Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Gast

Herr Kortüm verließ auf dem Bahnhof Besenroda sein Abteil und gab den Handkoffer einem Gepäckträger. »Guten Abend auch, Herr Kortüm«, sagte der Mann und wollte den Koffer auf seine Schubkarre legen.

Aber der Echowirt befahl: »Zum Auto.«

»Nanu?«

Gelassen stieg Kortüm in eines der Mietautos, die vor dem Bahnhof hielten. Der Fahrer hatte ruhig die Zeitung weitergelesen, bis Kortüm den Griff der Wagentüre niederdrückte. Jeder Bewohner des Schottengeländes wußte, daß Kortüms Gepäck auf einer Schubkarre die Betonstraße hinaufgefahren wurde und er selbst seinen Goetheweg ging, wenn er von einer Reise zurückkehrte. Überrascht nahm der Fahrer die Pfeife aus dem Munde und hätte beinahe gefragt: »Fehlt Ihnen was, daß Sie heute fahren?« Aber schon sprach Kortüm: »Flügelhaus.«

Der Fahrer nickte, stellte den Koffer neben sich: »Echostube.«

»Sanatorium«, berichtigte der Reisende.

»Echo –«

»Haupteingang Sanatorium«, schloß der Echowirt das Gespräch und lehnte sich zurück. Der Fahrer blickte den Träger an, der Träger den Fahrer – dann glitt das Auto befehlsgemäß die Betonstraße entlang und hielt vor dem Portal des Flügelhauses.

Kortüms denkwürdige Ankunft vor Langloffs Sanatorium vollzog sich unter Einhaltung aller Formalitäten, die eine wohlberufene Gaststätte beim Eintreffen der Fremden von Rang und Namen zu beachten pflegt. Der Portier riß die Wagentür auf, der Hausknecht ergriff den Koffer, der diensthabende Oberkellner Klemm geleitete Herrn Kortüm über die Schwelle des Hauses, und in der Diele stand Mimi: »Gott, Herr Kortüm . . .«

610 »Guten Abend.«

»Ich habe die Depesche hin und her gelesen und dachte, 's wäre doch vielleicht ein anderer . . .«

»Es gibt nur mich unter dem Namen Friedrich Joachim Kortüm. Hat man mir ein Südzimmer reservieren können?«

»Aber natürlich. 's Mittelzimmer ist grade frei geworden.«

Herr Kortüm schritt zur Treppe. »Hm, gelb – mein blauer Velourläufer hat besser zu dem braunen Holz gepaßt«, dachte der Gast.

Mimi kam langsam zu sich: »Was das aber meinem Mann leid tun wird. Er ist nämlich immer noch in Weimar.«

»Wie geht es seinem Herrn Vater, dem Kapitän?«

»Ach, noch gar nicht gut – aber, was ich fragen wollte: Sie essen ja wohl drüben zu Abend?« Mimi wies dabei in Richtung Echostube.

»Bitte legen Sie für mich im Speisezimmer ein Gedeck auf – wenn möglich an dem Tisch, hm . . . ich war . . . Ja, ich bin längere Zeit nicht in diesem Saal gewesen. Gibt es den Tisch noch, an dem ich seinerzeit mit Frau Schröter zu speisen pflegte?«

»Freilich, Herr Kortüm. Da sitzt jetzt ein Herr Hudson.«

»Mister Hudson setzen wir um, nicht wahr? Ausgezeichnet, ahh«, er atmete die Flügelhausluft ein wie ein Pferd, das seinen Stall wittert. »Haha«, sagte er unvermittelt zu dem Hausdiener, der ihm den Koffer nachtrug.

»Hähä«, antwortete der Knecht: da ging er also wieder hinter seinem richtigen Herrn her.

Während sich der neu eingetroffene Fremde zur Tafel umkleidete, brach in der Küche eine Aufregung aus, die an den Umsturz bei Einweihung der Straße erinnerte.

»'s kann nicht sein, Frau Doktor!« rief Elvira.

»Lieber Gott, wenn ich's doch sage! Er nimmt sogar das Diner bei uns!«

»Zum Spionieren ist er gekommen«, ächzte Elvira. »Und wer weiß, wozu sonst noch!« Elvira, altes Mädchen, hatte der Kapitän am Hochzeitstage seines Sohnes gemahnt, wenn du ihn siehst – hart Backbord steuern! Und gib Achtung, Elvira, hörst du? Wenn mal was ist – es wird sicher was sein – wende dich an mich.

Und nun lag der Kapitän krank! Und der junge Herr war nicht zu Hause! Ob man depeschiert? Etwa: Kortüm ist da, kommt sofort. Dann regt sich der Kapitän auf, und der Doktor kann erst recht nicht vom Krankenlager seines Vaters fort. Elvira hatte unbewußt 611 einen der vielen Porzellankästen aufgezogen und blickte angestrengt hinein. An den Zimmetstengeln war nichts Neues zu sehen. Aber der würzige Duft brachte sie auf den Gedanken, der für eine Wirtschafterin unter allen Umständen der erste zu sein hat: Kochen. Gut kochen! Sehr gut kochen! Ihre nordische Kaltblütigkeit kehrte nach Überwindung des ersten Schreckens zurück. Umsichtig traf sie ihre Anordnungen. Die Menükarten wurden umgeschrieben. Elvira legte einen Gang ein, an dem sich dieser spionierende Echowirt die Neidzähne ausbeißen sollte. Die Frau Langloff konnte heute mit ihrer Diätkost nichts ausrichten. Mit einer Aalpastete wollte Elvira diesem Kortüm vor Augen führen, was ein Unternehmen wie das Doktor Langloffsche Sanatorium zu bedeuten hat. Aalpastete konnte nur Elvira bereiten! Das Rezept stammte von ihrer Großmutter und stand in einem Büchlein, das in roten Sammet gebunden war und das sie zusammen mit dem Sparkassenbuch im innersten Besitzkern verbarg.

