Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Zwei Gruftforscher

Briefe öffnete Herr Kortüm mit Bangen, wenn er sie überhaupt öffnete. Heute legte ihm Liese ein Schreiben mit dem Poststempel Kranichstedt auf den Frühstückstisch, und das riß Kortüm eilig auf, las es, lehnte sich zurück und las es mit vielem Behagen noch einmal. Der Hauptpastor an der Marienkirche zu Kranichstedt, Leberecht Arcularius, eröffnete Herrn Kortüm, daß man ihm gerne gestatten wolle, in der Gruft unterm Chore den Zinnsarkophag des Marschalls Torstenson 118 zu besichtigen, die Inschriften und Wappen abzubilden und sonstige Untersuchungen, welche den Zwecken der Kortümschen Forschung dienlich seien, nach Belieben und mit Muße in der Gruft vorzunehmen.

Monich wurde benachrichtigt, der Koffer gepackt und ein Brief mit der Anmeldung für übermorgen an den Pastor Arcularius geschrieben. Herr Kortüm beschloß, den Abendzug zu benutzen. Es lag zwar kein guter Schnee. Am Tage schmolz er leicht an, und am Abend überfror er, so daß die böse Straße nach Besenroda hinunter zum Bahnhof beinah lebensgefährlich war. Aber Monich schmunzelte: »Wir haben doch unsre Esel.«

Kersch und drei der Esel standen nach Einbruch der Dunkelheit des anderen Tages vor dem Schottenhaus. Herr Kortüm bestieg den ersten, Monich den mittleren, und das Gepäck bürdeten Liese und der Hausknecht dem dritten Esel auf. Die beiden Reisenden führten kein geringes Stückgut mit sich. Zu den gewöhnlichen Koffern kam eine nicht sehr große, aber dafür um so schwerere schwarzlackierte Kiste mit Eisenbeschlag. Als der Esel Nummer drei die Last merkte, klappte er erzürnt mit den Ohren und beschloß, sich keinen Hufbreit von der Stelle zu rühren. Kersch mußte schimpfen, prügeln und endlich Liese und den Hausknecht zu Hilfe rufen. Sie schoben aus Leibeskräften und brachten nur mit vieler Mühe den gekränkten Esel in Gang.

»Was haste denn bloß in der schwarzen Kiste, Kortüm?« fragte Monich.

»Das wissenschaftliche Material. Die sechs Bände der Kortümschen Familienchronik, eine Ahnenkartothek. In einer Blechrolle befindet sich der Stammbaum. Ja, und was wir sonst brauchen werden: ein Wappenlexikon, ein Schreibzeug, einen Radiergummi – was eben für wissenschaftliche Forschung unentbehrlich ist.«

»Dunnerwetter«, sagte Monich. »Wie lange willst 'n eigentlich in Kranichstedt bleiben?«

»Die Arbeitsdauer ist bei wissenschaftlicher Arbeit nie abzuschätzen. Es gibt berühmte Gelehrte, Monich, die ihr ganzes Leben verbraucht haben, um nur die Einleitung zu ihrem Hauptwerk abzufassen.«

»Na, höre mal, Kortüm – so lange kann ich aber nich. Denke mal, wenn's in Besenroda brennt – eh die mich aus Kranichstedt holn, kann je sonst was passiern. Un dann mein Leinwandladen.«

»Wir werden sehen, Monich. Laß uns nur erst in der Gruft sein.«

Langsam ritten sie zum Bahnhof hinunter. Kersch ging mit einer Laterne in der Hand voran. Schnee – soweit das Auge reichte, nur 119 Schnee. Über den weichen, langausschwingenden Bodenwellen hing der volle Mond in einem unsäglich glitzernden Sternenhimmel. Das gelbe Laternenlicht huschte über die blaue Schneedecke, die je ferner, je milchiger schimmerte und am Horizont in einem Dunststreif verschwamm. Aus dem Dunst aber stieg straff und klar das Gewölbe des Himmels heraus. Die Hufe der Tiere sanken lautlos in den Schnee. Die Lederriemen knarrten. Sonst drang in die Stille nur das aus den tiefsten Räumen herschwingende Sausen der reisenden Gestirne. In sterblichen Ohren kann das wie ein polterndes Tosen klingen oder wie ein Hauch, so mild wie das Knistern einer Flocke, auf die eine neue Flocke sinkt.

Herr Kortüm machte ein große Handbewegung von Aufgang zu Niedergang: »Sieh, mein Gelände.« Monich wollte antworten, aber plötzlich lachte Herr Kortüm. Er lachte selten. Monich wunderte sich und sah ihm zu. Herrn Kortüm mußte man lachen sehen, denn er lachte lautlos. Sein schwerer Körper schütterte, und der Esel, verwundert über seine auf einmal schwappende Last, blieb stehen.

