Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die Goldwaage

Herr Kortüm eilte, um vor Ankunft der World noch einen Blick auf die Anstalten zu ihrem Empfang zu werfen.

Am Ende des neuen Westflügels stand er still. Sein Werk gefiel ihm 349 jeden Tag mehr. Nur an der einen Stelle hier kamen ihm Zweifel, ob nicht gerade dieses Stück Land besser unbebaut geblieben wäre. Genau hier stand einst der Gartentisch, an dem er mit Monich und dem Lehrer Schart jenen unvergeßlichen Abend verbracht hatte, jenen verunglückten Sonntagabend ohne Gäste . . . Er sah alles noch vor sich, hörte die Stimmen. »Wissen Sie, was es heißt, keine Straße zu haben?« Wie Monich und Schart erschrocken waren, als das Echo seiner verzweifelten Frage vom Lohberg zurückgeworfen wurde! »Straße zu haben?« ». . . zu haben?« und noch einmal ganz leise: ». . . haben?« Ja, das Haben. Aber dann waren sie mutig ans Nachdenken gegangen. Ein großes Maskenfest wurde geplant, ein Theaterfestspiel kam schließlich zustande. Und statt gemalter Masken stieg eine wirkliche Konstanze Schröter wunderbar aus dem Spiel heraus in sein Leben.

»Hm, das Fest ist vorbei. Eine gute Weile schon. Aber sie ist noch da. Zuweilen wenigstens. Und das alte Echo – das ist immer da.«

Wenn man nämlich im letzten Zimmer des neuen Flügelbaues das große nach Norden gehende Fenster öffnete und einen vernehmlichen Gruß in die Goldene Aue hinüberrief, so schallte dieser Gruß genau so schön und geheimnisvoll zurück wie einst, einmal, zweimal, dreimal. Auf seinen Reisen hatte Herr Kortüm manche Stelle des Erdbodens betreten, an der die Natur dem Menschen antwortet. Einen Wald von jungen Steineichen wußte er, auf einer Insel – durch den ging immer, auch bei völliger Windstille, ein leiser Luftzug, in dem man so seine Gedanken haben konnte. In gottverlaßnem Felsgeröll und Sand lief ein winziges eiskaltes Quellchen, das auch die grausige Sonne jenes Landes nicht auflecken oder nur anwärmen konnte. Ja, und ein Echo, sein Echo . . . Herr Kortüm hatte sich erzählen lassen, daß fromme Leute an solchen Stätten einen Stein aufstellten, manchmal ein Bildwerk, Tempel sogar. Vielleicht fromm, aber sicher nicht reich genug war er, um nun noch ein unverzinsliches Bauwerk zu errichten, nachdem eben das Flügelhaus gerichtet war und sich hoffentlich mit sechs Prozent verzinsen würde. Aber Herr Kortüm hatte Glück gehabt. Die Erhaltung seines Echos war auch ohne Zutun gelungen. Dieses Nordfenster jedoch, das außer dem unbewegt kühlen Licht auch noch sein Echo hereinließ, das sollte nun kein gewöhnliches Fremdenzimmer mit fließendem kalten und warmen Wasser beleuchten.

Herr Kortüm war eines Abends mit Rechnen beschäftigt und, wie so leicht bei Bilanzqualen, ins Nachdenken geraten. Er malte auf dem Löschpapier. Die Zahlenkolonnen regten sich, die Tintenkrakel 350 krabbelten, standen auf, wandelten schließlich, und vor Kortüms Auge zog hin in langem Zug, was diese Zahlen bedeuteten: seine Gästeschar. Da kamen zuerst die schweren Zwölfmarkkaliber mit den schönen Nebenausgaben und den Weinen über drei Mark, dann marschierte die große Achtmärkerdivision der besseren Stände auf, die Sechsmärker kamen mit Weib und Kind – ja, und zuletzt traten Leute an, die nicht unter dem Dach des Flügelhauses schliefen, weder als halbe noch als Viertelpension in der Abrechnung auftauchten und doch zum Schottengelände gehörten. Herr Kortüm hatte beim Anblick dieser Gestalten genickt: an seinem Haus vorüber zog eben eine alte Straße, die von der Biskaya kam und bis nach Taschkent lief. Aus Gründen der Reifenabnutzung befuhren die gutzahlenden Herrschaften diese schlechte Straßendecke möglichst wenig mit ihren Wagen. Aber dieselbe Sorte Mensch, welche zu König Heinrichs Zeit ihres Weges zog, war hier auch heute noch bewandert: Holzhauer, Bauern, Soldaten, Schafhirten, der Landdoktor, der Landpastor, Landmädchen und überhaupt junge Menschen ohne Ziel, alle Jahrhunderte vielleicht ein Dichter, sehr viel öfter Musikanten, Händler, Bettelmänner und Verfolgte, die im Laufen hinter sich blicken müssen, Verfolger, die schnaufend gradeaus sehen dürfen . . .