Unterweilen hatte sich Herr Kortüm sorgfältig angezogen, stand am offenen Fenster und rauchte eine Zigarette. Ein wunderlicher Anblick, dieser Kortüm mit solch einem weißen Papierwickel im Munde; aber auf seinen früheren Reisen im Orient hatte er nie etwas anderes geraucht. »Isch Bankassi Istanbul«, murmelte er, sah endlich wieder seinen geliebten Kolmberg vom richtigen Blickpunkt aus vor sich, blies in ottomanischem Wohlgefühl den parfümierten Rauch von sich und bemerkte nicht, daß unten ein Mann stehen blieb und erschrocken hinaufstarrte zu ihm: Monich war auf dem Wege zur Echostube; es war schon dämmerig, und Monich hatte – er hatte zum ersten Male in seinem Leinwandhändlerdasein eine Vision: da oben stand –

»Nee«, knurrte Monich; der Herr am Fenster war ins Innere des dunklen Zimmers zurückgetreten. Aber Monich trank vier Schoppen mehr an diesem Abend. Drei trank er aus Sorge um sein geistiges Befinden. Spukerscheinungen sind immer ein bedenkliches Zeichen. Das vierte Glas gab er aus Langeweile zu. Die Echostube blieb heute merkwürdig leer. Windhebel war von seinem Ausflug noch nicht zurück. Schwartenmacher numerierte auf dem Lohberg Urnen – aber wo blieben Arcularius, Lichtermark? Wo alle die Flügelhausgäste, die sonst immer gegen neun Uhr hier erschienen? Wo blieben ferner Kuffert? Mickewitz? Monich verschöppelte einsam seine Gedanken, seinen Abend – und die Gelegenheit, seinen Freund Kortüm den Speisesaal des Sanatoriums betreten zu sehen! Die Wirkung des Kortümschen Eintritts in den Saal war gewaltig. Wenn ein einzelner eine 612 Erscheinung hat, kann er hoffen, ihr mit Hilfe einiger Schoppen beizukommen. Wenn aber einem ganzen Saal voll Gästen der Geist erscheint, muß das Menü sehr gut sein, wenn es noch schmecken soll.

In diesem Speiseraum schmeckte das Essen heute nur einem einzigen Gast. Kortüm war geruhsam zu seinem Tisch geschritten, hatte Platz genommen, mit sehr hochgezogenen Augenbrauen die Menükarte gelesen, sich dann umgesehen und, nach allen Seiten grüßend, ein wenig den Kopf geneigt. Dann begann er behaglich zu löffeln, zu gabeln, zu kosten und genüßlich zu schlucken: Elviras Aalpastete hatte einen fast befremdend eigenen Wohlgeschmack. Bissen für Bissen nahm Herr Kortüm mit Bewußtsein zu sich. Er speiste als Fachmann – erratend, nachschaffend. Kortüm hatte jetzt keine Zeit, seine Mitgäste zu mustern.

An den übrigen Teilnehmern des Abendessens gingen die Gerichte ungewürdigt vorüber. Sie sahen die Spargelköpfe in den Suppentassen nicht. Sie ahnten nicht, daß vor ihnen eine Aalpastete stand, deren Bereitung Geheimnis war. Sie fühlten beim Anschneiden der Steaks nichts von den Seelenkämpfen Elviras; vielleicht doch lieber noch eine halbe Minute auf dem Feuer? Nichts sahen die Gäste als ihren neuen Mitgast, wie er an der Perle im Halstuch rückte, wie er den Kopf kostend ein wenig zurücklegte, wie er jetzt einen Tropfen Wein über die Lippen gleiten ließ. Wodtke hatte vor Erstaunen den Mund aufstehen. Irgendwo fiel eine Gabel herunter.

»Der Herr dort ist nämlich der eigentliche Besitzer«, erklärte Frau Tips einer fremden Dame die Erscheinung am Mitteltisch unter dem Kronleuchter.

»Ob was passiert ist?« flüsterte Sidonie ihrem Mann ins Ohr.

»Wer weiß«, antwortete Ulrich.

»Du weißt nie etwas!« Sidonie war stets auf sich angewiesen im Leben.

Sogar Mister Hudson gönnte Herrn Kortüm einen Blick: dieser Steakesser könnte fast ein Engländer sein.

Wodtke reichte Sidonie die Salatschale: »Da gehen hinter den Kulissen große Dinge vor.«

Ja, es mußte etwas geschehen. »Ulrich«, sagte Sidonie, »wenn wir aufstehn, gehst du gleich hinter Herrn Kortüm her und sagst etwas zu ihm.« Ulrichs hilfloser Blick ärgerte Sidonie. »Liebe Zeit – bloß damit er stehn bleibt, sollst du mit ihm reden. Verstehst du? Dann«, wandte sie sich an Wodtke, »kommen wir und fangen ein richtiges Gespräch an.«

613 Wodtke nickte: »Und klopfen mal 'n bißchen an: woher, wohin, haha.«

»Nicht so laut.«

Aber diesem Kortüm war schwer beizukommen. Der Portier erschien in der Tür, winkte dem Kellner. Sie flüsterten. Der Kellner trat an Kortüms Tisch, flüsterte. Kortüm aß noch seinen Pfirsich zu Ende, erhob sich, neigte leicht den Kopf gegen seine Mitgäste, schritt zu der sich weit vor ihm öffnenden Tür und verschwand. Die Tür schloß sich – eine vornehme Tür: mattweiß gestrichen, ihre Felder durch schmale Goldleisten abgesetzt vom Elfenbeinton der Fläche. Die Gäste blickten die weiße Tür an . . . die Goldleisten . . . sie blickten sich an . . .