»Monich«, sagte Herr Kortüm, »wir reisen in eine Gruft. Die wirkliche Stille nennen die Leute Grabesstille. Monich, gibt es etwas Gemütlicheres in dem Lärm als eine Gruft?«

Die beiden Fremden erhoben sich in aller Frühe. Herr Kortüm erregte Aufsehen im Gasthof zum Lamm. Gewaltig saß er auf dem Sofa in der Mitte vor dem Frühstückstisch. Hinter ihm hing ein großer altmodischer Spiegel. Herr Kortüm hatte gerade Platz in dem Glas. Die Kellner erblickten ihn nun doppelt, aber erleben mußten sie diesen Gast drei-, ja vierfach. Das gesamte Personal des Hauses kam in Gang. Den Kaffee schickte Herr Kortüm zurück. Er ließ sich Tee bereiten. Weil er aber wußte, was Thüringer Tee nennen, befahl er die erschrockene Köchin vor sein Angesicht und erteilte ihr eine genaue Unterweisung im Teekochen. Der Lammwirt war stolz, einen so großen Herrn bei sich beherbergen zu dürfen, und wußte nun für den Rest seines Lebens, was ein weiches Ei, was ein Glas frisches Wasser, was ein Apfel bedeuten können, wenn man diese Gottesgaben verantwortungsbewußt auftischt.

Auf die Frage nach der Dauer seines Aufenthaltes gab Herr Kortüm keine Antwort – das hinge vom Gang seiner Forschungen ab. Nun wurde der Hausknecht befohlen. Herr Kortüm bedrohte ihn und wies auf die schwarze Kiste: sie müsse sanft angefaßt, nicht geschüttelt und um Gottes Willen nicht gekantet werden. Ängstlich sah der Knecht die gefährliche Kiste an: »Un wo soll sie'n hin?«

120 »In die Gruft von Sankt Marien.«

Der Knecht prallte zurück. Dorthin hatte er noch kein Gepäck befördert.

Herr Kortüm begab sich mit Monich zunächst in die Pfarre, um dem Pastor seinen Besuch zu machen. Arcularius war neugierig auf den die Grüfte durchforschenden Fremden – der Brief vom Schottenhaus war etwas verworren gewesen. Aber die Herren hatten ihre Freude aneinander. Arcularius war selten so ausgesucht kirchenfürstlich genommen worden, und dennoch füllte Herr Kortüm das Studierzimmer sozusagen mit sich aus. Arcularius hatte – von Monich zu schweigen – eigentlich gar keinen Platz mehr in seinem Hause. Jedoch – Herr Kortüm war einer von den großen Herren, die in den Hinausgemaßregelten die Empfindung zu erwecken verstehen, sie hätten sich bloß nach oben ausgedehnt wie Quecksilber. Vom Segen des Wappenstudiums unterhielten sie sich. Herr Kortüm vernahm mit Hochachtung, daß Arcularius einen Baum im Wappen führte, und Arcularius erquickte sich an der Pracht der Kortüms. Daß der Küster Bauspack bereits angewiesen sei, alles Erforderliche zur Verfügung zu stellen, brauchte Arcularius den Besenröder Herren zum Schluß eigentlich gar nicht erst zu versichern.

Leider war sich Bauspack der Bedeutung des Besuches der beiden Forscher doch nicht voll bewußt. Zunächst mußte Herr Kortüm dreimal an der Tür des Küsters klingeln. Als endlich eine Frau erschien und die beiden gewichtigen Gestalten im Halbdunkel des Hausflurs erblickte, sagte sie »Herrjes« und klappte die Türe vorläufig wieder zu. Herr Kortüm überlegte eben, welche Kirchenbehörde er von diesem Vorkommnis zu benachrichtigen hätte, als die Tür wieder aufging und der Küster den beiden Herren gemütlich erklärte, sie wären ja nun da.

»Allerdings«, sprach Herr Kortüm.

»Nu, das is schön.« Bauspack hatte einen grünen Ölfarbpinsel in der Hand und hielt ihn Herrn Kortüm vor die Nase: »Sehn Se? Hähä. Ich bin nämlich grade beim Streichen. Ja, nehm' Se doch mal den Kirchenschlüssel aus meiner Rocktasche. Ich schmiere mir je alles voll.«

Monich wühlte in der Tasche.

