Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die wandernde Windfahne

Der Oboenbläser am verschwelenden Hachelfeuer schlief, und Wenzel im Eibenbusch schlummerte noch, als Herr Kortüm bereits die Bilanz der großen Maskennacht zog.

Lorenz brauchte das Türloch nicht wieder zu vermauern. Er erweiterte die Türöffnung – nicht auf Anordnung Utzenstorffs oder gar Kortüms, sondern in Langloffschen Diensten. Der Doktor hatte die Schrecken der vergangenen Nacht überwunden. Er handelte jetzt. In kalter Entschlossenheit. Mit erhobener Stimme erteilte Langloff einem Trupp fleißiger Dienstmänner und schwatzender Aufwartefrauen seine Befehle, lenkte sie planmäßig hierhin und dorthin, um unverzüglich die überall in Haus und Hof herumliegenden traurigen Überbleibsel des Kortümfestes zu beseitigen. Auf dem Podium stand er nicht, aber er benutzte diesen grauen Morgen nicht weniger umsichtig, als Andermann die fackelbeglänzte Nacht zu nutzen verstanden hatte: »Die Tische und Stühle aus der Echostube hinter die Garagen! Frau Wolle! Frau Kersch! Heißes Wasser und Soda. Den Schläfer dort hinter der Efeuwand nach Zimmer Nummer sechzehn tragen! Vorsichtig! Liese, er bekommt kalte Kompresse. Viertelstündlich wechseln.«

»Vielleicht dürfte ich auch bei dieser Gelegenheit wieder an meine Eheunachtin-Tabletten erinnern, Herr Doktor?« fragte Mickewitz.

640 »Auch das«, entschied Langloff, »alle zwei Stunden eine Tablette in Wasser. So – Bilmes! Die herumliegenden Kleidungsstücke aufsammeln. Auf den Tisch da! Und die Weinflaschen auflesen – Klemm! . . . Klemm!!«

Eine Stimme aus dem Trupp der Arbeiter: »Der is doch noch besoffen.«

Langloffs Kehle entrang sich nur ein röchelnder Laut.

»Regen Sie sich nicht auf, Herr Doktor«, mahnte Mickewitz, »der Fall ist ja klar.«

»Klar und zu Ende!«

Obgleich eigentlich alles ganz anders lag, stand jetzt bereits auf Grund zuverlässiger Aussagen folgendes fest: Kortüm hatte die Abwesenheit des Doktor Langloff benutzt, um die unberatenen Frauen für ein niemals für möglich gehaltenes Fest zu gewinnen. Kortüm hatte das Sanatorium verwandelt in ein Vergnügungslokal von unwahrscheinlichen Ausmaßen. Noch ein, zwei Tage, und Kortüm wäre es endgültig gelungen, den Ruf dieses ärztlich aufs sorgfältigste geleiteten Instituts zu erschüttern. Und Kortüm hatte dieses Maskenunternehmen im Sanatorium mit Unterstützung einer Filmgesellschaft ins Leben gerufen und im lebenden Bilde verewigt . . .

»Womöglich bin ich selber mit drauf auf dem Bild!« rief Doktor Langloff. »Ohne Maske! Aller Welt kenntlich! Und Sie sind auch drauf! Und unter dem Bild steht: Der leitende Arzt des Sanatoriums mit seinem Apotheker bei einer Abendveranstaltung im Genesungsheim! Ohh!«

»Den Rechtsweg beschreiten, Herr Doktor! Daß im Sanatorium gefilmt worden ist, soll heute abend bereits im Besenröder Anzeiger stehen! Rasch auf den Rechtsweg!«

»Der Teufel soll mich holen!« Langloff lachte nur rauh auf: »Selbsthilfe führt hier zum Ziel. Nichts sonst. Vor Kortüm schützt einen kein Vertrag und kein Gesetzbuch! Sie haben es ja erlebt: er war zweimal vorhanden! Wer mit dem Mann zu tun kriegt, lernt an seinem Verstande zweifeln! Hier saß er in einem Sessel – dort trat er durch eine achtunddreißig Zentimeter starke Backsteinwand hindurch! Und Kortüm winkte Kortüm zu!«

»Ich habe 's ja auch gesehen«, sagte Mickewitz leise.