»Ei, ei«, murmelte Herr Kortüm, »was für ein Heidentum.«

Für die erholungsbedürftigen Herrschaften war im neuen Flügelhaus gesorgt mit Fremdenzimmern, Bädern, Schreibzimmern und einer großen Diele, in der man auch bei Regenwetter reden konnte. Was aber soll aus den nicht erholungsbedürftigen Leuten zwischen der Biskaya und Taschkent werden, wenn Sonne und Staub ihre Kehlen dörrt oder Nacht sie unversehens überfällt?

In Kortüm hatte sich der pflichtbewußte Wirt geregt. Der Bleistift war von der Tischkante gerollt und Herr Kortüm schließlich aufgestanden und durch die Räume des Flügelhauses gewandert, bis in das letzte Nordzimmer des neuen Flügels. Wo setze ich die Leute hin, die keine Diele mit Palme brauchen? Die sich ohne allen Komfort unterhalten? Die keines Schreibzimmers bedürfen zum Hinschmieren ihrer merkwürdigen Notizen? Die nur Tisch und Stuhl verlangen, Trunk und Bissen und entweder gar keinen Nachbar oder einen ihrer Sorte, mit dem sie drei Stunden schweigen oder lachen können? Und wohin mit denen, die sich, wenn es Abend wird, vorsichtig aus der Gesellschaftsdiele drücken? Mit Leuten wie diesem Doktor Windhebel, der grade wieder zu Gaste war? Wohin, bei Gott, zu mancher Stunde auch mit, hm, mit ihm selber?

351 Herr Kortüm dachte scharf nach. Nicht zu nahe an die Diele und das Schreibzimmer. Solche Menschen benehmen sich beim Durstlöschen manchmal laut und stören dann die Unterhaltung der erholungsbedürftigen Herrschaften. Aber auch nicht zu weit – die Bedienung wird sonst zu beschwerlich. Anbauen? Gott soll mich bewahren! Herr Kortüm überlegte hin und her und wußte zuletzt seinem Hause keinen besseren Rat, als dieses Endzimmer des Flügelanbaues samt der Nebenstube zunächst probeweise als Gastraum zu erklären. Er ließ den Zugang zum Flur vermauern, eine Tür ins Freie schlagen und über dieser Tür eine Laterne aufhängen.