»Haben Sie'n? Nu schön. Also nu passen Se auf: so rum müssen Sie aufschließen. Zweimal. Un dann machen Se die Kirchentüre wieder zu. Sie müssen aber schmeißen. Das Aas klemmt nämlich. Nu schließen Se von innen wieder zu, daß keiner nein kann. Dabei müssen Se unten mitm Bein vor de Türe treten. 's geht nämlich 'n bißchen schwer. 121 So, un wenn Se nu wieder schön zugeschlossen haben, ziehn Se 'n Schlüssel ab, daß ich nein kann, wenn ich 'nmal nein muß. Ich habe nämlich noch 'n Schlüssel, hähä.«

»Der Herr Pfarrer hat aber gesagt, daß uns der Küster führen würde. Sind Sie der Küster?«

»Natürlich. Wer sollte ich denn sonst sein? Ich bin's. Freilich. Un ich käm ja auch gerne mit. Aber sehn Se, ich klebe zu sehre von Ölfarbe. Ich streiche nämlich grade.«

»Wie soll ich denn die Gruft finden?«

»Ach du lieber Gott! De Gruft! De Gruft finden Se von ganz alleine. Ich hab sie Ihn'n schon aufgemacht. Se brauchen bloß neinzuspaziern. Hinten, rechts vom Altare. Aber haben Sie 'n Licht?«

»Ach so, Licht –«

»Licht is vorhanden«, unterbrach Monich und zog seine Taschenlampe hervor.

»Nu sehn Se. Da kann ich je weiterstreichen.«

Die Forscher begaben sich zur Kirche, schlossen auf, schlossen von innen wieder zu. Monich steckte den Schlüssel in seine Rocktasche. Mit hallenden Schritten gingen sie durch das Schiff zum Chor. Rechts vom Altar gähnte ein schwarzes Loch in der Wand, zu dem ein paar Stufen hinunterführten. Das mußte die Gruft sein. Die schweren eisernen Türen standen offen. Auf den Steinplatten sahen sie auch die Kiste mit dem wissenschaftlichen Hilfswerkzeug stehen.

Monich ging gebückt voran. Herr Kortüm folgte. Im Licht der Taschenlampe erblickten sie in der Mitte des sehr niedrigen Gruftraumes, der zudem kaum größer als eine mittlere Stube war, den Zinnsarkophag. Ringsum an den Wänden stand Sarg an Sarg und vorn neben der Türöffnung noch ein kleiner Kindersarg aus Zink, üppig mit buntbemaltem Zierat beschlagen: vorn eine Krone, hinten ein Totenkopf, auf dem Deckel aber eine Sonne mit Strahlen. Der Zinnsarkophag in der Mitte der Gruft funkelte und blitzte im grellen Lichtkegel der Lampe. Er war mit allerlei Rankenwerk, mit Figuren und Wappen reich modelliert. »Torstenson« lasen sie an der Fußwand, die nach dem Eingang zu stand.

»Aha«, sagte Herr Kortüm.

Zwischen den Wandsärgen und dem Sarkophag war nur ein ganz schmaler Gang frei. Herr Kortüm zwängte sich hinein, legte die Hand auf das Zinnschwert, welches den Deckel verzierte, und sprach bewegt: »Hier also ruhen wir.«

122 »Nu – wir«, knurrte Monich in der feuchten modrigen kalten Enge, »wir stehn vorderhand erst noch aufrecht. Na, aufrecht auch nich. Das is verdammt niedrig hier drinne.«

Aber Herr Kortüm hielt noch seine Hand an das nackte Schwert und sagte versonnen: »Weißt du, Monich, Blut –«

»Also, Kortüm« – die Ausdrucksweise seines Freundes machte ihm den Aufenthalt hier unten keineswegs behaglicher.

»Blut«, fuhr Herr Kortüm unbeirrt fort, »Blut vordem wesend, Blut aus diesem Vordem ins Nachdem rinnend und jenes unbekannte Vordem unwiederlöslich vermörtelnd mit dem noch dunkleren Nachdem. Ja! Und nun quillt aus dieser elenden Mörtelfuge Gegenwart – zwischen jenem Gewesenen und diesem noch nicht Vorhandenen – Monich, aus dieser Fuge quillt dein lächerliches hinfälliges Ich – ein Blutstropfen im Blutstrom eines Geschlechtes –«

»Nee, Kortüm, jetzt hörste auf. Du redest manichmal Sachen, die kein vernünftger Mensch versteht. Un ich will dir mal was sagen: das Bücken hier, das kann ich nich vertragen. Mir steigt's Blut in'n Kopp. Ich glaube, du läßt den Säbel da los und wir fangen recht schnell an, daß wir hier fert'g werden. Das is je fürchterlich!«

»Du hast recht, Monich. Fangen wir an. Holen wir zuerst die Kiste herein«, sagte Herr Kortüm, machte jedoch keine Anstalten, mit anzufassen, so daß Monich allein zupackte. Das schwarze Scheusal war schwer: schadt nischt, dachte Monich, bloß schnell, schnell, daß man erst wieder raus kann.

