Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Erde

Die Sonnenstunden verbrachte Konstanze in ihrem Liegestuhl auf dem Balkon. Herr Kortüm saß auf der Hausbank unter dem Balkon und hütete die Ruhe der Konstanze Schröter. Es war nicht rätlich, auf der Südseite des Hauses in diesen Tagen etwa laut zu singen oder zu rufen. Konstanze ließ sich wenig blicken. Aber Herr Kortüm hatte rasch die erste Enttäuschung darüber verwunden, als er ihre müden Augenlider und das ein wenig verlegene Lächeln um ihren Mund sah. Grimmig hielt er das Leben vom Schottenhaus fern. Ein solches Gasthaus hatte die Welt noch nie erlebt. In den Tälern verbreitete sich die Kunde von der unglaublichen Behandlung, der sich müde Wanderer bei der Einkehr im Schottenhaus aussetzten. Das Kaffeetrinken im Freien war überhaupt untersagt. Herr Kortüm saß wie ein dicker Drache auf der Bank und lauerte auf Ruhestörer. Plötzlich fiel ein Schatten über ihn: Konstanze in einem wundervoll patinagrünen Strickkleid stand vor der Haustür in der Sonne und blinzelte in den holden gelbgrünen Hauch der Kätzchen an den glatten Haselzweigen.

»Oh«, sagte Herr Kortüm, »es ist uns ein Vergnügen.« Mit uns schien er die Frühlingslandschaft und sich zu meinen.

»Am liebsten bliebe ich ganz hier oben.«

»Bleiben Sie, Gnädigste.«

»Und das Theater?«

Herr Kortüm wies auf sein Haus: »Befehlen Sie, und in drei Tagen steht es wieder da.«

»Wenn das so ginge. Aber leider gehören zum Spiel die Zuschauer.«

Mit einem tiefen Seufzer antwortete Herr Kortüm: »Ich weiß. Zu mir gehören ja auch meine Gäste.«

Konstanze setzte sich auf die Bank. Greller als im Sommer schien die Sonne. Fast weiß prallte sie auf das braune Land. Herr Kortüm eilte ins Haus und kam mit Kissen, Decken und einer Fußbank zurück. Sie sah ihn dankbar an: »Bleiben Sie, Herr Kortüm. Erzählen Sie mir etwas. Aber es muß lange her sein.«

Herr Kortüm strich sein Kinn. Ihre Augen waren entschieden klarer. Sie beobachteten auch schon wieder leise spöttisch.

Ting, ting, ting klang es aus dem Walde.

»Liegt dort hinter dem Wald ein Dorf?«

»Nein. Das nächste Haus steht fast eine Stunde weit von uns.«

»Aber was hämmert denn da?«

162 »Ah!« – Herr Kortüm erhob sich – »ich werde es sofort verbieten.«

»Nein doch! Ich frage ja nur. Es klingt reizend.«

»Ja, der da hämmert, das ist . . . hm – mein Windfahnenmacher.«

Konstanze kannte doch Herrn Kortüm. Aber dieser Mann nannte immer wieder Unternehmungen und verfügte über Hilfskräfte, die kein anderer Mensch aufzuweisen hatte: »Aber Herr Kortüm!«

»Bitte, Gnädigste?«

»Der Mensch braucht doch nicht so viel Windfahnen, daß er extra einen Nibelung im Walde sitzen hat, der ihm solche Dinger machen muß!«

»Ja, gewöhnlich braucht man auch nur eine aufs Dach. Ich habe den Mann in den Wald geschickt, damit er Sie nicht stört. Morgen werde ich ihn hinter den Hachelstein setzen. Dann hören Sie gar nichts mehr.«

Konstanze lachte: »Wer ist denn der Mann?«

»Es ergab sich so mit ihm. Ein gewisser Schwartenmacher. Einer der besten Sargrestaurateure, die wir heute haben. Ein Metallkünstler, wissen Sie? Er hat mir wochenlang ausgezeichnete Dienste geleistet bei der Aufstellung meines Museums.«

Bei dem Wort »Sargrestaurateur« hatte Konstanze gedacht, sie habe sich wohl verhört – aber jetzt sah sie Herrn Kortüm erschrocken an: »Ihr – was?«

»Museum. Oh! Sie wissen das ja noch gar nicht! Ja – mein Museum.«

»Was denn für ein Museum?«

»Hm . . . das ist nicht leicht zu sagen. Es ist nicht eigentlich ein gewöhnliches prähistorisches Museum. Ein historisches auch nicht. Heimatmuseum kann man auch nicht sagen. Eigentlich gibt es nur eine Bezeichnung dafür.«

