Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die Festrede

Wingen schlug das Notenbuch aus, setzte sich auf der Orgelbank zurecht und wartete. Es fehlte nur noch die Luft. Aber der Bälgetreter mußte gleich kommen. Er spielte einstweilen ein paar stumme Läufe, probte einige schwere Pedalgänge.

So fand ihn Wenzel.

»Der Schreck is mir richtig in die Glieder gefahrn, als ich hörte, Sie sin wieder da un brauchen Luft. Sie haben doch noch Ferien, un im Urlaub machen Sie doch Ihre Schreibarbeiten.«

Wingen schüttelte den Kopf: »Luft, Wenzel!«

»Na, dann weiß ich nich – das Schreiben hat Ihnen doch so gut getan.«

»Das Schreiben schon, Wenzel. Aber nicht, was geschrieben übrig blieb.« Er griff in die Tasten. »Luft, Wenzel. Los. Wir machen Musik. Die klingt, und wenn wir aufhören, hat es wirklich ein Ende und ist vorbei.«

»Bis auf meine Rückenschmerzen«, bemerkte der Bälgetreter mit Recht, denn er blickte plötzlich in eine arbeitsreiche Zukunft.

»Gegen Rückenschmerzen hilft Senfspiritus. Aber gegen beschriebnes Papier hilft nicht einmal Senfpflaster.«

»Un wenn Sie nu die Schreiberei hinterher verbrennen?«

»Dann hat das Schreiben keinen Sinn gehabt, Wenzel! Wir wollen anfangen. Luft!«

»Aber Musike hat einen gehabt, wenn sie alle is?«

Wingen antwortete nicht mehr. Er war bei seinen Noten. Vielleicht hatte er den letzten Einwand des Bälgetreters schon nicht mehr gehört. Aber Wenzel ließ sich nicht irre machen. Orgelspielen konnte er nicht, schreiben auch nicht, aber philosophieren konnte er so gut wie andre 316 Leute. »Da stimmt was nich«, knurrte er auf dem Weg in seine Bälgekammer. »Aber ich komme schon noch dahinter.«

Wenzel ist nie dahintergekommen, warum sein Herr alle überschüssige Kraft von nun an in Musik umwandelte und verklingen ließ mit ihr. Auch noch weit landeskundigere Philosophen als Wenzel begriffen erst viel später, wo die geheime Kraft saß, deren bloßes Dasein Bewegungen erwirkte an scheinbar ganz unverbundenen Orten – in einer fernen Bälgekammer, in einer noch ferneren Schulstube, ja in der Kabine eines Schiffes unter beinah endlos entfernten Breitengraden. Dorthin reiste jetzt ein dicker Brief, den Langloff schon auf dem Schottenhaus begonnen hatte und in dem er seinem Sohn, dem Schiffsarzt, höchst wertvolle Angaben über ein nach gesunden wirtschaftlichen Grundsätzen geleitetes Erholungsheim mitteilte – jeder Satz auf Erfahrung ruhend und Goldes wert. Langloff konnte seinem Sohn guten Gewissens raten, bald zurückzukommen und eigne Studien im Schottenhaus und seiner Umgebung anzustellen.

Einen anderen Brief aus dem Kortümbereich, wenn auch nur einen dünnen und kurzen, erhielt Klaus Schart. Er stand unter dem Goldregenbusch an der Pforte des Hörseler Schulhauses, las und hatte trotz der knappen Briefseite beinahe ebenso viel Zeit zum Lesen nötig, wie Langloffs Sohn brauchte, der doch das gewichtige Material seines Vaters sorgfältig durcharbeiten mußte. Vor allem die Unterschrift schien Klaus schwer einzugehen. Er las immer wieder: »Ihre Konstanze Schröter, Ihre Konstanze Schröter, Ihre . . .« Nach einer guten halben Stunde mußte er den Sinn des Briefes wenigstens in großen Zügen verstanden haben, denn er steckte das Schriftstück so sorgfältig und umständlich in die auf der linken Herzseite befindliche Brusttasche wie ein Kapitalist sein Aktienbündel und begab sich in die Schulklasse. Es wurde Zeit: drei Straßen weit schallte der Lärm seiner in unverantwortlicher Weise sich selbst überlassenen Jungen, und der Schulmeister hätte ihn eigentlich unter seinem Goldregenbusch auch hören müssen. Trotzdem ging Klaus in seiner Klasse nicht als Gewitter auf, sondern strahlend wie eine Sonne.

