ein berockter Dieb den andern Rock aus Wollust an der Zufriedenheit. So. Und nun holt mir den singenden Narren von seinem Turm. Der singt die ganze Insel wach.«

Der Küster kam, und wie der Wind ihm sein weißes Haar ins Gesicht wehte, rührte sein hohes Alter den Sancho Panza. Er ließ ihm 333 den Rock geben und sagte: »Singe nicht, alter Mann, sondern wache über deinem Eigentum, wenn du keinen Schlaf findest.«

»Darüber eben wachte ich«, antwortete der Küster.

»Mit Singen? Der Rock ging dabei hin.«

Der Alte schüttelte den Kopf: »Nicht um den Rock. Ich bin zu nahe am Grabe, um noch zu einem Stück Tuch mein Eigentum zu sagen.«

»Wie?« fragte Sancho, »du sagtest doch, daß du über deinem Eigentum wachtest.«

»Ja, Herr, mein Enkel fährt zur See. Der Sturm geht, und ich muß Gott die Wellen niederhalten helfen.«

»Und der Enkel, der Lümmel«, sagte Sancho zu sich, »schnarcht auf dem Schiff oder spielt Würfel. Der Küster ist ein Tor – aber er wird dem Ritter gefallen. Schreibe! Zum fünften: In meinem Reiche kann das Alter nicht um sein Irdisches gebracht werden, aber Gott bei der Weltregierung helfen. Hm. Schreibe weiter: Sechstens, das ist in Summa: Überall in meinem Reiche fand ich die Menschen in Angst, obwohl sie eben gegessen hatten. Es geht allen erträglich, und alle schreien Zeter. Nur zwei fand ich bei Wohlsein und obendrein glücklich. Aber deren Taten liefen darauf hinaus, daß der Jammer in meinem Reiche nie aufhört, sondern immer von vorne beginnt.«

Am anderen Morgen stand Pedro vor dem Rollstuhl des Lehnsherrn, der in Kissen und Decken gepackt einen Glühwein zu sich nahm. Sancho sah nicht gut aus. Die Besichtigung seiner Insel in der windigen Nacht hatte ihn angegriffen.

»Pedro, hier ist der Brief.«

»Lieber Gott«, ächzte der Bote.

»Und dort« – Sancho zeigte mit dem Stock zum Fenster hinaus – »siehst du die Pappel?«

»Ja, Herr.«

»Daneben das rote Dach?«

»Ja, Herr.«

»Und die Mauer um den Garten? Der Anlieger dort ist gestorben. Ich gebe Baum, Haus und Garten dir, Pedro, wenn du reitest« – Sancho stand mühselig auf und packte den Pedro bei der Lederjacke und schüttelte ihn – »nein, nicht reitest, wenn du übers Land fährst wie der Seeadler. Zum Ritter hin und zu mir zurück mit seiner Antwort!«

»Ach, Herr –«

»Stehst du noch da!« schrie Sancho. »Toffel, dein Haus!«

334 Mein Haus? dachte Pedro beim Satteln. Mein Haus? dachte er beim Trab. Mein eigen Haus? beim Galopp. Mutter im Himmel, ganz mein eigen Haus? Und er raste durchs Land, daß die Marktweiber über ihre Körbe fielen, die Wachtmänner beiseite springen mußten und die singenden Prozessionen auseinanderstoben.

Als Pedro ans Schloß kam, sah er die Fensterläden der Turmstube offen stehen und im Winterwind hin und her klappen. Er stieg ab und machte sich gedrückt und ein wenig schlechten Gewissens an den Posten, gab ihm einen Knuff mit dem Ellbogen und fragte: »Du, warum – warum heizt ihr denn nicht bei ihm?«

Der Soldat sah ihn von der Seite an.

»Es friert«, sagte Pedro hartnäckig. »Don Quichote wird's kalt haben« – und dachte dabei: wenn schon – mein Haus . . .

Der Posten verzog das Gesicht und streckte die Nase vor, als ob er an dem Boten Pedro röche: »Du Schnapskruke. Bist wieder da? Und besoffen am frühen Morgen.«

»Ich reite im Dienst«, antwortete Pedro stolz. »Bin nüchtern. Ich habe einen Brief für den Ritter Don Quichote von der Mancha. Da!«

Der Posten sah bedächtig den Brief an und sah dann Pedro an und sagte: »Na ja. Der Herr war verrückt, und der Knecht hat ihn beerbt. Gleich neben dem Schloßweg, an der Kapelle – siehst du den neuen Stein? Da leg deine Epistel drunter. Und dich mit.«

Pedro ging betrübt zum Stein und zog sein müdes Pferd am Zügel nach. Am Grabe Don Quichotes sprach er sein Gebet und sagte: »Amen – – ach mein Haus!«

Er wog unschlüssig das Schreiben des Lehnsherrn in der Hand, befühlte das schöne Siegel, sah die Schriftzeichen an und hielt den Brief gegen das Licht. Da war das Papier ganz voll von unleserlichen Zeichen. Er führte es näher ans Auge und wieder ferner, hob den unbestellbaren Brief gegen die Sonne, und wie er ihn wieder senkte und sein Auge ein Stück Landstraße erblickte, vor dem das mächtige Siegel Sancho Panzas wie ein Uhrpendel hin und her ging, gewahrte er einen Reiter auf der Straße.