»Da bin ich aber doch neugierig.«

»Museum Kortüm heißt es. Ja.« Er machte einen ganz spitzen Mund, zog die Augenbrauen hoch und zeigte mit dem Daumen hinter sich. »Im zweiten Stock, Gnädigste. Fünf Räume. Rund vierhundertfünfzig Nummern. Katalog von hundertzwanzig Seiten.«

»Und das haben Sie in der kurzen Zeit zwischen dem Festspiel und heute fertiggebracht?«

Herr Kortüm schlug die Beine übereinander. Da guckt sie, dachte er und wippte mit dem Fuß.

»Kann man sich das ansehen?«

»Liebe gnädige Frau!« Herr Kortüm sprang auf. Konstanze brannte 163 sich eine Zigarette an. Sie stiegen die Treppen hinauf. Herr Kortüm öffnete feierlich die Tür zu Raum eins und begann sie durch sein Museum gleichen Namens zu führen. Obschon er mit dem dicken handschriftlichen Katalog neben ihr herging und eingehende Erklärungen gab, war Konstanze enttäuscht. Sie gingen schon im Raum drei herum, und das Museum war gar nicht kortümisch, sondern ebenso langweilig wie andere Museen. Im Raum vier gähnte sie und zeigte auf die Inschrift »Verschiedenes«: »Was ist denn da drin?«

»Alles nicht näher Bestimmbare.« Er öffnete.

»Allmächtiger!« sagte Konstanze, legte die Hand aufs Herz und starrte die ungeheure Maske mit den verbundenen Augen an,

»Ein in seiner Art einziges Stück«, erläuterte Herr Kortüm und kratzte sich in den Bartstoppeln. »Ich werde es Ihnen nachher auch mit offenen Augen vorführen.«

Konstanze ging zur Wand hin, an die das Schild angenagelt war. Sie las.

Sie las sehr lange . . .

Dann warf sie einen flüchtigen Blick auf die anderen unter »Verschiedenes« fallenden Gegenstände und ging zur Tür. Herr Kortüm nahm das Tuch von den Augen der Maske ab: »Bitte, Gnädigste – ohne Binde.«

»Danke«, sagte Konstanze Schröter. Sie ging. Herr Kortüm stand mit der Augenbinde in der Hand da und hörte, wie ihre Schritte verhallten, wie die Treppe knarrte, eine entfernte Tür klappte. Dann war es still. Eine Weile ging er in Raum »Verschiedenes« hin und her. Dann faßte er das Tuch an zwei Ecken, strich es glatt und hing es ungefältelt über die Maske. Nun sah nur der Mund darunter hervor. Wütend blickte Herr Kortüm den Mund an: »Ich habe es ja gesagt. Man hätte den Unflat rausschmeißen müssen. Dieser Wingen!«

An diesem Tage bekam Herr Kortüm Konstanze nicht mehr zu sehen. Brigitte holte um fünf den Tee und um sieben das Abendbrot. Noch spät sah Herr Kortüm Licht in ihrem Fenster, aber herunter kam sie nicht. Als sie am späten Vormittag des anderen Tages noch nicht sichtbar wurde, schickte Herr Kortüm Liese hinauf: ob die gnädige Frau gestatte, daß der Metallkünstler Schwartenmacher heute die Windfahne auf dem Dach befestigte. Die Geräusche würden auf ein Mindestmaß beschränkt.

Konstanze lag auf ihrem Liegestuhl, ließ das Buch fallen und lachte laut: »Nein, Liese – wirklich! Euch kann man nicht böse sein.«

Sie ging hinunter. Sämtliche Bewohner des Schottenhauses standen 164 im Vorgarten und starrten nach dem Dach, auf dem Schwartenmacher in weißen Segeltuchschuhen fachmännisch herumspazierte. Die eiserne Stange war schon zu sehen.

»Ist die aber hoch«, sagte Konstanze.

