Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Der Dominantakkord

Im Weimarischen wird es spät Frühling. Anfang März weht noch ein scharfer Zug durch die borstigen Bäume. Vor Jahren hatte in solcher Vorfrühlingszeit Herr Kortüm in Weimar zu tun gehabt, eine 157 schwere Erkältung bekommen und zu dem Apotheker, der ihm die schmerzlindernden Pastillen einwickelte, höchst ärgerlich gesagt: »Sie liegen falsch. Wenn man mich diese Stadt hätte gründen lassen, würde ich sie auf die andere Seite der großen Westoststraße gelegt haben. Sehen Sie« – Herr Kortüm war an die Glastür gegangen und hatte auf den blauen Höhenzug über den Dächern gezeigt – »dorthin. In den Schutz des Ettersberghanges. Hm . . . man müßte einen Entwurf machen . . .«

Erschrocken hatte der Apotheker den erbitterten krächzenden Herrn angeblickt, der offenbar nachdachte, ob man diese Stadt nicht besser etwas verlegen sollte, weil ihre Lage seiner Gesundheit nicht zuträglich sei: »Nun, verehrter Herr, uns bekommt ihre Lage.«

Herr Kortüm hatte sich hustend und schnupfend auf sein Schottenhaus zurückbegeben und es den Weimarern überlassen, mit ihrem März fertig zu werden. Manche Einwohner dieser wie nach Gottfried Herders, so auch nach Friedrich Joachim Kortüms Ansicht auf der falschen Seite gelegenen Stadt wurden ausgezeichnet mit dem hiesigen Vorfrühling fertig.

Vom Tempelherrenhaus wandelten in Richtung auf die Ackerwand nahe nebeneinander der Organist Wingen und die Haustochter Lotte Albrecht. Wingen trug einen Band Orgelvorspiele unterm Arm und hatte den ganzen Nachmittag frei. An Lottes Arm hing ein Korb; sie mußte spätestens um sechs das Abendessen anrichten und dazu einen weiten Weg bis in das geheimrätliche Haus in der Belvedereallee zurücklegen. Es war Sonnabend nachmittag. Der Himmel hatte eine zarte blaßblaue Seidenfarbe. Wingen hob gelegentlich die Nase – ein Duft von Spätapril sömmerte ab und zu einen Herzschlag lang in dem harten Luftzug und war schon wieder weg, ehe ihn der Organist feststellen konnte. Aber der Dichter mochte seiner habhaft geworden sein, denn er blickte Lotte an: »Da hast du's.«

»Was?«

»Die gute Zeit ist da!« rief Wingen so laut, daß sich ein vorübergehender Herr lächelnd nach ihnen umwandte – Wingen drehte sich auch um – »das ist ja . . .« sie grüßten sich. Wingen kannte die halbe Stadt und grüßte sich mit ihr.