Herr Kortüm vertrug das gebückte Stehen auch nicht. Der enge Gang erlaubte nicht einmal eine Kniebeugehaltung. Er sah sich um. »Ah«, sagte Herr Kortüm und ließ sich erleichtert auf dem Kindersarg am Eingang nieder. Das war ein Fehler: mit hörbarem Krach drückte sich der gewölbte Zinkdeckel unter Herrn Kortüms Gewicht ein. Zugleich fühlte Herr Kortüm einen stechenden Schmerz in seinem Hinterteil. Blitzschnell fuhr er hoch, stieß nun mit dem Kopf heftig gegen das tropfnasse Gewölbe, und gleichzeitig knallte der eingebeulte Zinkdeckel mit lautem Schwapp in seine alte Form zurück.

»Was machst du denn da drinne?« rief Monich, der sich auf den Gruftstufen mit der Kiste plagte.

»Verdammt«, sagte Herr Kortüm.

»Is was vorgefalln?«

»Es sticht so, Monich. Leuchte!«

Herr Kortüm bückte sich, schlug die Schwänze seines schwarzen 123 Rockes auseinander, und Monich ließ den Lichtkegel der Lampe auf Herrn Kortüms Hosenboden fallen.

»Ei verflucht«, sprach Monich. »Warum ziehste heute auch die schwarzen Hosen an, auf denen man alles sieht? Je, hier drinne is eben alles naß. Du hast dich auf die Sonne gesetzt, die auf dem Deckel da is. Un die hat nu abgefärbt. Man sieht se ganz deutlich. Kortüm, du hast nu 'ne Sonne hinten drauf.«

Herr Kortüm fing an zu reiben.

»Nee! Reib nich. Das muß erst trocken werden. Sonst wird das alles eine Schmiere. In der Mitte haste's Blattgold, un die Strahlen sin weiß. Aber nee, wie deutlich! Un die Sonne hat auch gerade die richt'ge Größe gehabt.«

»Aber es sticht so, Monich.«

Der Feuerhauptmann beleuchtete nun die entfärbte Zinksonne auf dem Sargdeckel. »Nu gucke mal her! Gucke, siehst' es? Der eine Sonnenstrahl hier is aufgebogen gewesen, un in den haste dich neingesetzt.«

»Verdammt«, sagte Herr Kortüm wieder. Er mußte gebückt stehenbleiben, bis die Sonne auf seinem Hintern getrocknet war. Niemand kann sagen, wie lange so etwas dauert, denn auf diesem Gebiete wurden bisher noch keine Erfahrungen gesammelt. Und nun stand Herr Kortüm tief gebückt um seines alten Blutes willen und kasteite sich.

Die beiden waren eben Neulinge auf dem unbeleuchteten Felde der Gruftforschung. Sie sammelten die ersten Erfahrungen. Allmählich aber kam die Arbeit doch in Fluß. Abwechselnd lasen und schrieben sie. Das Spruchband war schon entziffert. Jetzt begann die Hauptarbeit: die Enträtselung der Wappen. Drei Bilder boten nichts Besonderes, aber beim vierten schrie Herr Kortüm: »Ha! Monich, ich habe es! Danken wir Gott, mein Freund. Hier ist das Wappen der Heydelofs. Nun will ich gerne meine schwarze Hose geopfert haben. Sieh her –«

Plötzlich war es Nacht. Sie saßen im Dunkeln und wie zwei Müllersäcke zwischen den Särgen eingeklemmt. Die Lampe war ausgegangen. Taschenlampen versagen immer, wenn man sie unbedingt braucht.

»Ich hole eine neue.« Monich hatte die Gruftarbeit längst satt und sehnte sich nach Luft.

»Nur noch einen Blick auf das Heydelofwappen! Seine Auffindung ist ja Sinn und Zweck der ganzen Arbeit. Hast du die gekreuzten Balken gesehen unter dem Helm?«

»Nee.«

»Einen Augenblick!« Herr Kortüm knüllte ein paar Zeitungsbogen 124 zusammen und brannte sie mit einem Streichholz an: »Paß scharf auf, Monich.«

Monich sah genau hin, aber aufgepaßt hat in jenen unseligen Minuten dieser Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr zu Besenroda eben nicht! Ein Hauptmann hat zu wissen, welche Stichflammenhitze ein plötzlich aufflammendes Papierknäuel entwickeln kann – nur für kurze Zeit, gewiß. Aber ein Hauptmann hätte ferner wissen müssen, daß reines Zinn sehr schnell wegschmilzt: es läuft einem fort, sagen die Handwerker.