Ah!« sagte Herr Kortüm zu Monich. »Haha!«

»Du bist's also wirklich!«

»Wirklich!«

»Aber was machst du denn bloß hier drinne mittenmang deiner Feindschaft, Kortüm?!«

»Ich habe soeben vorzüglich zu Abend gegessen – nein nein, es war gut. Der Wahrheit die Ehre, Monich. Eine Aalpastete, sage ich dir – hast du je Aalpastete gegessen? Nein? Teufel, Monich, sie war so würzig, so – ich möchte sagen, so knisternd leicht, dabei gehaltvoll, sie hatte bei aller Sanftheit eine Völle, eine Tiefe –«

»Nu lasse mal die Pastete, verdammig; Kortüm, sage bloß –«

»Gern, Monich. Was willst du hören?«

»Was das heißen soll, Kortüm!« flüsterte Monich. »Als es Lotte hörte, is sie beinah umgefallen.«

»Ah, richtig. Frau Wingen. Fast hätte ich es vergessen. Bitte, sage ihr doch, wenn du sie morgen siehst – ich gedenke nämlich noch einige Tage in diesem Haus meiner Gesundheit zu dienen – ja, also wenn du Lotte siehst, bestelle ihr meinen Gruß. Ich hätte mir erlaubt, ihr den Hauptschen Nachlaß an Mobilien – Geräte, Kleider, Betten und was sich derart in der Hinterlassenschaft findet – zum Geschenk zu machen.«

»Hm. Nu . . . Aber sage doch bloß, was du hier machst?«

»Hörtest du es nicht? Ich erhole mich. Warum soll sich ein Wirt nicht auch einmal bewirten lassen? Ist das nicht ein allgemeines Menschenrecht, Monich?«

»Die Pension hier is nich billig.«

»Aber man wird auch nicht überteuert. Die Aalpastete –«

614 »Also hat's doch seine Richtigkeit.«

»Was ist richtig, Monich?«

»Daß du geerbt hast.«

»Das habe ich dir ja schon vor meiner Abreise nach Memleben gesagt.«

»Erben un erben is zweierlei. Aber daß du in der Türkei eine Million geerbt hast –«

»Bitte, wie?«

Monich eröffnete nun Herrn Kortüm die soeben eingetroffenen neusten Nachrichten über Kortüm.

»Ich habe dir schon oft gesagt und wiederhole es, Monich: es ist stets alles gelogen.«

»Nu, immer alles nich, Kortüm.«

»Wenn eine Neuigkeit ausnahmsweise wahr sein sollte, so nur deshalb, weil jemand diese Wahrheit zum Lügen braucht. Es ist so: mit dem Erbe des verstorbenen Fräulein Haupt ist auch das Guthaben ihres Bruders Ernst an mich gefallen.«

»Siehste!«

»Nein, nicht ›siehst du‹. Es handelt sich lediglich um seine Rücklagen. Er hat noch nach Indien gewollt. In unserem Geld so an siebentausend Mark. Oder acht. Oder neun. Es steht noch nicht fest – im übrigen habe ich es satt und werde ein Exempel statuieren: wer hat diese Lügen über mich ausgestreut, Monich?«

»Je, Kortüm – der Autobusfahrer hat's auf der Endstation seiner Frau erzählt, un die is die Schwägerin von Wollfaßn, vom Lokomotivführer auf der Kleinbahn, weißt du? Un weil dem seine Frau in den Wochen is, hat nu die Schwägerin dem Wollfaßn 'n Proviant gebracht. 's war je ein Weg, un sie hat nu auch gleich erzählt, was der Autobusonkel gesagt hat. Un Wollfaß hat's bei der Ankunft in Besenroda dem Gepäckträger Krull gesagt, un von Krulln hat der Eismann den Schubkarrn geborgt, weil Elvira heute plötzlich ein Festessen gegeben hat. Un weil da der Eismann heute abend hier noch einmal rauf gemußt hat, hat er's Elvira'n gesagt, un weil er noch 'n bißchen Eis übrig hatte un Elvira 's nich haben wollte, hat er Lotten gefragt, ob die das Eis brauchen könnte, un dabei hat er's Lotten gesagt – je, un die hat gemeint, die Leute im Schottengelände werden jeden Tag dümmer.«

Mit finster zusammengezogenen Augenbrauen hatte Kortüm den Anfang dieses Kreislaufes vernommen, die Mitte veranlaßte ihn zu einem langsamen Kinnreiben, das Ende aber schien er zu genießen wie Elviras Aalpastete: »Jaja, Monich – Frau Wingen. Diese Frau 615 Wingen. Sie bekommt in meinen Betrieben einen immer helleren Weitblick.«

Während dieser Zwiesprache öffnete sich abermals die Tür mit den Goldleisten. Die Gäste betraten die Diele. Eigentlich waren sie auf dem Weg zum Konversationsraum, aber beim Anblick Kortüms zögerten sie, blieben in Gruppen auf der Diele stehen, und ihre Seitenblicke auf Kortüm sagten deutlich, was sie dachten: sie wußten alles. Die neusten Nachrichten über Kortüm hatten ungefähr gleichzeitig mit dem Auftischen des Zitroneneises auch sie erreicht, leider war ihnen aber nicht zugleich auch Lottes Ansicht von der Sache übermittelt worden; sie wußten also vorläufig alles.

Mimi Langloff kam aus ihrem Zimmer und mischte sich unter die Gäste. Sogar Elvira hatte rasch das Schwarzseidne angezogen und erschien angesichts der ungeheuren Nachrichten im Hintergrund: vielleicht wurde man sich gemeinschaftlich klar, ob etwas Furchtbares geschehen und eine Depesche an den Kapitän doch nicht zu umgehen sei.

»Monich«, sagte Kortüm, »tritt ein«; er öffnete die Türe des Konversationsraumes.