»Red nicht so laut.«

»Der weiß doch nicht, was ich meine.«

»Dann denkt er sich's, und das ist noch schlimmer.«

»Laß sie denken, bis sie platzen«, sagte der Organist leichtfertig und faßte Lotte fester unter den Arm. Als Organisten hätten ihn nicht so 158 viele Leute gekannt, denn Orgelspielen gehört zu den wenig ins Auge fallenden Berufszweigen. Als Organist mußte Wingen der Gemeinde grundsätzlich den Rücken zuwenden. Das liegt am Bau der Orgel. Als Dichter jedoch drehte er der Gemeinde die Vorderseite zu. Das wieder liegt am Bau des menschlichen Körpers. Wingens Vorderseite grüßten die Leute achtungsvoll. Seit er aber immer öfter mit Lotte zusammen gesehen wurde, warf ihm die Gemeinde auch Blicke in seine Rückseite. Ob denn ein Organist, also ein Mann, der amtlich zu Begräbnissen die Musik macht, unverheiratet, unverlobt, gewissermaßen ungebunden mit einem schönen, übrigens auch unbekannten Mädchen herumgehen könne, diese Frage wollten die Leute nicht vorlegen: aber ob sich dieses junge Paar in die Friedhofskapelle begeben und dort stundenlang Musik machen könne, ohne daß jemand dabei begraben würde – wirklich, das dürfe man denn doch wohl noch fragen! In Thüringen liege dieser Fall sowieso in der Luft: nur zu wohl entsinne man sich jenes einundzwanzigjährigen Organisten Johann Sebastian Bach an der Neuen Kirche zu Arnstadt. Laut actum vom 21. Februar 1706 hat dieser junge Mann auf den Passus »Verweisen, daß der Organist Bach letztverwichenen Sonntags unter der Predigt im Weinkeller gangen« geantwortet: »Sey ihm leid. Sollte nicht mehr geschehen.« Auf den ferneren Passus »Stellen ihm vor, aus was Macht er ohnlängst die frembde Jungfer auf das Chor habe bieten und musizieren lassen« hat jedoch dieser junge Organist nichts weiter zu sagen gehabt als »Habe Magister Uthe davon gesaget.« Es sei doch sehr die Frage, ob dieser Organist Wingen irgendwem von seiner fremden Jungfer aus dem Chor etwas gesagt habe. Man müsse nach dem Rechten sehen.

Die Weimarer konnten nicht wissen, daß Wingen an Lotte verschuldet war und sich nun ehrlich bemühte, diese Schulden aus der Welt zu schaffen: Lotte hatte ihn in Besenroda im Maskenmachen unterrichtet, und er gab ihr nun in Weimar Gesangsstunden. Das Mädchen war unzweifelhaft musikalisch und stimmlich begabt. Unterricht mußte sie bekommen. Ein Klavier besaß Wingen nicht – es blieb nur die Orgel zum Schuldenbezahlen übrig.

Der Bälgetreter Wenzel war mit den neuen Gesangsstunden sehr einverstanden: »Wenn 'r mit der Jungfer singt, kann er nich orgeln, wie er will. Da muß 'r ganz sachtchen un dusemang spielen, hähä.«

Der Luftverbrauch war ungemein gering, und da Wenzel die Luft nicht hektoliterweise abgab, sondern stundenweise arbeitete, verdiente er ohne Schweißtropfen auf der Stirn. Zufrieden stieg er seine Leiter 159 in der Bälgekammer hoch, ruhig und ohne Aufregung rutschte er in den Bügeln hinab, sanft kam er auf dem Sandsack an. Dann konnte er eine Prise nehmen – umständlich und mit allen technischen Feinheiten. Er konnte auch mal nach dem Wetter sehen: das kleine Bälgekammerfenster ging wegen des Orgelrückbaues nur halb auf, aber wenn sich Wenzel in den Fensterspalt ein bißchen hineindrückte, war über den Zypressen des Friedhofs ein gut Stück Westhimmel zu sehen. Manchmal mußte Wingen auch theoretischen Unterricht in Harmonielehre einfügen. Dann konnte sich Wenzel überhaupt auf den Schemel setzen und ausruhen.

Je weiter der Gesangsunterricht fortschritt, desto theoretischer schienen sich die Übungen zu gestalten. »Das laß ich mir gefalln«, sagte Wenzel und brachte am andern Tag zwei Kissen mit, ein rundes für den Sitz und ein rechteckiges für die Lehne. Es saß sich prachtvoll – jede Minute Sitzen geldeswert. Durch das Fenster fiel ein breiter Sonnenstrahl. Draußen probte ein Star sein Märzlied. Junge Menschen macht Märzluft musikalisch. Alte Leute werden schläfrig von ihr. Aus halbgeschlossenen Augen sah Wenzel den goldenwirbelnden Sonnenstäubchen zu – der viele Staub . . . Jeja, so aufm Friedhof . . . Wenzels Augen schlossen sich. Sanft schnarchte er vor sich hin.