Herr Kortüm erklärte ihr, diese Höhe sei das mindeste, wenn man die Fahne in den Tälern sehen solle. Er zeigte ihr auch die beiden Angeln, in welche die Windfahne eingesetzt würde, und das Töpfchen Fett, mit dem Schwartenmacher diese Angeln schmieren würde, damit die Windfahne nicht quietschte: »Nichts, aber auch nichts werden Sie von ihr hören. Nur fürs Auge ist sie da.«

Ehe Konstanze am Nachmittag ihren Tee trank, wollte sie erst einmal dem Windfahnenmacher bei der Arbeit zusehen. Sie ging in den Garten, sah hinaus und traute ihren Augen nicht: oben auf dem Dache – sie rieb sich die Augen, aber es war richtig – schwebte jetzt ein großes blitzend silberhelles Maskenpaar. Die schön gebogenen Träger waren zart gearbeitet und kaum zu erkennen, so daß ein den Masken gegenüber, am anderen Ende der Drehstange angebrachtes K in der Luft zu hängen schien. Der dicke Herr Kortüm zwängte seinen Oberkörper aus einer Dachluke heraus. Das sah gefährlich aus: wenn er sich bewegt, dachte Konstanze, reißt er das ganze Dach auf. Aber Herr Kortüm kehrte sich nicht an die Gefahr. Er gab Befehle: »Westwind!« schrie er. Der Metallkünstler saß rittlings auf dem Dachfirst, hatte in den Händen einen großen Blasebalg, wie ihn die Arbeiter zum Löten brauchen, und blies nun auf Herrn Kortüms Anweisung von Westen her die Breitseite der weinenden Maske an. Das Gestell bewegte sich um die Achse, und silbern schwebte die lachende Maske in die Weststellung.

»Hab ich's nicht gesagt?« rief der Meister aus dem Dachfirst. »Das ist Schwartenmacherarbeit! Die Windfahne folgt dem leisesten Luftzug. Und wie die Masken blitzen! Das ist ein Wahrzeichen der Heimarbeit, wie es keins gibt im Lande!«

»Nordwestwind!« schrie Herr Kortüm.

Jetzt packte Schwartenmacher die Griffe und gab ruckweise den stärksten Wind, dessen der Blasebalg fähig war. Der Stoß traf die lachende Maske zu heftig: einmal, zweimal fuhr die Fahne herum und stand dann mit dem weinenden Gesicht nach Nordnordwest zitternd still.

Hoch über dem blinkenden Maskenspiel schwebte regungslos ein großer Raubvogel im blauen Himmel.

»Ha!« schrie Herr Kortüm, »Donner und Blitz und Hagelsturm!!«

»Nee«, lachte Schwartenmacher, »das kann ich nicht machen.« 165

Das Museum erfreute sich eines für diese Jahreszeit immerhin erträglichen Besuches. Die Anordnung völliger Lautlosigkeit im Schottenhaus hatte Herr Kortüm auch wesentlich mildern können. Die Leute waren neugierig und kamen. Seit dem geglückten Festspiel setzte die Öffentlichkeit ein Zutrauen in Herrn Kortüms Unternehmungen. Sogar die Zeitungen berichteten über die neue Sehenswürdigkeit. Manche Pressestimmen klangen allerdings etwas belegt. Ein Professor hatte sogar den Ausdruck Dilettantismus gebraucht. Aber den brauchen ja Professoren immer. Der Leiter des Kortüm-Museums hätte sich darüber nicht aufgeregt. Man weiß, wie Museumsfachleute miteinander umgehen. Aber der Artikel ging noch weiter: an den Schluß seines sogenannten Museums habe dieser regsame Gastwirt eine große Maske gesetzt, habe sich nicht gescheut, den bekannten Dichter Wingen der Urheberschaft zu beschuldigen, habe die Maske »Dämon« genannt, dann diese Bezeichnung wieder durchgestrichen und »Gerechtigkeit« darübergeschrieben – dabei könne sich jeder auch nicht wissenschaftlich vorgebildete Besucher überzeugen, daß die Augenbinde gar nicht dazugehöre, sondern nur mit einer zeitgenössischen Sicherheitsnadel festgesteckt sei. Übrigens habe sich Berichterstatter überzeugt, daß nichts dahinter sei: die Maske habe völlig leere Augenhöhlen – und so sei die ganze Museumsunternehmung.

Schwartenmacher war leider abgereist. Herr Kortüm konnte ihn nicht mehr fragen, was gegen jenen Mann zu tun sei. Er wollte eben diese Unterhaltungsbeilage in den Kasten legen, wo ja schon mehr derlei ruhte: Pfändungsdrohungen, eine Dankadresse – da sah er Konstanze am offenen Fenster sitzen. Er mußte sich aussprechen: was sie dazu sage, fragte er und hielt ihr das zerknitterte Zeitungsblatt hin.

»Ich habe eben im ›Esperstedter Tageblatt‹ noch etwas viel Hübscheres gefunden«, antwortete Konstanze.

