Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Orstveränderungen

Lotte hatte im Traume geseufzt und, ohne zu erwachen, plötzlich die eine Hand schlafschwer ihrem Manne aufs Gesicht gelegt. Wingen war aus dem Schlummer geschreckt. Aber er blieb unbeweglich liegen. Dachte verschwimmend: ich träume . . . Ruhig lag die Hand mit 258 gespreizten Fingern breit auf seinem ganzen Gesicht. Er empfand den Duft der Hand, schloß die Augen, lag ganz still. Lotte atmete gleichmäßig weiter. Wingen öffnete die Augen. Fest und mütterlich lag ihre offne Hand über seinem Gesicht. Wingen lächelte und blickte durch ihre Finger. Die Schlafstube war ganz dunkel. Nur die Decke gab einen helleren Schein, und er sah zwischen Lottes Goldfinger und dem kleinen Finger, wie der Vorhang am offenen Fenster ein wenig wehte. Wingen hielt immer noch sorgsam still, aber er war nun wach geworden. Ihre Hand lag warm und reglos auf seinem Gesicht. Er hob das Kinn und bewegte die Lippen, bis er die Handfläche leise küssen konnte. Lotte atmete ruhig ein und aus. Eine gute Weile verging. Endlich schien Wingen die Hand auf seinem Antlitz immer schwerer zu werden . . . eine wahre Last . . . Er faßte sie vorsichtig, zog den Kopf unter ihr hervor und legte sie sanft auf das Kopfkissen. Lotte atmete gleichmäßig weiter. Die Taschenuhr tickte auf dem Tisch neben Wingen. Ob es bald Morgen war? Über den leuchtenden Ziffern stand ein kleiner Schein. Wingen griff nach der Uhr. Unversehens schlug die Kette laut an das Wasserglas.

Lotte fuhr auf und murmelte schlaftrunken: »Fehlt dir was?«

»Schlaf weiter.«

»Hm? Wer fehlt?«

»Du!« lachte nun Wingen und legte die Uhr hin. Sie seufzte und rieb verdrießlich mit beiden Händen ihre Augen: »Schrei doch nicht so. Das Kind wacht auf.« Sie richtete sich auf und klopfte schlaftrunken ihr Kopfkissen glatt: »Was fällt dir überhaupt ein!«

Wingen lachte noch lauter: »Du – bist bei mir eingefallen!« Er faßte Lotte an den Schultern und legte sie in seinen Arm. Ihr Kopf fiel müde hintenüber. Sie gähnte und murmelte silbenweise zwischen dem Gähnen: »Un–ver–schämtheit.«

Wingen küßte sie auf den Mund, daß sie nicht weiterreden konnte. Nur das Wort »Menschenfresser« brachte sie noch mit Mühe hervor.

»Die sind abgeschafft«, sagte Wingen langsam. Er sagte es aber zu sich selber, ließ Lotte plötzlich los und richtete sich im Bette auf. Nun war er völlig munter.

Sie rieb noch einmal umständlich ihre Augen, wollte sein Gesicht erkennen. Nur ein Schattenbild war zu erspähen: »Was hast du denn mit einmal?«

»Die Menschenfresserei ist abgeschafft«, sprach er vor sich hin.

»Gute Nacht und rede rein dummes Zeug mehr.«

259 »Aber Seelenfresser können es bis zum Oberspielleiter bringen.«

Lotte tastete nach seiner Hand: »Was ist . . .« Wingen schwieg. Lotte drückte sich an ihn: »Ich will's wissen.«

Plötzlich legte er seinen Kopf auf ihre Brust. »Lotte. Jetzt wissen es alle Theater, daß der ›Joel‹ abgesetzt ist.«

Sie streichelte sein Haar: »Laß sie doch.«

»Und wenn's keiner mehr aufführt?«

»Was geht das dich an.«

Eine Weile war Wingen still. Dann hob er den Kopf: »Ich soll für den Wind schreiben?«

»Eine Frau sieht doch auch nicht nach den Leuten, wenn sie ihr Kind bekommt.«

Wingen starrte dorthin, wo in der Finsternis ihr Kopf lag. Nur einen ungewissen Schimmer ihrer Stirn, ihrer Wangen vermochte er zu ahnen. Er wollte ihr antworten, aber er wußte nichts, was er ihrem Wort entgegenstellen konnte.

Lotte dachte: er sorgt sich . . . »Morgen fängt dein Urlaub an, und wir fahren nach Besenroda. Dort siehst du's ganz anders an.«

Ob der Holunder unter dem Fenster gewachsen ist? dachte Wingen im Einschlafen. Sie würden in der Dachstube oben wohnen, wo er damals die große Maske unter Lottes Anleitung gemacht hatte.