Die Flamme schoß hoch. Scharf sahen die Forscher hin. Herr Kortüm hielt die Flamme recht nahe an das Wappen: »Da! Siehst du's? Brenn das andere Knäuel auch noch an – Gott, Monich, bin ich glücklich . . .«

Sie starrten und trauten ihren Augen nicht: das zinnerne Wappen bewegte sich, es wallte sozusagen, blähte auf, und ehe sie einen Gedanken fassen konnten, fiel ein kopfgroßes Stück der leider allzudünnen Zinnwand ein wie Silberpapier.

»Monich!« schrie Herr Kortüm.

»Kortüm!« schrie Monich. Sie stießen sich furchtbar an die Köpfe beim Hochspringen – und doch begann erst, was das Schicksal den Forschern zugedacht hatte: das schmelzende Zinn fiel nach innen, und innen stand der hölzerne Sarg des Marschalls, und dieser Sarg war benagelt mit kostbarem Brokat. Ob das schmelzende Zinn, ob brennende Papierfetzen diesen alten zunderigen Brokat entflammt hatten – er brannte, oder er schwelte jedenfalls. Monich, ein Fachmann auf diesem Gebiet, begriff sofort, daß dieses innere Feuer infolge des Loches in der Zinnwand einen entsetzlich fröhlichen Zug haben müsse: wie aus dem Rohr eines Kanonenofens quoll der Rauch.

»Der Sarkophag brennt!« schrie Monich. Er riß seine Jacke herunter und stopfte sie in das Zugloch. Die Gruft war voll Qualm. Die Jacke glimmte.

»Feuer! Rufe Feuer, Kortüm!«

»Feuer!« schrie Herr Kortüm.

»Nee doch – zur Türe naus schrein, verdammig!«

Herr Kortüm konnte nicht schnell laufen. Monich preschte wie ein Federball durch die Kirche. Am Portal brach der feuergewohnte Hauptmann fast zusammen: »O Gott! Der Schlüssel!« Monichs Stimme überschlug sich. Der Schlüssel stak in der Jacke. Die Jacke stak im Sarkophag. Die Forscher waren eingeschlossen. Die Kirche roch schon nach Rauch.

125 »Schreie Feuer, was de kannst! Ich hol ihn!«

Monich stürzte den langen Weg zum Chor zurück. Herr Kortüm aber donnerte mit Fäusten und Füßen vor die Kirchentür und schrie aus Leibeskräften: »Feuer!«

Draußen blieben die Leute stehen und horchten. »Feuer«, hatte einer verstanden. »Feuer?« rief der erschrockene Mann. »Feuer!« schrie sein Nachbar – und nun wach auf, Kranichstedt! »Feuer«, hallte es über den Burgring. »Feuer«, brüllte jemand in Arcularius' Studierzimmer. Bauspack schloß vor Entsetzen nicht die Kirchtür, sondern die Turmtüre auf, packte das erste beste Seil, erwischte den Strang der großen Glocke, die sie in Kranichstedt die »dicke Susanne« nennen, und fing an zu läuten. Er läutete grausig schlecht. Das stolze fis hallte zuckend und abgehackt, gehetzt und heulend über den Dächern.

Jetzt hatte Monich den Schlüssel: »Ich glaube, 's is aus. Mein Rock hat's verstoppt. Aber besser is besser« – die Tür flog unter dem Druck von draußen auf. Herr Kortüm taumelte beiseite. Die ersten Feuerwehrleute drangen herein. Der Burgring füllte sich mit schreienden Menschen. Eine Schlauchleitung rollte wie eine Schlange über den Boden. Die Schlange wurde prall, Herr Kortüm sah sie stumpfsinnig an: »Wasser«, ächzte er. »Wasser? Wasser!« schrie Herr Kortüm, »die Chronik der Kortüms!« So schnell ihn seine Beine trugen, lief er nach der Gruft. Dort sah es böse aus. Dicht an seinem Kopf flog ein nasser Jackenfetzen vorbei. Jetzt kam das Wappenlexikon. Herr Kortüm drängte sich in den Eingang. Der Fußboden schwamm, und auf den Wellen schaukelte der dritte Band der Chronik. Ohne zu zaudern, stürzte sich Herr Kortüm in die Flut, fischte den Pergamentband – »Gott sei Dank!« murmelte er – und wollte hinaus ins Licht: aber er ging fehl. Oben stand Arcularius, flatternd vor Erregung, bleich: »Herr!! Was haben Sie getan?«

»Der war's« – die Menschen in der Kirche zeigten auf ihn. Wohl war die Kirche abgesperrt, aber von Amts wegen stand genug Menschheit im Chor und im Schiff.