Herr Kortüm las folgende fettgedruckte Überschrift: »Der Besenröder Dickschädel«. Dann ging es los: »Das neue und so anregende Museum des in weiten Kreisen wohlbekannten und geschätzten Herrn Kortüm aus dem Schottenhaus besitzt unter Nummer Vierhundertzehn ein ungemein aufschlußreiches Stück, das offenbar vielen Besuchern bisher entgangen ist. Wir weisen unsere lieben Leser eindringlich auf die genaue Besichtigung gerade dieser Nummer hin. Wie die Bezeichnung dartut, handelt es sich um das Fragment der Schädeldecke eines Einwohners von Besenroda. Wir haben durch exakte Messung feststellen können, daß der Schädel die Dicke von fünf Millimetern besitzt. Ein 166 Dickschädel solchen Ausmaßes ist unseres Wissens noch in keiner anderen Gemeinde Thüringens festgestellt worden und entschuldigt viele, unseren Lesern nur zu bekannte Vorgänge, für die bislang eine Erklärung schlechthin unauffindbar war.«

Herrn Kortüms Erkenntnis, daß der Mensch der Öffentlichkeit lieber nichts zugänglich machen soll, kam zu spät.

Die lachende Maske auf seinem Dache zeigte sömmernden Südwind an. Konstanze hatte sogar schon ein frühes Veilchen gefunden. Aber Blitze und Donner und Hagelschläge, die Schwartenmacher seinerzeit bei der Windfahnenprobe auf dem Dache nicht hatte beschaffen können, die brauten im Ilmtal und kamen drohend, hinter bleigrauen Wolken grollend, langsam näher und spotteten des lachenden Vorfrühlingshimmels.

»Heute kommen se«, sagte Monich. »Verflucht noch 'nmal. Schartn haben sie nich mit in de Deputation genommen. Weil er dir nachm Maule redt, sagen se. Aber ich bleibe bei dir, Kortüm. Sei nur immer hübsch freundlich. Dann könn' se nischt machen.«

Nicht in Zylinderhüten, ohne Dankadresse und ohne Notenbücher und Stimmgabel erstieg am späteren Nachmittag die Besenröder Deputation den Schottenhügel.

Ob Herr Kortüm zu sprechen sei.

»Ich lasse bitten.«

Herr Kortüm stand in der Mitte des Geweihsaales, Monich einen Schritt hinter ihm. Wortkarg kam die Männerschar herein. Platz nehmen wollten sie nicht erst. Sie hätten nur eine Frage: ob es wahr wäre, daß Herr Kortüm den Aufsatz über die Besenröder Dickschädel in die Esperstedter Zeitung eingerückt hätte – man reichte ihm das Zeitungsblatt.

Herr Kortüm nahm das Blatt nicht, sondern begann: »Welches –«

»Kortüm«, mahnte Monich leise.

Welcher Herr diesen gemeinen Schwindel aufgebracht hätte, fragte Herr Kortüm.

»De Leute erzähln's.«

»So!«

»Eine Schande is es, daß wir Dickschädel haben solln!«

»Wo wir so mitgearbeitet haben für's Theaterfest dazumals!«

»Das lassen wir uns nich gefalln!«

»Und woher wissen Sie denn, daß der verdammte Kopp einem Besenröder gehört hat, he?«

167 »Ich habe das Schädelfragment auf Besenröder Grund gefunden.«

»'s gibt Leute genug in Besenroda, die keine Besenröder sin!«

»Zum Beispiel aus Hamburg kann einer sein, der bei uns wohnt!«

Herr Kortüm preßte die Lippen zusammen und schwieg.

»Was wird denn nu?« fragte ein Besenröder.

»Wieso'n?« fragte Monich gemütlich.

»Mit dem Knochen da in der Zeitung!«

»Nu will ich euch 'nmal was sagen, versteht 'r. Jetzt setzt ihr euch erst 'nmal hin. So« – Monich setzte sich – »un nu trinken wir einen, nich wahr, Kortüm?«

»Gern«, sagte Herr Kortüm und setzte sich.

Die Besenröder blieben stehen und sahen sich an.