Sachte schliefen sie ein, ohne Traumangst, und das Rauschen des Regens vor ihrem Fenster klang als das Plätschern der friedsamen Ilm in ihren Schlaf hinein.

Im Abteil dritter Klasse fuhren Herr und Frau Wingen mit Kind, im Abteil zweiter Klasse des gleichen Zuges zwei andere Reisende mit dem gleichen Ziel Besenroda. Der Andrang auf dem Bahnhof war groß gewesen. Und die Scheidung der Vermögensklassen auf Erden ist bekanntlich in dem Augenblick, da sich der Mensch zum Zwecke eines Ortswechsels in öffentliche Fahrzeuge begibt – sei es Eisenbahn, sei es Dampfschiff, sei es Leichenwagen – so vorsorglich deutlich, daß die dritte Güte nichts weiß von der zweiten und die zweite erst recht nichts von der dritten, von der allerersten Güte überhaupt zu schweigen. Herr und Frau Wingen ahnten nicht, daß ihre Lokomotive auch den Professor Holdermann und den Kapitän a. D. Langloff nach Besenroda zog.

Für Holdermann war die Reise aufs Schottenhaus Pflicht und höchste Zeit geworden. Der ewige Kortüm hing nun schon seit Wochen in breitem goldenem Rahmen über dem Kamin, und der leibliche 260 Kortüm mußte sich täglich von neuem ärgern über den leeren Fleck rechts oberhalb seines Hauptes. Kortüms plötzliche Abreise hatte seinerzeit leider die letzte Vollendung des Gemäldes verhindert: die Wappenbilder fehlten immer noch. Der Auftraggeber sah und hörte nichts mehr von dem Schöpfer des Werkes und setzte sich eines Tages hin und schrieb diesen Brief: »Das Bild gibt mich wieder, wie ich leibe und lebe, verehrter Meister. Aber noch immer muß der Beschauer den rohen Leinwandfleck in der Ecke oben mit vorgehaltener Hand verdecken, sonst geht die Einbildung verloren, daß ich das selbst sein soll. Man hält alles nur für bemalte Leinwand, und darunter leidet meine Ähnlichkeit.« Herr Kortüm lud den Maler zu sich aufs Schottenhaus ein. Er könne die Wappenbilder hier an Ort und Stelle vielleicht noch stimmungsvoller malen, und er, Kortüm, stände jederzeit mit seiner reichen und besonderen Erfahrung in Wappensachen zur Verfügung. Zudem sei der Aufenthalt im Schottenhaus eine Erholung für den Meister, und man könne die leider so jäh unterbrochenen Gespräche über Schönheit und Kunst ans Ende führen. Zwar baue er zur Zeit, aber nur zwei Flügel nach Norden hin. Der Herr Professor jedoch bekäme ein Zimmer nach Süden und könne ungestört leben und schaffen.

Holdermann las den Brief, kramte in einer Mappe und zog jene Rötelskizze hervor, die er damals nach den beiden in Zwistigkeit geratenen Männern Kortüm und Langloff heimlich aufs Papier geworfen hatte. Er nickte. Kortüms Wappensorgen waren ihm gleichgültig: auch ohne die paar bunten Flecke war das Werk für ihn abgetan. Der gemalte Kortüm stand in seinem Goldrahmen und wartete nur noch auf die Zukunft. Aber der lebendige Kortüm erschien dem Maler noch lange nicht erledigt. Holdermann nickte immer lebhafter. Mit Vergnügen würde er reisen; liebevoll betrachtete er seine Rötelskizze: mit noch größerem Gewinn freilich, wenn er diesen Kapitän zur Mitfahrt überreden könnte. Die beiden nebeneinander – da steckt vielleicht ein Bild drin . . . ein Doppelporträt . . . das wäre allerdings ein Werk der seltensten Gattung.