»In dem Anzug? Nee.«

»Haha, tritt ein, sage ich.« Kortüm war offenbar in glänzender Stimmung: »Du bist in Unterhosen ansehnlicher als jener Herr dort im Smoking – nein, der da, der an der Stukkolustrosäule lehnt. Anzug! Es gibt Gäste, die doppelsohlige Wanderstiefel für etwas Vornehmeres halten als einen Achtzylinder-Motor. Hinein, Monich!«

Herr Kortüm setzte sich in die Mitte des Sofas unter die Palme. Früher, als Wirt, hatte er sich das nie erlaubt. Aber heute war er ja Gast. Gerade über seinem Kopf wölbte sich gespreizt ein mächtiger Palmenwedel. Und Kortüm sagte leise zum Kellner: »Der Bordeaux, Klemm – der zweiundzwanziger, aus meiner Zeit – wissen Sie? Habt ihr noch etwas davon?«

Klemm strahlte und sagte nahe an seines ehemaligen Herren Ohr: »Siebzehn Flaschen.«

»Sind reserviert. Jetzt zunächst eine – aber: Klemm!« Kortüm hob die Hand und legte zart die Spitze des Mittelfingers an den gekrümmten Daumen.

»Temperatur, Herr Kortüm: Milch, frisch gemolken.«

Alle Herren bestellten heute abend Wein und nahmen an den Tischen Platz, als ob sie ein Gelage vorhätten. Als sogar Sidonie für Ulrich eine halbe Flasche leichten Rheinwein kommen ließ, wurde dem 616 Personal klar, daß hier nicht nur ein Stündchen vorm Zubettgehen geplaudert werden sollte. Das Haus richtete sich auf eine längere Unternehmung ein.

Nachdem Herr Kortüm den Bordeaux gekostet hatte, sah er Klemm an und schloß dabei das linke Auge halb. Klemm atmete auf. Der gastierende Gastwirt aber beugte sich zu Monich und sagte leise: »Gut, wie? Haha, sechzehn noch. Nach der letzten gehe ich wieder in die Echostube«, und laut fuhr er fort: »Ach ja, Monich, seit dem Zusammenbruch des Großsultanats und der Übernahme von Auslandskonten der liquidierten Kaiserlichen Ottomanbank durch die Isch Bankassi erfordern Transaktionen vorkrieglicher Kapitalien Umsicht.«

Herr Kortüm nahm einen zweiten Schluck.

»Der Herr Kortüm hat nämlich viel im Ausland geweilt«, sagte Sidonie zu dem fremden Engländer.

»Aoh«, antwortete Mr. Hudson, und Frau Tips glaubte dem hinzufügen zu sollen: »Der Herr Kortüm ist nämlich unser Verwandter.«

»Aoh«, wiederholte der Engländer.

»Man wird sich mit der Reichsbank in Verbindung setzen müssen«, fuhr Kortüm zu Monich gewandt fort. »Der Reichsbankpräsident soll die Bewegung der Auslandguthaben nicht ohne Interesse verfolgen. Ja, man wird sich persönlich nach Berlin begeben müssen. Was meinst du, Monich, kämst du mit?«

»Sie müssen nun ja wohl auch mal nach Konstantinopel reisen?« begann Wodtke zu forschen.

»Nun nun«, antwortete der Herr des Schottengeländes unverbindlich.

»Ach, wer so in der weiten Welt herumreisen und alles Schöne und Interessante besichtigen kann«, sagte Sidonie.

Bei diesen Worten trat Doktor Windhebel ein. Die Nachricht, Kortüm sei im Sanatorium Flügelhaus abgestiegen, hatte ihn vor fünf Minuten erreicht. Konversationsräume besuchte Windhebel sonst nicht, aber jetzt kam er, ohne sich die Zeit zum Rockwechseln zu nehmen. Auch Schwartenmacher schob das Kästchen mit den Klebeschildern von sich, ließ die Urnen Töpfe sein und machte sich auf zum Sanatorium. Repshagen war ebenfalls unterwegs, und Mickewitz hatte schon seine Filzschuhe an, als ihn Kuffert aus dem Abendfrieden aufscheuchte und zu einem Abendtrunk im Sanatorium veranlaßte. Die Kellner mußten noch Stühle und Tische in den Konversationsraum tragen. Mimi stellte das Radio ab. Heute ging es ohne Musik.

617 »Herr Kortüm ist nämlich in früheren Jahren einmal um die Welt gereist«, sagte Wodtke zu Windhebel.

»Rundum«, nickte der Gelehrte und vernahm mit Interesse die Ansicht der Frau Tips von der Sache: »Darum kennt er auch alle Merkwürdigkeiten.«

Sogar Ulrich öffnete seinen Mund: »Er war überall.«

»Nein. In Mecklenburg war er noch nicht.« Repshagen traf es.

»Vielleicht macht es sich gelegentlich meiner Berliner Reise«, Kortüm nickte dem Gutsbesitzer zu. »Es wird mir eine Freude sein. In der Tat: zwei Landschaften kenne ich noch nicht – Mecklenburg und das Pamirplateau.«

»Da würde ich doch aber erst in die interessante Pamirgegend fahren«, meinte Elvira. Sie war eine treue Wirtschafterin und hatte stets das Interesse der Familie Langloff im Auge.