»So. Nu kommt der Knochen dran. Setz dich doch, August.«

»Wir sind nich zum Sitzen, wir sind wegen dem Knochen gekommen und wegen der Zeitung.«

»Nu, August, das is doch ganz einfach. Wir wickeln den Knochen in de Zeitung, un ihr nehmt'n mit. Liese, bringe mal Bier! Was meinst'n du zu meinem Vorschlag, Kortüm?«

»Gut. Ich bin bereit, das Schädelfragment an die Gemeinde auszuliefern. Darf ich bitten, Monich: Raum zwei, Nummer vierhundertzehn.«

»Nu seht ihr?« sagte Monich harmlos und ging klappernd mit den Museumsschlüsseln ab.

Die Deputation trat von einem Fuß auf den andern. War das nun etwa noch schlimmer? Was sollten sie anfangen mit dem verdammten Schädelbein?

Es war schlimmer – denn Herr Kortüm fuhr fort: »Und ich werde in das ›Esperstedter Tageblatt‹ setzen lassen, daß sich das Publikum zur Besichtigung nun an die Gemeinde Besenroda selbst wenden müsse, da der Knochen wieder in ihren Besitz übergegangen sei.«

»Nee!! Das geht nich! Fort muß der Knochen!«

»Wohin denn, meine Herren?«

»Irgendwohin!«

»Sonst wird keine Ruhe nich!«

»Wir wolln ihn auch nich haben!«

Monich erschien mit dem Knochen in der Hand. Hinter ihm kam Bilmes. Eigentlich war er im Dienst. Er trug ein Fuchseisen unterm Arm, das heute noch am Dreiherrenstein gestellt werden mußte. Aber er hatte die Besenröder auf der Schottenstraße heraufkommen sehen. Der Dickschädelaufsatz in der Zeitung beschäftigte die ganze Gegend. »Paß auf, da gibt's was«, sagte er sich und ging ein bißchen horchen. Er war gerade recht gekommen.

»So, Meister, das is er« – Monich drückte dem vordersten Besenröder den hübschen schwarzglänzenden Sockel mit dem verhängnisvollen Schild vorne und dem Schädelknochen oben drauf in die Hand – »aber jetzt hab ich Durst.«

Das Bier stand auf dem Tisch und schäumte lieblich. August stellte das Museumsobjekt dazu und nahm statt dessen ein Glas in die Hand. Die anderen griffen auch zu.

Das Bier gluckste in den Kehlen. »Das is Sünde!« sagte Bilmes plötzlich. Er trank nicht.

»Prost«, antwortete Monich freundschaftlich und klopfte ihm auf die Schulter.

»Sünde is es!« Bilmes schlug sogar auf den Tisch. »Wenn ich mir denke, das wäre mein – Kopp un da sitzen sie drum rum un saufen!«

»Sauf mit. Jetzt haste noch was drinne im Kopp. Wer weiß, wie lange 's dauert. Mit einmal is er leer. Wenn de erst so weit bist« – Monich drehte den Sockel um und zeigte dem Evangelisten den Schädelknochen von unten – »so weit, du, dann is es vorbei. Leer, siehste's? Reine nischt is drinne.«

»Aber 's is 'n Andenken für das, was einmal drinne war. Das gräbt man nich aus der Erde raus un stellt's zum Angucken hin.«

Bilmes war immer auf seiten Herrn Kortüms gewesen und hatte den einsam auf seiner Höhe wohnenden Mann gegen die ganze Umgebung verteidigt. Heute war er zornig auf ihn. Herr Kortüm legte die Hand auf seine Schulter – ja, er stützte sich sogar auf Bilmes' Schulter und stand mühsam auf: »Meine Herren, Sie irren. Ich habe dieses Schädelstück nicht ausgegraben. Es lag auf der Erde. Ein Zufall mag es ausgewaschen oder ausgepflügt haben. Ich hob nur auf, was dalag.« Er nahm den Knochen in die Hand: »Sie verleugnen ihn. Schön. Ich werde die Nummer vierhundertzehn im wissenschaftlichen Verzeichnis löschen. Bilmes, kommen Sie her. Ich überreiche Ihnen hiermit vor diesen Zeugen den Schädelknochen. Bringen Sie ihn wieder an seinen Ort.«

»Wohin denne?«

»Das steht auf dem Schild. Gleich links von der unteren Ilmbrücke auf den ersten Ackerstreifen.«

»Na seht'r!« rief Monich. »Im Guten geht alles. Prost, Kinder.«

169 Bilmes sah mißtrauisch auf das Museumsobjekt: »Mit dem Klotz drunter soll ich's wieder eingraben?«

»Weg damit!«

»Grab's ein, wie's is, un's Maul halten, verstehste, sonst holt's einer aus Esperstedt wieder raus un stellt's dort aufs Rathaus. Hier haste auch de Zeitung mit dem Artikel über den Knochen. Da wickelste'n nein.«