»Nur eins gibt's hier: raus! In die Echostube kommt er nicht wieder. Raus aus meinem Haus!«

»Haben Sie damals den Film ›Andermann‹ gesehen, Herr Doktor? Da ist Kortüm bereits –«

641 »Erwähnen Sie bitte das Wort Film nicht mehr, Herr Apotheker, ja? Bitte auch das Wort Rechtsweg nicht. Wie? Ich habe mich vertraglich geschützt, Punkt für Punkt, und er kommt als Gast, und nicht zwei Tage, da nennt ihn Personal wie Gästeschaft den Herrn des Hauses!! – Schluß, sage ich!«

Wie gesagt, lag ja die Sache völlig anders. Herr Kortüm hätte an Hand von Zahlen vor Gericht nachweisen können, daß er, Kortüm, der beste Gast des Sanatoriums gewesen war seit dem Bestehen dieser Anstalt. Von Filmaufnahmen war ihm so wenig wie jedem anderen etwas bekannt gewesen – das mochte Langloff mit Utzenstorff ausmachen. Die offene Wand war ein Maskenscherz seiner Freunde für eine Nacht; in Köln am Rheine schlagen die Leute am Rosenmontag noch viel mehr entzwei als ein paar Ziegelsteine. Das Maskenfest selbst aber hatten Kortüms Mitgäste ausdrücklich gewünscht. Und wer von den Gästen konnte den Erfolg dieses Gesellschaftsabends leugnen? Sechs öffentliche Verlobungen waren zustande gekommen – der anderen zu schweigen. Nichts als Segen hatte Herr Kortüm gestiftet – Segen und Freude, Liebe, Eintracht, Verlobung und Hochzeit, und eine ungeheure Propaganda für das Flügelhausganze: »Ha!«

Herr Kortüm begann eine Verteidigungsschrift aufzusetzen. Aber Lotte unterbrach ihn bei seiner Arbeit: »Als Sie im Sanatorium abstiegen, haben Sie mich ja auch nicht nach meiner Meinung gefragt.«

»Bitte, Frau Wingen, das verstehen Sie nicht. Sie wissen, wie hoch ich Sie schätze. Aber Sie sind eine, wenn ich so sagen darf, etwas nüchterne Natur. Es kam über mich. Jawohl. Einfach über mich. Das ist mein Flügelhaus. Und Gast kann jeder sein. Auch ein Wirt kann Gast sein. Ich auch. Ich erst recht. Und ich mußte einmal wieder einkehren dort, wo ich eigentlich zu Hause bin!«

»Andre möchten auch gerne einmal wieder einkehren, wo sie eigentlich zu Hause sind, aber – ja, Herr Kortüm, es ist manchmal mit Efeu zugewachsen, und man muß bleiben, wo man ist.«

Herr Kortüm sah Lotte von der Seite an, ging ans Westfenster der Lohbergstube und sah hinüber nach den runden bewaldeten Bergkuppen. Noch schaukelten ein paar halbverbrannte Papierlaternen vor dem Bild der Ferne. »Hm«, sprach Kortüm nach einer Weile, »man muß diese Laternen abnehmen. Sie sehen nicht gut aus.«

»Ich hatte noch keine Zeit dazu. Ich habe die Abrechnung gemacht und wollte Ihnen sagen: an dem Tag vorm Fest und am Festtag selber 642 haben Sie hundertachtzig Mark mehr verdient als in den letzten drei Wochen zusammen.«

Herr Kortüm zog die Augenbrauen ganz hoch, rieb das Kinn und blickte Lotte an: »So stehn wir da!«

»Hier oben, Herr Kortüm. Aber in der Echostube unten sitzt jetzt Herr Doktor Langloff. Und freiwillig gibt er sie nicht wieder her, seit Sie ihm die Wand nach dem Schottenhof selber aufgeschlagen haben. Einen größeren Gefallen konnten Sie ihm gar nicht tun.«

»Ich?! Utzenstorff –«

»– auf Sie kommt's doch. Zuletzt sind Sie verantwortlich für Vorgänge in Ihrer Gaststube.«

»Ich kann vor Gericht erweisen –«

»– daß Sie das Fest angestellt haben. Natürlich können Sie prozessieren, einen Monat, zwei, ein ganzes Jahr lang und länger. Tun Sie's nicht. Langloff hält's länger aus. Der geht jetzt auf Biegen und Brechen.«

»Ich soll meinem Pächter die Echostube lassen?!«

»Sie ist ja demoliert. Sie selber haben damit angefangen und Sie haben sich auch noch photographieren lassen, als Sie durch die Mauer in Langloffs Schottenhof gingen. Jedenfalls ist fraglich, ob Sie den Prozeß gewinnen. Aber sicher ist, daß er Sie mehr Geld kostet, als Sie verdienen können.«

Lotte hatte recht, und Kortüm hatte recht – aber Kortüm konnte nicht leugnen: den Vertrag hatte er gebrochen, er, der Echowirt, zur Zeit Gast des Sanatoriums Flügelhaus . . .