Der Professor ließ den Brief einige Tage liegen, bis es sich machte, daß er Langloff traf. Aber nach den ersten Worten des Malers wehrte der Kapitän mit beiden Händen ab: »Den Mann auch noch besuchen? Nein, danke.«

»Besuchen sollen Sie ihn doch nicht! Ein Zimmer bestellen! Das Schottenhaus ist eine öffentliche Gaststätte. Schöne Gegend. Ihr Mieter geht übrigens auch hin.«

»Wingen? Aufs Schottenhaus?«

261 »Im Dorfe nebenbei wohnen sie«, nickte Holdermann, »Wingen und Frau.«

»Die Frau geht auch? Ich würde mit den Herrschaften denn ja wohl ganz gern ein vernünftiges Wort reden.«

»Das dachte ich mir.«

Aber Langloff dachte bei sich im stillen wesentlich mehr, als ihm Holdermann trotz seiner Maleraugen anzusehen vermochte. Wingens wegen hätte Langloff keinen Kortüm in Kauf genommen. Der Kapitän sammelte jedoch nicht nur Münzen ohne Kurswert: er trug seit einiger Zeit in dicken Mappen Werbeschriften, Bilder, Unterlagen, Erfahrungen und Preislisten zusammen über gesund gelegene größere Gaststätten. Nicht zu seinem Vergnügen sammelte er diese Fachkenntnisse: sein Sohn, der Schiffsarzt, hatte ihm geschrieben, er habe das Fahren satt und plane die Niederlassung als Arzt auf festem Grund und Boden. Die große Stadt sei ihm als altem Seefahrer zu laut, die Landpraxis sei ihm als altem Schiffsarzt zu weitläufig, aber auf dem Lande ein städtisch behagliches Genesungsheim etwa, oder ein Sanatorium – das treffe nicht nur seinen, sondern den Geschmack aller begüterten Genesungsuchenden. Und solche Leute seien die besten Patienten: der liebe Vater möge sich doch ein wenig umtun. Langloff war wohlhabend genug, um diesen Geschmack seines Sohnes ebenfalls für einen guten Geschmack zu halten. Der Vorwand, bessere Gaststätten studienhalber zu besuchen, hatte ihm schon zu mancher angenehmen kleinen Reise verholfen und in seinen Ruhestand eine gemütlich fortspinnende Tätigkeit gebracht. Der Alte horchte fleißig nach Grundstückspreisen und Wirtschaftlichkeit. Er beobachtete Bedienung, Beherbergung, Beköstigung, Preise, Sonderpreise, Aufschläge, Sonderaufschläge. Er prüfte den Zustand der Betten, unterschied bereits Daunen und Halbdaunen, Flurschoner und filzunterlegte Doppelläufer. Langloff bekam mit der Zeit einen Hotelblick, daß auch alte Oberkellner sich sogleich vor ihm in acht nahmen. Alle diese Erkundungen und kritischen Betrachtungen trug er in sein Taschenbuch ein und stellte von Zeit zu Zeit seinem Sohn Walter ausführliche Berichte zusammen.

»Sie überlegen lange«, mahnte Holdermann.

Wenn ein Mann wie dieser Kortüm, schloß Langloff seine Überlegungen, Gäste um sich zu sammeln und von ihnen zu existieren vermag, dann wird es einem vernünftigen Menschen wie meinem Sohn erst recht gelingen. »Dieses Schottenhaus muß sehr lehrreich sein. Ich komme mit, Herr Professor.« 262

Der Bahnsteig in Besenroda lag in tiefem Frieden, als der Zug einlief. Hier verfehlte keiner den andern. Die beiden Reisegruppen erkannten sich, und hutschwenkend schritt die zweite Klasse auf die dritte zu. Da aber Wingen beim Aufklappen des Kinderwagens seinen Sohn halten mußte, konnte er den Hauswirt Langloff nicht ganz so lebhaft begrüßen, wie Langloff, der freie Hände hatte, Lotte guten Tag wünschte. Holdermann zeigte beim Anblick des Kinderwagens eine leichte Befangenheit, die Wingen mit dem Säugling auf dem Arm sogleich mitempfand. Lotte, zwei Schirme am Arm, den Griff des Kinderwagens in der Rechten, eine kleine Handtasche und einen Korb mit Mundvorräten in der Linken, konnte die Bewillkommnung vor der Bahnsperre ihres Heimatortes nicht allein bewältigen. Man wünschte sich denn recht bald allerseits ein gutes Wiedersehen. Die Familie Wingen zog ihres Wegs an der Ilm hin ins Dorf, nachdem sie hinter der Sperre eine ansehnliche Verstärkung durch Lottes Verwandte erfahren hatte. Der Maler und der Hauswirt begannen mit dem Aufstieg zum Schottenhaus. Nach kurzer Zeit stolperte Langloff in den ausgefahrenen Geleisen und knurrte: »Wer den Mann da oben nicht kennt, merkt an der Straße, zu wem er kommt.«

Holdermann hielt die Hand über die Augen, um ungeblendet von der scharfen Frühlingssonne die Landschaft zu sehen: »Kortüm wohnt gut«, sagte er bewundernd. »So?« fragte der Kapitän und rieb sein schmerzendes Fußgelenk.