Pedro sah schärfer hin: ein Ritter, ein schlechtes Pferd, eine billige Rüstung. Der Reiter kam näher. Nicht weit her, schätzte Pedro – ein langer Kerl, ein altmodischer Helm, ein gestutzter Bart . . . »Herr Gott!« schrie Pedro. »Da – kommt er!!« Scharf sah er hin, bis er stierte: weiß Gott, das ist der Ritter, ausgemergelt, die feurig schwarzen Augen, die Falten und die Güte im Antlitz!

335 Pedro sah scheu hinter sich nach dem Grabstein. Da stand unerschütterlich geschrieben:

Don Quichote liegt hier.
Fremd und irrend zu sich
Ritt er rings durch das Land,
Landend ewig bei sich.

»Ewig bei sich«, stammelte Pedro und sah nun den Ritter groß und lebendig vor sich halten wie einen Traum.

»Herr! Guten Tag. Wie wenig hat Euch das Sterben verändert! Ich bringe Euch Antwort von der Insel.«

»Von der Insel?« Der Ritter schüttelte den Kopf. »Ich bin eben unterwegs zur Ufenau. Wer schickt Euch denn?«

»Der Lehnsherr, Graf Sancho Panza.«

Der Ritter schüttelte wieder den Kopf und sah Pedro aufmerksam an: »Ich glaube, Bursch, du bist im Irrtum. Auf der Insel, zu der ich reite, sitzt kein gräflicher Lehnsherr.«

Aber Pedro hatte gar nicht gehört. Mein Haus! jubelte es in ihm, er muß es sein! Pedro hielt den Grabstein Don Quichotes umklammert, schwenkte die Mütze und rief: »Grüß Gott, Don Quichote! Die Leute sagen, Ihr wäret tot!«

Da lachte der Reiter: »Das stimmt nun wieder, mein Freund. Sie sagen, ich wäre tot, aber sie werden merken, daß ich lebe.«

»Freilich«, murmelte Pedro und kratzte sich hinter den Ohren, »freilich habe ich Euch die Augen zugedrückt.«

»Das hat auch schon mancher gesagt«, sprach der Ritter, »aber meine Augen lassen sich nicht zudrücken, die gehen wieder auf.«

»Nicht wahr, Herr?!« schrie Pedro, »Ihr seid's, und Ihr wollt zur Insel, und Eure Augen sind wieder aufgegangen, und hier ist der Brief!«

»Quichote?« las der Ritter kopfschüttelnd. »Ich heiße Ulrich und bin aus dem Geschlecht der Hutten.«

»Hutten?« fragte Pedro verdutzt. »Ach Herr, Ihr habt oft gesagt: was sind Namen! Reißt das Siegel weg, lest, und Ihr werdet sehen der Brief ist für Euch. Er ist nur unleserlich geschrieben, weil der Lehnsherr Eile hatte.«

»Nun«, sagte Ulrich lächelnd, »meine Briefe sind auch unleserlich für viele und haben doch ihren Mann gefunden. Laß sehen!«

Ulrich las das Schreiben Sancho Panzas. Bei den ersten Zeilen war er verwundert, aber er wurde immer freundlicher, und zuletzt lachte er:

336 »Sechstens, das ist in Summa: Adam und Eva und das ewige Leben des elenden Leibes.«

»Und die Antwort, Herr?« fragte Pedro.

»Hast recht, Bursch. Ein solcher Brief verdient unsere Antwort. Wir lassen dem Lehnsherrn auf der Insel sagen: Voll sein macht schwer, Zufriedenheit traurig, und der lange Friede verstopft Euch den Darm. Aber die Ritter von der traurigen Gestalt reiten noch, einer nach dem andern, in jedem Jahrhundert. Die wenden den deutschen Magen um und machen Euch leer und tüchtig. Das sagst du. Halt, noch eins: wenn euren Küster, ich meine den im Schalloch bei der Stundenglocke, die Lust ankommt, sich zu verändern, so soll er zur Ufenau reisen. Wir brauchen dort einen im Glockenläuten und Weltregiment bewanderten Mann.«

»Das ist zu lang, Herr«, sagte Pedro. »Schreibt mir's auf, oder sagt es in einem Satz, den ich mir merken kann.«

»Reite, Bursch, und bestelle: was jammert, sei nur die Todesangst in allem Wohlbefinden.«

Pedro kam mit einiger Verspätung zur Reichenau, weil er einen Umweg nehmen mußte. Er befürchtete nämlich, die Leute an der Straße seines Hinrittes möchten ihn wiedererkennen und ihm seinen Schandritt heimzahlen. So kam er zur letzten Stunde des Lehnsherrn gerade noch zurecht, denn Sancho hatte sich nicht wieder erholen können und lag im Sterben.