Mißtrauisch hatten die Einwohner das Ding eine Weile von weitem besehen. In Kortüms Abwesenheit waren sie nähergerückt, zögernd eingetreten und hatten einen kleinen Korn verlangt. Sie guckten sich nach allen Seiten um, rochen in die Luft und forderten einen großen Korn. Dann jedoch begannen sie Platz zu nehmen. Die Sache schien nicht schlecht. Sie lebte sich ein. Herr Kortüm besah nun seinerseits nachdenklich das doppelte Gesicht des Flügelhauses: welches ist das richtige Gesicht? Welche Gäste sind die richtigen? Er wog im Geiste seine Gäste, aber er konnte sich nicht klar werden, in welcher Waagschale die zu leicht befundenen und in welcher die Gäste von Gewicht saßen. Jene Herrschaften, die er in der Regel nach ihren Zimmernummern bezeichnete, weil er sie sonst leicht verwechselte, wogen nach Markstücken berechnet voll und gut und echt – die andern mit ihrem Korn, ihrem Hellen, ihrem Moselschoppen, auch wohl mit ihrer Flasche Rot, die trugen die Kosten des Flügelhauses wahrlich nicht. Aber die Konversationsdiele: trug die den Ruhm des Flügelhauses? Immer wieder fand Herr Kortüm, daß die besonderen und merkwürdigen Köpfe unter den Zimmernummern Eins bis Achtundvierzig in der Diele gähnten, sich nach dem Ausgang umsahen, diesen überraschend zu gewinnen und sehr bald den Eingang unter der Laterne zu finden wußten, um in den schlicht tabakbraun getünchten Räumen für manche gute Stunde zu verschwinden. Verheiratete Herren nannten diesen Abgang, wenn die Gattin fragte: wohin noch? einen kleinen Abendgang tun. Unverheiratete sagten einfach: zu sich kommen.

Weil also der Herr und Meister des Flügelhauses nicht klar werden konnte, in welchen Zellen dieses so verwickelt gebauten Lebewesens »Flügelhaus« denn nun eigentlich die lebendige Grundsubstanz zu finden war, die aus eigner Kraft sich bewegend neue Gästezellen ohne Kortüms schöpferische Nachhilfe zuwege brachte, wo also im 352 Flügelhaus es lebte – weil diese Frage Herr Kortüm noch nicht beantworten konnte, so beschloß er, sie aller Welt als eine offene Frage vorzulegen: er beauftragte den Steinmetzmeister Hanke in Besenroda, das Bild einer Goldwaage in ein gutes Stück Sandstein zu meißeln, darunter die Worte »Zur goldenen Waage« zu setzen und über der Eingangstür ohne Beschädigung des neuen Putzes sauber einzulassen. Gut beleuchtet von der Laterne darüber fand sie bald jeder, der hineingehörte, obgleich Kortüms »Goldene Waage« nicht unmittelbar an der Landstraße Biskaya–Taschkent lag, sondern gesucht werden wollte: von der Straße führte erst ein schmaler Pfad zwischen Fliederbüschen und dem westlichen Flügelanbau hin zu ihrer unscheinbaren Pforte.

Gerade in diesen Tagen war es Herrn Kortüm vergönnt, den Erfolg dieser Gründung zu erleben: durch einen Anschlag hatte er bekannt gemacht, daß die »Goldene Waage« leider für vier Tage geschlossen werden müsse, da die Räume der World als Sitzungszimmer dienen sollten. Die Gäste würden gebeten, so lange gütigst im Hofe Platz zu nehmen. Die Nächte seien angenehm warm, und Tische sowie Stühle ständen am Püsterichbrunnen bereit. Er bäte jedoch, sich dort möglichster Ruhe befleißigen zu wollen.

Die World ginge sie einen Dreck an, sagte Hiebrich, sagte Albrecht, sagte Kuffert, sagte sogar Doktor Windhebel. Kortüm hatte mit der Beschwichtigung seiner erst jenseits der Diele zu sich kommenden Gäste nicht weniger zu tun als Monich mit der Besänftigung des sonstigen ungewogenen Volkes zwischen Biskaya und Taschkent: die so weitberühmte World störe ja nicht nur, sie verspreche eine noch gar nicht abzusehende Menge von interessanter, hierorts nie erlebter Abwechslung, die für jedermann nur belehrend sei.

Die Waagegäste antworteten hierauf zunächst nichts, schnüffelten nur ein bißchen und warteten.

Kortüm aber prüfte die zum Sitzungsraum gewandelte Gaststube, zog die grüne Decke glatt über die zu einer langen Tafel vereinigten Kneiptische. Er rückte an den Stühlen, stellte die Schreibzeuge in eine gerade Reihe, sah nach, ob Tinte vorhanden war. Hin und wieder horchte er. Die Wagen mußten auf der schlechten Straße langsam fahren, aber nun konnten sie nahe sein. 353

 


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