Herr Kortüm aber stand oben am Abhang des Hügels und betrachtete durch sein gutes Doppelglas die beiden nahenden Gäste: »Da bringt er wirklich diesen Kerl mit. Wie kann man sich in Gegenwart eines solchen Gastes über Kunst unterhalten?«

Herrn Kortüm war es wieder einmal klar gemacht worden, daß er von Beruf ein Gastwirt war. In der Stadt, in der Werkstatt Holdermanns sogar, war er ein Herr gewesen. Ein Auftraggeber. Dort hatte er mit Langloff gesprochen, wie Kortüms eben mit Langloffs zu reden pflegen. Und hier, auf seinem eigenen Grund und Boden – hier mußte er hochachtungsvoll dankend eine Postkarte entgegennehmen, auf der so ein Langloff einem Kortüm in dürren Worten mitteilte, wann er einträfe, wieviel Gepäck abzuholen und welche Art von Zimmer für ihn bereitzustellen sei. Damit nicht genug: dieser Langloff hatte eine genaue Liste von Speisen beigelegt, welche man ihm nicht anbieten wolle, und ferner eine Aufstellung derjenigen festen und flüssigen Nahrungsmittel, welche ihm zuträglich seien – ja, bei einigen Rohstoffen war sogar die besondere Bereitungsart vorgeschrieben.

263 Herr Kortüm war sehr aufgebracht: »Natürlich! An Bord haben diese Herren Kapitäne schlecht gerechnet zwei Jahrzehnte lang gespeist, daß es zum Erbarmen ist. Mit Geflügelleberpasteten fangen sie morgens an, und mit schwerem Fisch und Wildbret hören sie abends noch nicht auf. Dann kommen noch Sandwiches, sie rauchen furchtbare Zigarren, trinken braunen Porter aus Krügen, weißen Burgunder aus Pokalen, bekommen Magengeschwüre, sagen dann, sie seien leidend, und unsereiner kann eine ganze Provinz absuchen nach Altendamenspeisen und milden Kräutertees, wenn die Herren mit ihren Kapitänsaugen und Magengeschwüren einem acht Tage lang die Ehre geben – und womöglich muß das Personal trotzdem noch die halbe Nacht für heiße Leibpackungen sorgen: diesen Gast soll der Teufel holen . . .« Die letzten Worte murmelte Herr Kortüm nur zwischen den Zähnen, da die beiden Ankömmlinge eben um die Ecke bogen und ihm zuwinkten.

Bitte« – Herr Kortüm öffnete Fremdenzimmer Nummer sieben – »die Sonne.« Im behaglichen Gefühl des gesicherten Besitzers wies Herr Kortüm mit vorstellender Gebärde auf das voll ins Zimmer blickende Gestirn.

Holdermann warf einen Blick durchs Fenster und schüttelte den Kopf: »Der runde Berg da drüben – wie heißt er? Kolmberg? – der verrennt mir die Aussicht.«

»Zimmer mit Fernsicht habe ich auf der anderen Seite. Aber ohne Sonne, Meister.« Er führte den Maler in ein Nordzimmer.

Der Blick ging ohne Grenzen in den Raum der Welt.

»So ist es gut.« Holdermanns Auge folgte den sanften Erdwellen. Braun und grau wölbte sich eine hinter der anderen. Nur die Grünfelder der Wintersaaten leuchteten scharfbegrenzt aus den Erdfarben. Tief in der Ferne jagte ein Regenstrich über die Felder. Jetzt verschwand er als Dunst im verschwimmenden Horizont. Der Maler legte den Kopf zurück und nahm lächelnd in seine Augen hinein, was da vor ihm unendlich schimmerte. Unbewußt zog er eine Zigarre aus der Tasche, steckte sie in den Mund. »Ahh«, sagte er und sog an dem Tabak, den er anzuzünden vergessen hatte, »der Ausblick ist die Sonne wert. Was liegt dort? Nein, rechts. An dem Nußbaum vorbei – ja, ganz da draußen, meine ich.«

Herr Kortüm blinzelte in die Ferne, rieb seine Bartstoppeln am Kinn und begann zu erklären: »Die Hainleite. Dahinter die Harzberge.« Holdermann kniff die Augen zusammen und strengte den 264 Blick an. »Sehen Sie? Nur ein Hauch. Dahinter kommen wieder Hügel. Hügelwellen nur. Auslaufende Landwellen, Felder. Dann kommt die Heide. Und dann, ganz hinten, ja: die Küste.« Er sah nach der Uhr, dachte einen Augenblick nach, dann nickte er: »Jetzt eben kommt sie.«