»Sobald ich hier entbehrlich bin, Fräulein Elvira«, antwortete der weitgereiste Gast. »Allerorten erlebt der Mensch Merkwürdiges – Güstrow oder Gilghit, Südsee oder Ostsee –«

»Ostsee? Zum Baden ist sie gut, na ja. Sonst ist da nicht viel zu finden.« Schwartenmacher war nicht für Ostsee. »Überall sieht sie gleich aus.«

»Dann fehlt es Ihnen an der Gabe, Wunderbares zu erleben, Meister!« rief Kortüm. »Ich sage Ihnen, wenn die Geschichtenschreiber erzählen wollten, was wirklich vorgeht, läse freilich kein Mensch ihre Bücher, weil das Publikum wenig Lust hat, sich mit Unwahrscheinlichkeiten traktieren zu lassen. Es muß schwer sein, die Wirklichkeit auch nur einigermaßen glaubhaft zu machen, denn, meine Damen und Herren, es gibt ja nichts, was ohne Grund wirklich ist. Man glaubt nicht, wie geheimnisvoll das ist, was wirklich geschieht. Ich könnte Ihnen Begebenheiten erzählen – auch von der Ostsee, welche Sie soeben als eine Art Badestrand hinzustellen beliebten, Meister . . .«

»Erzählen Sie«, sagte Windhebel.

Dieses wohlberechnete Wort schlug ein. Die Stühle wurden näher gerückt, sogar die Tische. In großem Halbkreis belagerte die Gästeschaft des Schottengeländes diesen soeben erst zugereisten neuen Gast, der in ottomanischem Behagen unter dem Palmwedel saß, eine Weile stumm mit den Zähnen kaute und alsdann sagte: »Klemm!« Kortüm deutete auf die Bordeauxflasche. Auch die anderen Herrschaften versorgten sich mit Getränken. Dann wurde es still.

Herr Kortüm begann.

618 »Die Begebenheit spielt auf dem Meeresgrund. Unweit Riga, meine Herrschaften. Über Wasser alles durchaus normal. Wollen Sie sich bitte denken: Luft klar. See ruhig. Himmel weißblau. Barometer bei 775 fest. Wettervoraussage günstig. An Bord des Bergungsschiffes ›Jacob Witt‹. Regelmäßiger Tagesdienst. Der Taucher ist im Wasser. Rund fünfzehn Meter unter der Oberfläche – also ebenfalls ganz durchschnittliche Sache. Kein sehr beanspruchender Druck. Der Auftrag des Tauchers: nichts Ungewöhnliches – Zündung hat versagt, Kontrolle der Zündschnur. Die Uhr zeigt elf Uhr vormittags. Zur Sprengung des Wracks ausreichend Zeit. Keine Hast, keine besondere Nervenbeanspruchung. Die Wache lehnt über die Reling, guckt ins Wasser. Viel Quallen an der Stelle, weiße, blaue, rote. Schweben durcheinander. Sehr behaglich, die bunten Schirme so steigen, sinken, drehen und ihre Schleier sich schlängeln zu sehen. Heißer Tag. Alles sehr still. Ungeheure Ruhe in Nähe und Weite. Die See liegt wie ein Teich. Plötzlich ruckt die Taucherleine, zwei-, dreimal! Die Signallampe zeigt rot. Die Wache fährt auf. Dem Kerl fällt vor Schreck die Tabakspfeife ins Wasser. Er preßt das Ohr ans Sprachrohr. Der ruft von unten! Was ruft er? Der Taucher ruft laut, er schreit etwas, aber so durcheinander, daß nichts zu verstehn ist. Die Wache gibt den Alarmpfiff. Es poltert auf dem Deck. Die Leute kommen gerannt. Das zweite Boot wird ausgeschwenkt – Verzeihung, lieber Monich, rücke mir doch mal den Bordeaux eine Handbreit näher, so, danke.« Herr Kortüm trank, gebannt starrte ihn die Zuhörerschaft an, sah Kortüms Gurgel auf- und niedergehen; die Herren hoben auch ihre Gläser, aber sie tranken unbewußt, nur weil Herr Kortüm trank. Die Gurgeln der Gäste des Schottengeländes gingen langsam auf und nieder . . . mein Gott, was mag jetzt in der Tiefe des Meeres vorgehen? . . . »Ahh!« Herr Kortüm setzte das Glas hin. »Ja. Also die Leute beugen sich weit über die Reling. Starren ins Wasser. Da! Da blinkt der kupferne Helm des Tauchers im blauen Wasser auf. Fehlt ihm was?! Der Luftschlauch . . . die Ventile – ist doch alles in Ordnung! ›Zum Düwel nochmal‹, knurrt der Kapitän. Aber völlig richtig scheint die Sache nicht zu stehen. Der Taucher macht heftige Armbewegungen. Er will das Taucherzeug los sein. Der Steuermann schickt einen Jungen nach dem Arzneikasten. Einer hängt dem Taucher das bleierne Herz ab. Zwei Leute schrauben. Jetzt nur noch der Hebel herunter. Der Helm ab – aber kaum ist die Kupferkugel halb hoch, eben hat der Taucher frische Luft – Röpke heißt der Mann – da schreit der: ›Hievt den Anker! 619 'n Gespenst! Direkt unter uns!‹ ›Nana, man Ruhe, Röpke.‹ ›Da auf dem Grund reitet es. Um den Schiffsschatten rum. Macht, daß ihr hier fortkommt. So hoch! Bis an den roten Schornsteinring da oben reicht es, wenn's rauf kommt.‹ Der Taucher, meine Herrschaften, hat seit zehn Jahren Dienst getan. Seit drei Jahren auf der ›Jacob Witt‹. Vernünftiger Mann. Besonnener Mann. Hat schwere Sachen hinter sich. Nie was vorgekommen. Immer ganz ruhig – wie man bei uns in Norddeutschland seine Arbeit tut. Auch an der dänischen Küste, als die Luftleitung versagte und die Geschichte beinah schief ging – Röpke machte es. ›Düwel ook‹, fing der Käptn wieder an, ›is doch 'n reiner Unsinn. Nu rede man. Aber der Reihe nach.‹ Der Taucher schnappt nach Luft, kippt einen Kognak hinter die Gummibinde. Dann fängt er an: ›Also ich trete immer längs der Zündschnur hin. Liegt gut. Kein Knick. Ich komme vom Heck her auf das Wrack zu, un wie ich längsseit bin, seh ich – da seh ich – wahrhaftigen Gott, da hab ich 'n Reiter gesehn, 'n Riesenpferd, 'n Riesenkerl. Der Reiter setzt die Sporen ein, das Pferd bäumt‹ – Röpke konnte nicht weiter reden, er ließ sich erst einen zweiten Kognak geben. Sie können das verstehen, meine Herrschaften.« Herr Kortüm hielt hier ebenfalls inne, trank ebenfalls ein Glas, und dann erzählte Kortüm weiter: »Ja, und dann erzählte Röpke weiter: ›In fünfzehn Meter Tiefe sieht man noch ganz gut bei solchem Wetter. 's is schon dämmrig. So das grünliche Schummern. Aber unsereiner ist das gewohnt. Ich habe meinen Blick. Bin siebenhundertmal auf Grund getaucht. Da gibt's nichts gegen zu sagen. Ich sehe, was ich sehe. Ganz deutlich. Pferd und Mann reiten hinterm Wrack über den Grund. Der Reiter hat einen Hut auf. Solche Hüte gibt's heute nicht mehr. Zwischen seinem Gesicht und dem Pferdehals schwimmt eben 'n großer Dorsch durch. Unterm Pferdebauch kommt 'n Schwarm Schollen vor – ich habe alles genau gesehn. Aber jetzt bewegt der Reiter den Kopf. 's geschah ja alles in 'n paar Sekunden. So schnell kann ich das nicht erzähln. Wenn er mich sieht, denk ich noch – un rauf un da bin ich. Zu schnell gestiegen. Da pumpt's hier nicht mehr ordentlich durch.‹ Der Taucher drückt die Fäuste auf die Brust und setzt sich – und wie gesagt, meine Damen und Herren – Röpke ist ein nüchterner, verständiger, altgedienter Mann.«