Lottes Augen standen weit offen. Was ihr der Organist erklärte, war so schwer. »Höre gut zu, Lotte. Der Dominantakkord« – Wingen spielte und summte leise die Notennamen: »G, h, d, f – hörst du's? G-f? Die kleine Septime? Wie einen das unruhig macht, nicht? Unerträglich, den Dominantakkord schweben zu lassen. G, h, d, f – du fühlst das doch? In diesem Akkord steckt der unwiderstehliche Drang, so rasch als möglich in einen anderen Akkord einzumünden. Er kann nicht für sich bestehen. Er will aufgehen in dem, was nach ihm kommt. Es ist eigentlich ein richtiger Märzakkord. Der Klang quält dich so lange, bis du ihm seinen Frieden gibst.«

»G, h, d, f«, spielte Wingen, sah Lotte lächelnd an und ging dann in die Auflösung: g, c, e.

»Wirklich!« rief Lotte selbstvergessen. »Jetzt hat er Ruhe.«

»Nun sing die Quinte, Lotte, sing das d. Und wenn ich in den tonischen Dreiklang gehe, nimmst du das c.« Wingen drückte die Tasten, beugte den Kopf vor: gleich würde Lotte in das sehnlich erwartete c gehen können – da gurgelte es leise, röchelte klapp, tapp: die Orgel stand still. Der Dominantakkord blieb im Ohr, das nichterlöste d dieses Vierklanges würde nun nie in sein ruhevolles c, die sehnsuchtsvolle Septime nie in das goldene e eingehen können.

160 Donnerwetter! wollte Wingen rufen, den diese schwebende Septime körperlich bedrängte. Er war der Mann, nachts aus dem Bett aufzustehen, Licht zu machen und den Grundakkord anzuschlagen, weil jemand im Hause Klavier gespielt und, vom Herzschlag getroffen, mit dem Dominantakkord aufgehört hatte. Er griff nach dem Klingelzug. Lotte hielt seinen Arm fest: »Laß. Horch!«

»Der Schurke schläft dahinten.«

»Laß ihn schlafen.«

Aber diesen unbedachten Satz kann nur ein Anfänger in der Harmonielehre aussprechen, und er weiß nicht, was er sagt. Ein Bälgetreter kann schlafen. Dominantakkorde finden keine Ruhe. Ganz deutlich schwebte die Septime unter den alten Gewölben. Wingen war unruhig und fuhr mit den Händen hin und her. Er drückte die Tasten des Grundakkordes nieder, aber nicht Holzstückchen mit Elfenbein belegt nahmen ihm den Hauch der Septime aus den Ohren: die Musik war in ihm und wollte ihre Lösung.

Im März lösen sich diese Dominantakkorde besonders klar und strahlend auf.

»Komm, Lotte, setze dich neben mich. Wir lesen die Akkorde. A-Moll. Da ist er wieder: e, gis, h, d

Lotte fuhr mit dem Finger eifrig die Notenköpfe entlang – aber in denen stak die Musik nicht, die sie beide quälte. Der Dominantakkord dieser Liebe war gekommen und konnte nun nicht länger in der Luft hängenbleiben. Der oberste Herzton ist eben eine Septime – was man auch sage: das Herz schlägt, um endlich nicht mehr schlagen zu müssen. Wingen legte seine Hand auf ihre Hände und küßte sie auf den Mund.

Es war sehr still in der Kapelle. Die Orgel schlief. Der Friedhof schlief. Das goldene e war da.

»Nicht. Was soll das werden –«

»Hochzeit, Lotte.«

Draußen sang und schwatzte ein Star. Aber dieser heiterste und fröhlichste der Vögel kümmerte sich nicht um sie. Der hatte seine eigenen Märzsorgen.

Wenzel war ein guter Bälgetreter. Ein wahrer Meister der Luft war er. Besonders mit der Märzluft ging er sachkundig um. Er wußte nicht nur genau, von wannen der Wind weht und wohin er weht – er wußte auch, daß Windstille die Menschen zuweilen am weitesten bringt, und handelte danach: Äolus schlief. 161

 


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