»Mein Haus!« rief Pedro, als er am Tor die Leute für das Leben des guten Lehnsherrn beten hörte, stürzte die Treppe hinauf, warf die Ärzte und Pfaffen am Bett auseinander, kniete hin und sagte: »Ich war an seinem Grabstein, lieber Herr.«

Sancho lag bleich und steinern, als ob er nichts gehört hätte.

»Rede lauter«, flüsterte der Abt, »sein Ohr ist schon zu.«

Und Pedro schrie Sancho ins Ohr: »Da kam er geritten!«

Über Sanchos Gesicht zog ein Lächeln.

»Und er läßt Euch sagen –«

Sancho streichelte seinem Boten die stopplige Wange und murmelte: »Was, mein Sohn?«

»Daß er wiederkommen werde und immer wieder und die Todesangst aus allem Wohlbefinden dieser Welt schon heraustreiben wolle«, sagte der Bote Pedro nahe am Ohr des Lehnsherrn.

Der Abt bekreuzigte sich und die Ärzte blickten einander verstohlen an. Sancho Panza aber wandte sich langsam zur Wand, als wolle er 337 für sich sein, lag noch eine Weile atmend da, und als der letzte Atemzug stehen blieb und die Ärzte ihn sanft auf den Rücken betteten, sahen sie, daß das Lächeln auf seinem Antlitz stehengeblieben war und er sanft entschlafen sein mußte.

Von Sanchos Grabstein ist auf der Reichenau keine Spur mehr zu finden, und weder der Halunke Avellaneda noch des Miguel de Cervantes Saavedra Hoheit selbst hat über des Reichenauer Lehnsherrn irdisches Verbleiben notorische Dokumente zu überliefern für richtig befunden.

Wer aber im hohen Sommer nach Betrachtung der Fresken von St. Georg durch den Torbogen, welcher die Darstellung des jüngsten Gerichts in der Oberzeller Stiftskirche mitten durchbricht, in die Vorhalle schreitet, die Türe aufklinkt und plötzlich im grünen blitzenden Licht den Weinberg seines eignen währenden Tages warm und atmend vor sich sieht – der kann über die wahre Ruhestätte dieses weltgewissen Dieners seines unsterblichen Herrn nicht im Zweifel sein.«

Konstanze schloß das Heft und steckte es in ihre Handtasche: »Das behalt' ich« – sie lächelte Klaus an – »fürs Vorlesen.«

Der Hausherr sah vor sich hin.

Wieder einmal blickte der ewige Kortüm weit über den leiblichen Kortüm hinweg. Endlich aber schien sich der Gastwirt auf seine Pflichten zu besinnen. Er ließ Rotwein kommen, schweren Rotwein. Er schenkte dem Schulmeister ein und sagte: »Vier Helden in einer Geschichte – und keiner ist zu seinem Hause gekommen. Aber nach Hause kommen sie alle, jeder an seinen Ort. Ich lasse den Richtfestspruch gelten.«

Lotte schüttelte den Kopf: »Hat denn Pedro nun das Haus oder hat er's nicht?«

Holdermann nickte ihr zu: »So soll eine junge Frau fragen«, sagte er und wollte mit ihr anstoßen. Aber Lotte hielt inne: »Hab ich nicht recht?«

Holdermann nickte wieder: »Von meinen Bildnissen verlangen die Leute auch Porträtähnlichkeit. Klaus Schart, Sie müssen noch Ordnung machen in Ihrer Geschichte. Der Schluß fehlt!«

»Den kann er schreiben, wenn dieses Schottenhaus endlich fertig sein wird«, verteidigte Konstanze den Dichter. »Herr Kortüm hat versichert, daß dann erst die regelrechten Gäste kämen. Wir sind neugierig auf das fertige Haus, die richtigen Gäste und Herrn Scharts letzten Schluß.«

338 Kortüm erhob sich mit seinem Glas, ein wenig steif – er schien sprechen zu wollen. Auch die Gäste standen auf. Monich füllte die Gläser nach.

Herr Kortüm aber sprach: »Freunde, ihr seid die letzten Gäste des Schottenhauses« – er schwieg, die Freunde sahen ihn an – »Flügelhaus heißt es von heute nacht an.«

Draußen rauschte der Regen – wer bei solchem Wetter Unterkunft finden wollte in diesem Haus, der mußte selber Flügel haben, und den Gottesblick dazu, der alles von oben sieht – aber nicht zu weit von oben, daß er nicht am Lebendigen vorbeistapft im Unwetter. 339 340 341

 


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