»Wer?« fragte Holdermann betroffen. Er hatte sich wirklich verleiten lassen, den Kortümschen Erklärungen mit spähendem Blick zu folgen, als ob er ihm alle diese Herrlichkeit zu Füßen legen könnte: »Wer?«

»Die Flut, Meister. Die Nordseeküste liegt dorthin.«

Holdermanns Auge ließ den fernen Dunst los. Lächelnd lag sein Blick auf dem unbestimmten Hauch ganz da draußen, von dem ein ehrlicher Gastwirt nicht behaupten konnte, ob das noch Erde sei oder schon Himmel.

»Sie haben gute Augen«, sagte der Maler.

»Ich liege richtig. In der Mitte.« Herr Kortüm klopfte jetzt tatsächlich seinem verehrten Gast auf die Schulter, und wieder lag der Glanz des Besitzgenusses in seinem Auge. »Ringsum Deutschland. Jaja. Herr Professor: die Kunst, zu Hause zu sein. Eine große Kunst. Ich kenne ein gutes Stück Erdball und habe es erprobt – man muß nur darauf halten, daß man bei sich ist. Dann weiß man, was viele vor lauter Einwohnern nicht sehen: wie gewaltig dieses Land ist.«

Sie sprachen von Land und von Fernblick, schritten dabei langsam die Treppe hinab und traten in die Halle. Holdermann sagte eben: »Ja, Herr Kortüm, auf Ihre Weise angesehen, steckt viel in diesem Land.«

Da blieb Kortüm plötzlich stehen und zog die Stirn in unzählige Falten: »Viel, Meister« – er legte die Hand auf Holdermanns Ärmel – »unmenschlich viel« – er seufzte – »mehr, als man denkt . . .«

Holdermann sah ihn erwartungsvoll an, und Kortüm begann zu erzählen von dem Unding, das in der Erde unter seinem Neubau gesteckt hatte: »Püsterich nennen es die Leute.«

Der Maler wurde neugierig.

»Wir können gleich durch die Küche in den Hof gehen«, sagte Herr Kortüm und öffnete eine Tür mit der Aufschrift »Privat«, welche zunächst in den sogenannten Zettelgang und aus diesem durch Anrichte und Küche in den Hof führte. In dem Halbdunkel des schlechtbeleuchteten Zettelganges war kaum etwas zu sehen. Herr Kortüm heftete hier die laufenden Speisezettel, Rechnungen, Quittungen und sonstigen 265 Tagespapiere an die Wand. Erstaunt blieb er stehen. Vor einem Zettelbündel stand ein Mann, der in den Papieren blätterte und trotz des schlechten Lichtes offenbar sogar las – – Langloff. Herr Kortüm sah ihn entrüstet an. Aber Langloff gähnte laut und sagte: »Gibt's bald Mittagessen?«

»Wie kommen Sie hier herein?«

»So rum. Durch die Türe da.«

»An dieser Tür befindet sich die Aufschrift ›Privat‹, Herr Kapitän!«

»Deshalb bin ich hier ja eingetreten. Ich suchte Sie nämlich. Sagen Sie, Herr Kortüm, Sie sitzen doch ziemlich verlassen auf dem Berg hier. Dazu spottet Ihre Straße jeder Beschreibung – wieviel Prozent müssen sie wohl zurechnen für das Heranbringen der Lebensmittel?«

»Ich wohne nicht auf einem Berg, sondern in einem Gebirgssattel. Ich sitze auch keineswegs verlassen hier. Auf gängige Lebensmittel lege ich keinen Aufschlag. Nur auf Speisen für Herrschaften, die infolge reichlichen Lebens am Magen leiden. Jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe mit dem Herrn Professor über eine künstlerische Angelegenheit zu verhandeln. Und diese Tür hier« – er öffnete und machte eine einladende Geste nach dem Saal hin – »führt Sie in die große Halle zurück, in der Sie zwischen zwölf und ein Uhr Ihre Sondermahlzeit einzunehmen belieben wollen – bitte.«

Herr Kortüm schloß die Tür hinter Langloff und fragte Holdermann, was er dazu sage!

Der Maler aber dachte wieder an sein Doppelporträt und sagte gedankenverloren: »Schade, daß in dem Gang so schlechtes Licht ist.«

 


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