Am Abend stand Doktor Windhebel auf seinen Stock gestützt und sah Kortüms Umzug ins Lohberghaus zu.

»Ich sage mir«, hatte Kortüm zu ihm gesagt, »besser als ein Prozeß. In wenig mehr als drei Jahren läuft die Pacht ja ab. Und wenn ich umziehe, dann lieber gleich. Es gehört so gewissermaßen mit zum Maskenfest.«

Die Betten, Tische, Stühle waren schon oben. Jetzt kamen die drei letzten Stücke des Kortümschen Besitzes.

Wenzel trug die silberne Windfahne den Bergpfad hinan. Zuweilen blitzte ein letzter goldroter Sonnenstrahl auf der lachenden und weinenden Maske, die da wie eine wirkliche wehende Fahne durch den dämmernden Wald zog.

»Es gehört gewissermaßen mit zum Maskenfest«, sagte Windhebel vor sich hin.

643 Nun kamen Bilmes und der Küster Bauspack. Sie hatten den Püsterich auf ein Brett geschnürt und trugen den schweren erzenen Kobold mühsam den Berg hinauf. Das alte Götzenbild ruckelte auf seiner Tragbahre. Es schien vor Lachen zu rucken. »Vielleicht freut sich das Scheusal«, dachte der Gelehrte, »daß Kortüm die Quelle unten lassen muß, die er ihm ein paar Jahre lang durch den Schlund laufen ließ.« Als Windhebel aber das dritte Stück den Pfad heraufschleppen sah, sprach er noch einmal: »Es gehört bei Gott zum Maskenfest.« Ein ganzer Trupp starker Männer ächzte heran und brachte Kortüms schwerstes Gerät, den Wabenschrank. Die Leute mußten oft »Ho hupp!« durch den immer tiefer in Dunkelheit versinkenden Wald schreien, ehe das Ungeheuer auf dem Gipfel war.

Die Windfahne kam in die Gaststube des Lohberghauses. Der Püsterich wurde vor das Haus gestellt, der Wabenschrank jedoch hinters Haus; es erwies sich, daß keine Türe, kein Fenster groß genug für diesen Schrank war. Es blieb Kortüm nichts übrig, als ihn für die erste Nacht ungeschützt im Freien stehen zu lassen. Am anderen Tag erschien der Zimmermann, baute vier Wände aus Brettern um ihn, deckte ihn mit einem Schindeldach gegen Wind und Wetter und schlug Haken und Krampe ein, damit die Brettertür nicht von selber aufgehen konnte. Freilich mußte Kortüm schon nach ein paar Tagen ein Schild an der Türe anbringen lassen: »Privat.« Es kam immer wieder vor, daß suchende Gäste ums Haus gingen, eilig die Türe öffneten, froh eintreten wollten und zornig gewahr wurden, daß hinter der Tür noch eine war, die sich nicht öffnen ließ. Bei anderen solchen Bretterhäuschen in anderen Gaststätten hatten sie das noch nicht erlebt. Kortüm kam in den Verdacht, sich mit seinen Gästen unpassende Scherze zu erlauben, als er ihnen wahrheitsgemäß versicherte, dieses Häuschen sei erbaut zur Bergung seiner Korrespondenz. Der Lohbergwirt mußte erst die innere Tür mehreren glaubwürdigen Gästen öffnen und ihnen die Waben vor Augen führen, ehe diese und später allmählich auch die anderen Gäste von der Tatsache überzeugt waren. –

So«, sagte Kersch beim Nachhausegehn zu Bilmes, »das waren je recht dicke Nebenverdienste die Tage daher.«

Bilmes blieb stehen. Es war schon Nacht. Er sah nach dem Gipfel des Lohberges hinauf: »Je, nu is er oben.«

»Ganz oben, Bilmes. Höher kann er nu nich. Nu hat er bloß noch die Luft über sich.«

»Un die Sterne. Du, Kersch, paß auf: Kortüm kann noch höher.« 644 645 646 647

 


 << zurück weiter >>