»Es hat gebrannt«, murmelte Herr Kortüm.

»Es hat gebrannt?« rief Arcularius, und seine Stimme rollte mächtig durch das Gewölbe von Joch zu Joch. »Es? Sie haben sengend und brennend in diesem Gotteshaus gewütet! Sie werden vor Ihrem Richter stehn.«

Herr Kortüm stand schon vor seinem Richter. Oben im Turm verhallte eben der letzte Glockenschlag. Vor der Kirche summte es von 126 tausend Stimmen. Aber im Innern der Kirche waren nur noch die sachlichen Geräusche der Arbeit zu hören. Das Wasser platschte. Die Gruft wurde ausgeschöpft. Am fleißigsten schöpfte Monich. Er kommandierte heute nicht. Er arbeitete. Er verschwand unauffällig in der Schar seiner Fachgenossen. Allein stand Herr Kortüm im Chor, hielt die tropfende Chronik der Kortüms im Arm und vernahm des Arcularius' Rede. Arcularius sprach gewaltig: Untat, Kirchenschändung, Flammenmeer – schreckliche Worte prasselten auf Herrn Kortüm nieder. Der stand mit knickerigen Beinen da und bot einen jämmerlichen Anblick. Was sollte er tun? Leise legte er seine Chronik, Band für Band, in die Kiste. Die Blechrolle packte er hinein. Sammelte auch sonst, was an Schriftwerk herumlag . . .

»Und Sie antworten mir nicht!?« schrie Arcularius. »Einfach nicht?« Der Pastor mißverstand dieses stille Zusammenräumen des alten Kortüm durchaus: der packt seinen Koffer, dachte Arcularius. Er wandte sich ab von dem Brandstifter: »Ein Protokoll, zu Bauspack, die Behörden . . .rasch!«

Jetzt trat Monich leise an seinen Freund heran: »Du, Kortüm, schnell, durch die Sakristei. Die is offen. Los.«

Herr Kortüm faßte den Handgriff seiner Kiste.

»Die bleibt stehn. Bei Lebensgefahr immer erst de Menschen. Schnell, Kortüm. Hinten rum naus.«

»Hinten rum« – dieses Wort rief Herrn Kortüm ins Leben zurück. Er richtete sich hoch auf: Hinten rum? Bin ich ein Verbrecher? Herr Kortüm blickte starr auf den feierlichen Orgelprospekt über dem Portal und ging erhobenen Hauptes durch das Schiff. Zögernd trabte Monich hinter ihm her. Die Haupttür stand offen. Der Kirchplatz war hell erleuchtet – ist es schon Abend geworden? dachte Herr Kortüm; dieser Nachmittag ist schnell vergangen – und er trat ins Freie, ins Licht der Bogenlampen.

»Da is er!« schrie das Volk auf dem Kirchplatz. Ein Zurück gab es nicht mehr. Die Gruft war ebenso voll Menschen. Herr Kortüm wollte auch nicht zurück – ein Herr, ging er gerade auf die Masse zu. Verblüfft teilte sich der Menschenklumpen, und mitten durch das Volk schritt Herr Kortüm, wie sein Gevatter Torstenson, der Marschall, einst geschritten war. Aber Herr Kortüm hatte keine klirrenden Sporen, und auch kein klapperndes blitzendes Säbelgehenk verschaffte ihm Abstand von den Leuten. Die Gasse im Volk war furchtbar eng. »Der Brandstifter!« riefen die Menschen, »der Grabräuber!« Und sie zeigten mit 127 ihren Fingern auf Herrn Kortüm. Er zuckte nicht. Aber er bot einen schreckhaften Anblick: ohne Hut, das Gesicht geschwärzt, die eine Hand blutig, ein Ärmel aufgerissen. Und Monich hinter ihm gar ohne Rock, hinkend und vor Nässe triefend. Ein Wunder war es nicht, daß die Menge zwei Gesellen, die so aussahen, für ein Lumpenpack hielten und nicht für einen Herrn Kortüm und einen Herrn Hauptmann.

Die Menschengasse war durchschritten, der Kreis erweiterte sich. Herr Kortüm betrat den Burgplatz. Er atmete auf – und doch war sein Schicksal mit ihm für heute noch nicht zu Ende. Als er auf den freien Raum herauskam, blies ihn der Winterwind an. Der Wind packte seine Rockschöße. Er riß sie wütend hin und her. Plötzlich rief jemand: »Da! Guckt 'nmal! Was hat denn der hinten drauf?«

»'n Bild!«

»Weiß Gott, der hat 'n Gemälde auf der Hose!«

»Jetzt seht ihr's wieder! Eine Sonne!«

»Hä! Der hat eine Sonne aufn Hintern gemalt!«

Dieser gänzlich unerwartete Anblick bei einem auf frischer Tat ertappten Brandstifter traf die heute doppelt erlebensfrohen Kranichstedter an der glücklichen Stelle. Die Sonne am falschen Ort wendete in einem Nu die beweglichen Thüringer Herzen: erst lachten wenige, dann mehrere, zuletzt erfüllte den Burgplatz ein Gelächter, daß der tote Torstenson davon hätte aufstehen müssen – aber der schämte sich wahrscheinlich und blieb, wo er war.