Der Schuldiener hatte Klaus berichtet, die fremde Dame mit Bedienung auf dem Schottenhaus oben sei die Schauspielerin aus Weimar, die beim Festspiel als Bauerntochter auf dem Theater so schön gestorben sei: »Ja. Sie is wieder da. Aber krank soll sie sein, hab ich gehört. Drum darf je da oben auch keiner mehr laut reden.«

Konstanze auf dem Schottenhaus – und krank? Er wollte in die Schenke gehen und hören. Gleich aufs Schottenhaus getraute er sich nicht. Herr Kortüm hatte den Mitgliedern der Freitagsgesellschaft sagen lassen, sie könnten jetzt nicht kommen. Wenn Konstanze krank war, erklärte sich wenigstens, daß er nichts von ihrer Anwesenheit wußte. Klaus hoffte fast, daß sie ein ganz klein wenig krank sei. Sonst hätte sie ihm bestimmt geschrieben. Seinen Brief hatte sie doch so freundlich beantwortet: Lieber Herr Schart, hatte sie ihn angeredet. Er zog den Brief aus der Brusttasche. Immer trug er ihn bei sich. Vom vielen Lesen war das zarte gelbe Papier in den Brüchen eingerissen.

»Lieber Herr Schart«, las er. Er legte den Finger auf »Herr«. »Lieber Schart«, las er nun. Oh, das verfluchte Geld! Längst hatte er wieder nach Weimar fahren wollen, Mittag bei Pfund essen, ins Theater gehen, wieder bei Pfund essen – um halb elf abends. Konstanze konnte nicht eher, hatte Wingen gesagt. Sie würde gerne mit ihm speisen – lieber Schart, las er.

Klaus kam an die Ilmbrücke. Es wurde schon dunkel. Drüben auf dem Acker arbeitete noch jemand. Mit dem Spaten. Was gibt es auf einem gepflügten Acker zu graben? Wer ist der Kerl? Klaus ging über die Brücke – Bilmes!

»Häh«, sagte der Evangelist ärgerlich.

»Guten Abend«, antwortete Klaus.

Neben dem Loch im Acker lag ein Fuchseisen und ein Päckchen.

»Sie wollen wohl Füchse an der Besenröder Brücke fangen?«

»Schaden könnt's nischt. Manch einen könnte man fangen un 's Fell über die Ohren ziehn.«

170 Klaus lachte: »Lassen Sie sich nicht beißen.«

Bilmes grub. Nun war die Grube drei Spaten tief. Er nahm den Zeitungsballen.

»Was ist'n da drin?«

»Ach nischt.«

»Hör'n Sie mal. Das klingt ja verdächtig.«

»Nu muß ich's Ihnen doch zeigen. Aber reden dürfen Se nich, Schulmeister.« Er wickelte das Papier auf.

»Der Besenröder Knochen!«

Bilmes nickte.

»Haben Sie den aus dem Museum weggenommen?«

»Gegeben hat'n mir Herr Kortüm, versteh'n Se? Un ich soll'n hier wieder eingraben.« Bilmes erzählte den Vorgang.

»Unfug!« rief Klaus. »Da könnten ja alle Museen ihre Sachen wieder eingraben!«

»Könnten sie auch. Für die Sachen wär's besser un für uns auch. Bloß nischt aus der Erde holen, was sie einmal hat. Die Menschen vergessen 's Lebendge drüber. Wozu is'n die Erde da?« Bilmes legte den Knochen sanft auf den Grund seiner Grube, deckte den Zeitungsartikel darüber, schaufelte zu, stampfte fest und nahm den Spaten auf die Schulter: »So.«

»So«, sagte Klaus versonnen. Man sah dem Acker nichts mehr an. Bilmes hatte das Grab der Erde gleichgemacht.

»Als wenn nischt gewesen wäre, hähä.«

In die Schenke mochte nun Klaus nicht mehr gehen. Das Begräbnis hier im Acker an der Ilm erinnerte ihn, daß eilig handeln muß, wer zu handeln hat. Im Nu ist alles, als ob nichts gewesen wäre. Erstaunlich – wie schnell und spurlos verschwindet eine Streitsache, wenn sie der Erde zu nahe kommt!

»Diese Erde, Bilmes! Guten Abend.« Klaus ging nicht über die Brücke zurück, sondern an der Ilm entlang zum Schottenhaus hinauf.

 


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