Herr Kortüm lehnte sich zurück und tat wie Röpke nach Beendigung seiner wahrheitsgetreuen Schilderung an Bord der ›Jacob Witt‹: er trank das dritte Glas. Seine Mitgäste tranken diesmal nicht mit, denn keiner hat Freude am Wein und am Leben überhaupt, wenn er auf 620 Grund unbezweifelbarer Tatsachenberichte die Weltordnung wanken sieht.

»Aber«, begann ein Gast nach dem anderen.

»Aber das kann der Taucher doch gar nicht gesehen haben!«

»Er hat. Und er ist ein nüchterner altgedienter Fachmann mit guten Augen.«

»Aber, Herr Kortüm«, mahnte nun auch Windhebel.

»Tut mir leid: es war so.«

Kortüms Unnachgiebigkeit zwang seine Zuhörer zur Selbstverteidigung; wenn solche Begebenheiten zugelassen würden, brauchte ja überhaupt keine Rechnung mehr zu stimmen. Röpke hat sich getäuscht. Auf dem Grunde der Ostsee reiten keine Gespenster. Die Gäste und Einwohner des Schottengeländes handelten nur in Notwehr, wenn sie jetzt nach Erklärungen suchten. Unermüdlich erwogen sie Möglichkeiten. Der furchtbare Reiter in der grünen Dämmerung auf dem Meeresboden mußte entweder eine Sinnestäuschung sein oder er ist unter einer Fernsprechnummer zu erreichen. Ein drittes darf es nicht geben.

»Oh!« Herr Kortüm hob beschwichtigend die Hände: »Die schöne Geschichte! Warum sie denn umbringen mit einer Erklärung!«

»Sie scheinen zu wissen, was es mit dem Reiter auf sich hat?« fragte Arcularius vorsichtig.

»Leider, Herr Superintendent.«

»So sagen Sie's!« riefen die Zuhörer. »Rasch!«

»Ist es nicht genug, daß Röpke den wunderbaren Reiter wirklich gesehen hat und Sie, meine Herrschaften, nun ebenfalls die Freude hatten?«

»Was ist auf dem Meeresgrund vorgegangen, Herr Kortüm?«

»Schade. Ich soll es wirklich sagen? Noch ist es nicht zu spät. Noch reitet der Reiter.«

Nachdenklich blies Windhebel den Tabakrauch gegen den glimmenden Brand seiner Zigarre, daß sie rot aufglühte. Er schwieg. Aber die anderen Gäste riefen wie aus einem Munde: »Die Wahrheit, Herr Kortüm!« Und Arcularius fügte hinzu: »Sie sehen, man kann nicht umhin, Verehrter! Ich kenne das. Jeder wünscht das Wunder, aber es muß wundern innerhalb der Grenzen der praktischen Vernunft.«

Herr Kortüm zuckte die Achseln: »Vernunft! Also – neunzehnhundertfünfzehn. Die russische Front muß zurück. Was kriegswichtig ist, nehmen die Kosaken mit. Riga wird ausgeräumt, die 621 Kirchenglocken von Sankt Peter, vom Dom, das Denkmal des Bischofs Albert. Und natürlich auch das kolossale Reiterstandbild Peters des Großen. Der englische Dreitausendtonnendampfer ›Serbino‹ nimmt das Gut an Bord. Nahe der estländischen Insel Worms torpediert ihn ein deutsches Unterseeboot. ›Serbino‹ sinkt. Beim Aufprallen auf den Grund ist das schwere Monument vom Deck abgeglitten und liegt nun auf dem Meeresboden. So hat es Röpke gesehen. In den Strudeln der Strömung schienen sich Reiter und Pferd zu bewegen.«

»Ach so . . .«

»Ja – ach so. Nun wissen Sie's. Aber nun ist's zu spät.«

»Und wie kam es dann?« fragte Wodtke.