»Eine Sonne aufm Hosenboden!« Über Kranichstedt schien plötzlich eine leise Kirmesstimmung zu kommen. Das Volk witterte ein Fest. Die Menschen leckten die Lippen und schluckten im Vorgenuß. Daß es in ihrer Stadt gebrannt hatte – und zwar dort gebrannt, wo sonst in keiner Gemeinde mehr etwas brennbar ist, daß ein Sarkophag gebrannt hatte und daß dann auf der Hinterseite des Brandstifters die Sonne aufgegangen war – das mußte etwas bedeuten. Hier war etwas geschehen, hinter das man kommen mußte!

Auch Professor Lichtermark, der Gesanglehrer am Gymnasium und Freund des Hauptpastors, witterte in dieser Sache irgendwie etwas Menschenfreundliches und Beruhigendes: »Sage bloß, Leberecht«, sprach er zu dem vor Erregung immer noch zitternden Pastor, »wer ist denn dieser Mann?«

»Du siehst's ja: ein Hochstapler, ein Kirchenschänder!«

»Na, Leberecht, eigentlich sieht er nicht so aus. Ich könnte mir eher denken –«

128 »Was kannst du dir denken, Fritz?«

»Eigentlich sieht er doch wie ein ganz umgänglicher Mann aus. Im Augenblick etwas in Unordnung, ja – aber nun sieh dir auch mal den kleinen Abendschoppenonkel hinter ihm an –«

»Bemerkst du nicht das Verbrecherische in dem verzerrten geschwärzten Antlitz?«

»Nu, die Schwärze kommt vom Rauch, Leberecht. Der Rauch regt mich gar nicht so auf, aber erkläre mir: wie kommt die Sonne da auf seinen Hosenboden?«

»Ich werde sofort ein Protokoll aufnehmen.«

»Das tu mal, Leberecht. Das mit der Sonne müssen wir rauskriegen.«

»Ich dächte, Fritz, hier wäre Wichtigeres, Ernsteres zu klären!«

»Sag das nicht, Leberecht. Brennen kann's überall – aber die Sonne! Un grade dort, Leberecht! Sieh mal, das ist ja beinah wie mit Karl dem Fünften: vorne steckt der Deutschland in Brand, und hinten geht bei ihm Gottes Sonne ruhig weiter auf. Nee, in die Sache muß Licht. Wir sind also im ›Lamm‹. Komme gleich hin, wenn du fertig bist, hörst du?«

Arcularius hatte längst nicht mehr zugehört. Er faßte im Geiste schon die Kernsätze seines Protokolls ab. »Zu Bauspack!« murmelte er und eilte durch den Trubel, der augenscheinlich immer fröhlicher wurde. Neugierig sahen ihm die Leute ins Gesicht: »Vielleicht kommt noch was. Gucke mal, wie der rennt!«

»Na ja, da soll einer nich rennen, wenn sie ihm seine Kirche anstecken.«

Schreiben Sie: Am Tage des Unheils, den . . .«, und nun diktierte Arcularius. Der Küster schrieb, daß die Feder spritzte, und sein Kopf hing so tief wie möglich auf dem Aktenbogen.

»Jetzt fünftens: wie kommt der Kerl in die Gruft? Nun, wie fassen wir das scharf und klar?«

»Auf Veranlassung vom Herrn Hauptpastor Arcularius, würde ich sagen.«

Arcularius fuhr hoch: »Hier ist keine Veranlassung festzustellen, sondern der genaue Weg des Brandstifters. Schreiben Sie: Nachdem er die Kirchentür aufgeschlossen hatte – halt, genauer, Bauspack: Sie schlossen auf!«

»Nee, er.«

»Sie!«

»Aber Herr Pastor, ich habe doch gestrichen.«

129 »Ich rede vom Schließen.«

»Un iche habe je bloß 's Streichen gemeint.«

»Mein Gott, was denn nur für ein Streichen!«

»Mit Ölfarbe, mein ich.«

»Mit –? Sie haben in der Kirche gestrichen?«

»Nee, zu Hause.«

Arcularius machte ein paarmal die Augen auf und zu, sah zur Decke, zwinkerte, fing an zu verstehen und schrie: »Bauspack! Wer – ich frage: wer hat diesen Menschen beaufsichtigt?«

»Nu aber, Herr Pastor, wer . . . er war doch nich alleine – nee«, fügte Bauspack gedehnt und beruhigend hinzu.