Das Aufsatzthema wurde denn auch nicht schwer: Wie Peter zu einem Hause kam.

Das Erfinden ging los, und jeder erfand nach seiner Weise. Hans ließ den Peter selber karren und mörteln. Jochen ließ den Peter der Kürze halber das Haus erben. Fritz erkannte eine Möglichkeit im Heiraten. August nahm die Lotterie als Geldgeber an. Ein anderer 317 verlegte seine Geschichte in fremdes Land, wo der Mensch überhaupt nichts braucht, um zum Hause zu kommen. Klaus Schart las alles durch, las es nachdenklich, sagte »Paßt auf« und fing seinerseits an, eine Geschichte zu erfinden. Er erzählte einfach los, ohne die leiseste Ahnung, was im nächsten Satz geschehen würde. Solche Geschichten freuen Kinder, denn so dichten sie selber. Nur steckten sie die Köpfe zusammen und kicherten, wenn ihr Schulmeister den Namen des Helden nannte. Er sagte nicht Peter, sondern immer Pedro, als ob die Erzählung möglichst weit weg von Thüringen spielen sollte. Wo man noch seine eigene Geschichte lebendig in Gang weiß, macht man nur im Notfall erfundene Schulden – die nicht erfundenen genügen meistens. Konstanze hatte ihm geschrieben – man sprach also von ihm. Vielleicht nannte jemand eben jetzt seinen Namen im Schottengelände an der falschen Stelle . . .

Sein schlechtes Gewissen trog ihn nicht:

»Aber das Richtfest ist doch gewesen!« sagte Lotte Wingen erstaunt zu Holdermann, der ihr die Einladung brachte.

»'s erste.«

Lotte sah ihn ratlos an: »Feiert denn Herr Kortüm zwei Richtfeste?«

Der Maler nickte.

»O Gott . . .«

»Die Richtfestrede hat nämlich gefehlt«, erläuterte Holdermann. »Ihr Mann hat sie ja nicht geschrieben.«

»Wer macht denn die nun?«

»Ich kenne ihn nicht. Klaus Schart heißt er, wenn ich recht verstanden habe.«

Lotte sah rasch von ihrer Näherei auf und blickte Holdermann forschend an.

Aber harmlos fragte er: »Also Sie kommen?«

»Gerne«, sagte Lotte und lächelte ein wenig.

Überhaupt tat jeder das seinige, um die Festfreude zu erhöhen. Mickewitz hielt Kuffert auf der Straße in Esperstedt an: »Sind Sie eingeladen?«

»Nee.«

»Ich auch nicht.«

»Uns ladet er wahrscheinlich erst zum dritten Richtfest ein.«

»Man sollte eine kleine Notiz ins Abendblatt rücken, damit ihm die Leute rechtzeitig gratulieren können.«

»Schreiben Sie doch, wann's vierte käme, stände nich fest. 's dritte wär übermorgen.«

318 Wirklich praktische Arbeit leistete eigentlich nur Monich. Er stand im Kaminsaal und sprach, da niemand bei ihm war, mit lauter Stimme zu sich selbst: »Das is gradezu 'ne Schande. Kortüm tut diesmal reine nischt. Ich habe alles alleine aufm Halse. He!«

Der Hausknecht erschien und schleppte sich mit einer langen Girlande.

»Wo bleibste denn nur!« fuhr ihn Monich an.

»So 'ne Girlande tragen is nich so ohne, Herr Monich. Den verfluchten Berg rauf. Einmal fällt vorne der Anfang runter, un Sie treten drauf. Oder hinten fällt's Ende runter, un Sie merken's nich gleich, dann wird die Girlande alle, un Sie müssen erst wieder 'n Berg nuntersteigen un frisch aufwickeln.«

»Da mach doch 'n Faden drum!«

Hm – auf den Gedanken war der Knecht nicht gekommen.