Kortüm rieb langsam sein Kinn: »Dann? Je nun, Herr Wodtke, Peter der Große reitet nicht mehr über den Grund der Ostsee, um die er sein Lebtag kämpfte. Man hat ihm eine Zimmernummer aufgeklebt –«

»Eine – was?«

»Eine Erkennungsnummer. Er stand ja nun bei einer Hamburger Speditionsfirma im Schuppen und wurde im Lagerbuch geführt.«

»Die Rigaer werden das Kunstwerk doch nun wieder aufstellen?« Sidonie liebte die Ordnung.

»Sicherlich, gnädige Frau. Vielleicht in der Innenstadt. Auf dem Markt. Vor dem Barockhaus mit dem geschweiften Giebel.«

Im Konversationszimmer breitete sich unverkennbar eine behagliche Zustimmung aus. Man fühlte sich wieder geborgen: wenn's brennt, kommt die Feuerwehr, bei Überfällen die Schutzpolizei, im Falle sonstiger Veränderungen häuslicher oder beruflicher Art der zuständige Beamte mit einem Formular, und die Erbssuppe mit Schweinsohren kocht auf dem Gas, das die Stadt in einem eisernen Rohr bis unter den Erbsentopf zu leiten verpflichtet ist.

Aber dieses Trugbild vom Leben konnte Kortüm um den Tod nicht vertragen: »Meine Damen und Herren«, begann er, »wenn man nicht Geschichtenerzähler von Beruf ist, sondern ein Gastwirt, sollte man Begebenheiten solcher Art besser für sich behalten. Unsereiner kriegt sie nur rundum rund – nun, wie ein Polizeiprotokoll etwa. Wenn solche Geschehnisse ihren Kern behalten sollen, muß die Schale kunstvoller gearbeitet sein, als sie ein Gastwirt neben seinen vielen sonstigen Pflichten zubereiten kann. So eine Geschichte muß allseitig geschlossen vor Ihnen stehen wie ein Sarkophag – zuverlässig –«

»Zuverlässig? Ein Sarkophag?« Arcularius hob warnend den Zeigefinger: »Herr Kortüm?«

622 »Hm. Ganz recht. Ihr Wohl, Herr Superintendent. Jedoch es gibt zuverlässige Sarkophage, rundum geschlossene, nicht zu öffnende – nicht in Kranichstedt, nein. Aber in Quedlinburg. Sie kennen den Steinsarg der Königin Mathilde? Der Gattin des Königs Heinrich? Nein? Sie müssen unbedingt nach Quedlinburg fahren. Im Dom steht er. Die Königin befahl, sie nach ihrem Tode in einen Sarg aus Granit zu legen und – meine Herrschaften: und auf den Deckel des Sarkophags eine der tragenden Säulen des Gewölbes zu stellen. Wer den Deckel heben will, muß die Säule wegnehmen. Wer aber die Säule anrührt, dem fällt das Gewölbe auf den Kopf. Das sind Verschlüsse!«

»Herr Kortüm«, sagte Windhebel, »Sie sollten uns Geschichten mit verschloßnem Kern erzählen. Unerklärbare.«

»Aber wirklich geschehene!«

»Ich seh's Ihnen an: Sie wissen eine«, drängte Lichtermark.

»Solche Geschichten – ohne Bedenken«, sagte Kortüm freigebig. Die Zuhörer rückten noch enger zusammen. Die Kellner brachten Wein. Die Gäste vergaßen die Zeit. Kortüm war unerschöpflich. Wunderbar spann er seine Zuhörer ein. Er begann von Schiffen zu erzählen, die verschwunden waren – nicht vor dreihundert Jahren, als es noch den Fliegenden Holländer gab, sondern gestern und heute verschwanden sie samt ihren doppelten Funkanlagen aus der Welt. Und nicht etwa in Sturm und Seenot – bei klarem Wetter! Weg waren sie. Ins Nichts. Mit einer Segelschiffgeschichte begann Kortüm. Von der ›Kövenhavn‹ erzählte er, dem herrlichen, ganz neu gebauten dänischen Fünfmaster. »Ordnungsmäßig hatte er Buenos Aires verlassen mit Kurs nach Dänemark. Auf dem ganzen Atlantik gutes Wetter. Und – Geheimnis! – weitab von ihrer Route ist die ›Kövenhavn‹ noch einmal gesichtet worden. Tief im Süden, bei der Insel Tristan da Cunha. Einwandfrei beobachtet vom amtlich bestellten Leuchtturmwärter dort. Dann nie mehr. Gutes Wetter. Auf dem ganzen Atlantik. Ja, meine Herrschaften.«

»Aber –«

»Haha!« Jetzt lachte Kortüm. »Nein. Dies ist unerklärt. Die Welt ist Gott sei Dank zuweilen über alle Erklärung groß. Nicht einmal der alte Matrose kann Ihnen Bescheid sagen, der die Sterbeglocke der Schiffe im Gebäude von Lloyds in London anschlägt. Auch von dem Norweger, ›Wyer Sargent‹ hieß er, der an der Ostküste von Südamerika unterging, hatte der Glöckner von Lloyds die Todesnachricht an das schwarze Brett genagelt – ja, und im Jahr drauf wurde der 623 Norweger im Golf von Mexiko wieder gesehen: von einem Passagierdampfer, an dem er halb untergetaucht im Abenddunkel lautlos vorbeitrieb. Meine Herrschaften, noch siebenundzwanzigmal hat man dieses menschenleere Schiff gesehen!«

Mitternacht war längst vorüber. Kein Mensch stand auf . . . der große Zar reitet über Wiesen von Seetang, und Schellfische begleiten ihn. Tote Schiffe, die nicht sinken können, geistern durch die Weltmeere. Ein weißer Fünfmaster streicht schwanenhaft an einer einsamen Insel tief im Süden vorbei, die selber fast eine Sage ist. Und wird nie mehr gesehen. Und alles ist wahr, alles geschieht heute. Unseresgleichen zieht diese geheimnisvollen Reisewege, gerüstet mit allen Nachrichtenmaschinen dieser Zeit. »Die Welt«, sagte Herr Kortüm, »ist nicht so maschinierbar, wie Sie bei elektrischer Beleuchtung manchmal glauben.«

»Voll von Geheimnis«, sagte Arcularius.