»Wer war bei ihm?«

»Je, wer, Herr Pastor. Nu, der andere, der Kleine, wissen Se? Der Dicke, verstehn Se –«

Jetzt legte sich Arcularius weit über den Tisch und stammelte: »Bauspack« – Arcularius flüsterte nur noch – »Unseliger, sollten Sie diese beiden Menschen etwa – allein – im Gotteshaus gelassen haben?«

Bauspack wischte die Nase, schnüffelte und sprach dann: »Iche . . . ach Sie mein'n, ob iche – nee, ich war nich dabei.«

»Elender«, sagte Arcularius dumpf und setzte sich: »Da steht dieser Mensch vor mir, ein christlicher Küster, und hat Weib und Kind und verwahrlost seinen Dienst – mit Ölfarbe streicht dieser Mensch –«

»Aber ich klebte doch so, Herr Pastor –«

»Sehen und begreifen Sie denn Ihre wüste Pflichtverletzung nicht? Fortgejagt werden Sie, gerichtet vor Gott und den Menschen –«

Von draußen klang Musik herein, Lachen, Singen und das tiefe Meeresmurmeln eines großen Volksauflaufs.

Bauspack fühlte die Schicksalsfaust an seiner Gurgel: »Iche? Sie haben aber doch ausdrücklich gesagt, der Herr Kortüm hätte alle Freiheit zum Arbeiten, er wäre so 'n Forscher, so 'n Wappenleser, ham Sie gesagt. Un er soll nur machen, was er denkt.«

Bauspack hätte sich nicht so aufzuregen brauchen, wenn er weniger auf sich als auf seinen Richter geachtet hätte: jetzt fühlte nämlich Leberecht Arcularius plötzlich jene kalte Faust in seiner Halsgegend. Wie kann man das in amtlich einwandfreie Worte fassen? fragte er sich. »Das ist überhaupt nicht zu fassen!« schrie er.

»Nee«, stöhnte der Küster.

Der Hauptpastor ging auf und ab: Ruhe, Leberecht. Nur Ruhe. 130 Ordnen wir erst einmal die Gesamtlage. Hm. Für diese Angelegenheit findet das gewiegteste Beamtendeutsch keine Worte mehr, die harmlos klingen – Arcularius überlas das Protokoll: »Nein!« Und er nahm es und zerriß es. Hier war amtlich nicht weiterzukommen, ohne in unmittelbare Gefahr zu geraten, daß unversehens das Amt sich umwandte und seinen eigenen Diener in Stücke riß, als ob er ein ungeeignetes Protokoll wäre. Arcularius dachte angestrengt nach: verhandle, Leberecht, sagte er sich, sprich mit dem Ungeheuer Kortüm von Mensch zu Mensch. Dreh die Sache und wende sie, Leberecht, bis sie ruhig liegt. Und dann wirf schnell den Mantel der Liebe darüber.

Der Pastor beschloß, ins »Lamm« zu eilen, aber nicht in die gemütliche verschmökte Gaststube im Erdgeschoß, wo der Stammtisch stand, an dem Lichtermark, Andreas Koch, der Lammwirt und alle die anderen seiner warteten – nein, Arcularius würde ins erste Stockwerk eilen, hinein in die Höhle jenes Menschenverächters, Kirchenschänders.

»Bauspack«, sprach Arcularius ernst, »ich will versuchen, Sie zu retten. Aber das Beste dazu müssen Sie selber tun –«

»Ach, Herr Pastor, wenn mich doch meine Frau nich so gedrängelt hätte mit dem verdammigten Streichen.«

»Fluchen Sie nicht, Bauspack« – Arcularius seufzte tief – »ja, die Frauen . . . ach, dieses Drängeln . . . o Bauspack« – Arcularius nickte gedankenvoll. Dann fragte er: »Haben Sie übrigens meine Frau schon gesehen nach dem Unglück? Nein? Nun. Gott wird uns vielleicht doch beistehen. Aber Sie, Bauspack, haben das Wichtigste in dieser leidigen Sache zu tun: Sie müssen schweigen wie ein Grab.«

»Wie ein Grab«, antwortete Bauspack entschlossen. »Grab« sprach der Pastor, »Grab« sprach der Küster: sie hatten beide nichts gelernt aus der Revolte der Särge – vom brennenden Sarkophag bis zum abfärbenden Kindersärglein – und die Redseligkeit der Grüfte war ihnen immer noch nicht klar geworden.

 


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