»Na, nu is es zu spät. Häng sie auf. Schnell! Um sein Bild überm Kamin rum. Aber paß auf, daß der Blumenknuff in die Mitte über seinen Kopp kommt.«

»Er hat wohl Geburtstag?«

»Er nich, Schafskopp. 's Haus doch!«

Große Bewegung war in diesem festlichen Schottenhause, aber Herr Kortüm, der sonst alles in Bewegung brachte, saß gelassen in seinem Zimmer, als wäre nun ein Kortümrichtefest die Sache der anderen. Wer aber glaubte, er sinniere nur tabakrauchend so vor sich hin, der war im Irrtum. So gut wie seine Freunde wußte er: noch einmal mißlingen durfte es nicht. Wo aber saß der gefährliche Punkt? In der Festrede. An der Rede war das erste Fest gescheitert, trotz der sonst vortrefflichen Bewirtung und Aufmachung. Und nun sollte das zweite Richtfest auf nichts stehen als dem Kopf dieses Schulmeisters da hinten in Hörsel? Das mochten schöne Frauen wagen, die nichts wissen vom Leben junger Männer. Aber er nicht, Herr Kortüm, der einer gewesen war und zu den wenigen gehörte, die es noch nicht vergessen hatten!

Der Herr des Hauses arbeitete für alle Fälle eine neue Rede aus, eine gehaltvolle Rede, die nicht aus klangvollen Sätzen zu bestehen brauchte, aber Grund unter sich haben mußte, historischen Grund. Konstanze hatte das Thema vorgeschlagen: wie einer zu seinem Hause kommt.

»Wie seine Ahnen«, sagte Herr Kortüm. »Nicht anders. Denn jeder Stamm hat sein Gesetz. Die Eichen, die Weinstöcke, die Haseln – und die Kortüms!« Er kramte in einem mit vergilbten Papieren gefüllten Kasten. Die Bilder seiner Urgroßeltern fand er. Briefbündel. Ein 319 Lederkästchen mit einer Elfenbeinmalerei. Den Siegelabdruck eines Torstenson. Er breitete diese Sachen vor sich aus. Ein zarter Duft aus alten Zeiten stieg auf aus den spärlichen Resten. Aber Herr Kortüm atmete ihn dankbar ein und nickte: »Das waren wir. Das sind wir.«

Nach den Sorgen der letzten Tage taten ihm diese Zeugnisse seines vorigen Daseins wohl. Wie da plötzlich aus allen Windrichtungen Leute in sein Haus gedrungen waren, wie die Türen klappten, Stiefel scharrten und ein Reden begann, ein Tuscheln, ein Flüstern, das schwoll, sich dehnte, Feuer fing und die Fenster sprengte wie explodierendes Gas – ahh, der Spuk war fort! Mochte ein Gelehrter, der Erdbeben erforschte, aber nichts verstand von Erdbeben, mochte der keines haben feststellen können auf dem Schottenhaus. Er, Kortüm, hatte sein bißchen Erde zittern sehen. Zittern und beben vom Habenwollen! Denn was sonst vermöchte diese Feste, die Gott gesetzt hat, erbeben zu lassen von erbärmlichen Menschenhänden . . .

»Das sind wir«, sagte er noch einmal und streichelte die Zeugnisse des Kortümblutes, die er ausgebreitet hatte vor sich auf dem großen Tisch. Herr Kortüm hatte den weiten Blick. Dieser Mann, dem bekannt war, daß eine Thüringer Straße an der Biskaya anfangen und in Taschkent aufhören kann, der dem erschrockenen Professor Holdermann vom Schottenhausfenster aus die Brandung des Meeres zeigen konnte, der vermochte sich jetzt auch wandeln zu sehen in jeglicher Gestalt nach der Tiefe der Zeit – im blauen Frack sah er sich, in Escarpins, in Eisenschienen. Die zweite Richtfestrede wurde lang.

 


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