Mimi Langloff nickte: »Wunderbar.« Sie hatte sich neben ihn aufs Sofa gesetzt und drückte ihm die Hand. Kortüm brummte leise, trank, Kortüm erzählte. Die Gäste waren bezaubert. Auch Elvira hing an den Reden dieses gefährlichen Gastes. Nicht Backbord steuerte sie, wie ihr das der alte Kapitän doch so dringlich geraten hatte. Aufmerksam verfolgte sie trotz Kortüms Geschichten den Geschäftsgang im Konversationsraum; ob sie es gern zugeben wollte oder ungern: der glänzende Umsatz in dieser Nacht war unbestreitbar. Wenn Kortüm noch drei Abende so weitererzählte, hatten diese paar Stunden mehr eingebracht als ebensoviel Tage. Wein, Bier, Tee, Limonaden, Mineralwässer, kleine Kuchen, mittelgroße belegte Brötchen und tellergroße Ohnmachtshappen nahmen die Gäste zu sich. Sie hatten Durst, wurden vom Trinken hungrig, vom Essen durstig und hörten Herrn Kortüm zu, bis plötzlich jemand sagte: »Geht die Uhr dort etwa richtig?«

Die zweite Nachtstunde schlug sie.

»Schade«, sagten die Gäste beim Aufstehen, »der Abend war so kurz.«

»Morgen wieder!« rief Wodtke.

Kortüm schüttelte den Kopf: »Glauben Sie einem alten Gastwirt: nichts dergleichen ist wiederholbar. Dieser Abend ist verschwunden wie der weiße Fünfmaster vor Tristan da Cunha. Aber der Bordeaux ist gut. Es müßte sich morgen in der Tat etwas Neues ergeben.«

»Tanzen«, lachte ein junges Mädchen.

»Sieh da«, sprach Herr Kortüm, »tanzen; aber hat sie nicht recht? Die Konversation heute nacht war ausgesprochen männlich.«

»Nun . . . tanzen –«, begann Arcularius.

624 Windhebel sah sich mißbilligend um: »Wenn eben die Damen in der Überzahl sind –«

»– müssen«, setzte Kortüm den Satz des Gelehrten fort, »müssen wir für Tänzer sorgen.«

»Im August?« fragte die erfahrene Sidonie, »da kommt keiner.«

»Oh, ich wüßte viele«, widersprach Kortüm, »nur – man muß ihnen etwas bieten für die Anstrengung.«

»Eine Bowle?«

»Die trinken sie auch so. Nein. Mehr! Sagen wir . . . ein Maskenfest.«

»Herr Kortüm!« riefen die jungen Mädchen.

»Bei der Hitze?«

»Man maskiert sich eben leicht«, sagte Kortüm. »Nur einen Flor oder –«

»Herr Kortüm!!« riefen die jüngeren Damen zum zweitenmal und sprangen auf. Seine Geschichten hatten ihnen gefallen – aber ein leichtes Maskenfest, in leichter Kleidung, in einer leichten Sommernacht: »Morgen, Herr Kortüm!«

Monich wandte sich an Mickewitz: »Was meinen Sie denn dazu? Nich schlecht, was? Masken; die Heimarbeit in Besenroda unten will auch leben.«

Mickewitz war heute abend wenig zu Worte gekommen und begnügte sich mit der Antwort: »Der Leinen- und Kunstseidenhandel wohl auch, Herr Monich?«

»Nu freilich. Samt den Apothekern. Nu kommt's Maskenfest vielleicht doch noch.«

Niemand konnte einen triftigen Grund gegen ein sommerliches Maskenfest vorbringen, am wenigsten Elvira und die Frau Langloff: nach dem Erfolg dieses Abends ließ sich ein ungeheurer Umsatz erwarten.

»Morgen also!« riefen die Gäste.

»Drei Tage müssen zwischen heute und dem Fest liegen«, Kortüm schnitt jeden Widerspruch kurz ab, »das verstehe ich besser. Wir sind viel zu wenige für ein Maskenfest im Freien. Wenn es gelingen soll, müssen alle Freunde des Schottengeländes erscheinen.«

Im Geiste sah Elvira die Bratenschüsseln und Flaschenkörbe, Mimi die werbekräftigen Zeitungsbesprechungen, Kuffert die Bierfässer, Bratwürste und Mädchen, Mickewitz die Erkältungen, und Windhebel sah Herrn Kortüm an und sagte: »Freitag also.«

»Freitag!!« rief der Chor.

625 »Und die Musik?« fragte Lichtermark.

Kortüm legte den Kopf zurück und blickte das Palmblatt über sich an: »Musik, ja . . . eine Augustnacht, Herr Professor . . . Neumond, Hochwald.« Kortüm machte eine große Armbewegung. »Wir fangen Pianissimo an. Streicher. Um diese Nachtstunde ungefähr spielen wir voll. Und gegen Morgengrauen klingen wir ab. Mit Holzbläsern etwa?«

»Ich will sehen, wen ich auftreiben kann.«

Sidonie schneiderte schon in Gedanken: »Und wenn man dann als Maske herumgeht, im Freien, und die Wiese und der Wald hell erleuchtet –«

»Im Gegenteil, gnädige Frau«, sagte Herr Kortüm, »Licht behindert. Aber überlassen Sie das mir.«

 


 << zurück weiter >>