Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die Sachen

Wenn der viele Lärm dieses Buch nicht aus den Fugen zu bringen drohte, müßte eigentlich auch dieser Bericht über Klaus Scharts Berliner Taten mit einem Sprengschuß oder wenigstens mit einem Salutschuß eröffnet werden. Klaus führte sich auf, als ob ihn der Salut der World über sämtliche Mumien und was sonst an Herrlichkeit um seinen stillen Wohnbezirk aufgehäuft war, so hoch hinausgetragen hätte, wie seinerzeit die Kanonenkugel den Baron Münchhausen über dessen fragwürdige Umgebung. Doktor Halfke schrieb im Austrag des Chefs der Produktion, die World sei zufrieden mit seiner Leistung, erteile ihm hierdurch den Auftrag, das Drehbuch zu schreiben, und Herr Utzenstorff erwarte Klaus Schart heute abend acht Uhr dreißig Minuten bei Dreihub – Dreihub am Kurfürstendamm, im dritten Raum vom Eingang aus gerechnet, in der sogenannten fraisfarbenen Stube.

Gegen acht Uhr stieg Klaus an der Gedächtniskirche aus dem Omnibus. Wenn er nicht gerade tief Luft holte an den vergasten 554 Straßenübergängen, wo die Autoherden auf das grüne Signal warteten, atmete er eine zarte Abendluft ein, die selbst der beurlaubte Schulmeister aus Hörsel hinterm Wald hinter Eisenach für den Odem des Monats Mai halten konnte. Auch das rote, gelbe, blaue und weiße Licht der blitzenden Lichtreklamen der Stadtwildnis war er inzwischen gewohnt. Es verwirrte seine Augen nicht schlimmer als das ungewisse Mondlicht, das im weglosen Walddickicht seiner Heimat auf nassen Blättern spiegelt. Nur das beängstigende Summen des Berliner Föhns griff ihn an; Lärm konnte er das unheimliche Sausen nicht nennen, dieses pausenlose Rauschen der Gummireifen auf den Fahrbahnen und das schwebend gleichmäßige Menschenmurmeln, das selten etwas anderes unterbrach als das Quietschen des Eisens auf Eisen, wenn das neunzehnte Jahrhundert in Gestalt der elektrischen Straßenbahn gepoltert kam.

Klaus ging ein Stück dammauf, dammab, besah die köstlichen Schaustücke in den Läden und machte sich vor manchen Dingen Gedanken, wozu der Mensch so etwas wohl brauchen könne. Kitty erhellte ihm allerlei dunkle Flecke im Antlitz Berlins. Sie tat es gern und wußte viel. Das gute Kind war ihm dankbar. Auf Klaus Scharts Empfehlung durfte sie eines Tages in der World erscheinen, in schwarzem Kleid und weißem Häubchen einer Dame den Tee ans Bett bringen und Guten Morgen sagen. Täglich erwartete sie nun die Zuteilung der Rolle als Zofe der Sconosciuta. Aber Klaus begegnete auf dem abendlichen Kurfürstendamm vielen Leuten, die hier auf ihre Rolle zu warten schienen.

Die Uhr zeigte fast halb neun. Für den erfolgreichen Autor der World war es nun so weit, daß er seine Antrittsvorstellung im Mittelpunkt der feinen Welt bei Dreihub gab. Die auffallend schlichte Vorderseite des Hauses machte ihn irre, jedoch ein riesiger Hummer in dem Glaskasten neben der Tür, eine Kaviardose und eine Schale mit Weinbergschnecken deuteten auf ein nicht gleichermaßen schlichtes Hausinnere. Bedenklich sah Klaus das Schneckenungeziefer an, aber er sprach zu sich: »Und ich fresse es doch, wenn's sein muß.«

Wie man der Garderobefrau nachlässig Hut und Sommermantel in die Hände gleiten läßt, hatte er schon öfter bei hervorstechenden Persönlichkeiten in der World beobachtet. Es gelang ihm. Die Frau merkte nicht, daß da einer zum ersten Male kam. Im vorderen Raum war es noch fast leer, im zweiten mußte sich Klaus schon Mühe geben, die gelassene Haltung zu bewahren. Hier saßen Herren in Gesellschaftskleidung und Damen, die im wesentlichen nur ihre Vorderseite bekleidet 555 hatten. In der Mitte des Raumes stand ein Herr im Frack, eine ernste Hornbrille vor den Augen. Klaus hielt ihn für etwa einen ausländischen Staatssekretär. Von einer Filmprobe her glaubte er zu wissen, daß solche Männer ungefähr so aussehen. Eichenholz und Rindleder gab den beiden ersten Zimmern ein würdiges dunkles Äußere, das dem Ernst entsprach, mit dem man hier speiste. Aber jetzt schob ein wunderbar uniformierter junger Mensch den Vorhang beiseite – Klaus betrat den Fraisraum. Die Wände und Teppiche schimmerten im gleichen sanften Erdbeerton wie die zum Platzen aufgeschwollenen Polster und Kissen.

»Mm«, sagte Utzenstorff und winkte.

In den Polstern ruhte Violante Sconosciuta – märchenhaft angezogen. Was ihr an Kleidungsstoff fehlte, hatte sie durch Parfüm ersetzt.

Klaus konnte an diesem Tisch auch Doktor Halfke begrüßen. Er bekam die Hand gedrückt von einem Herrn der Misr Film Company Gizeh-Kairo. Er neigte sich ehrfurchtsvoll vor einer sehr alten Dame mit steinern unbewegtem Gesicht, erlebte jedoch nach wenigen Minuten, daß diese Dame die unwahrscheinlichsten Anekdoten erzählte, ohne den starren Ernst ihrer Gesichtszüge dabei im mindesten zu verändern.

»Sie sind zum erstenmal bei Dreihub?« fragte Utzenstorff. »Es ist hier so: in den sachlichen vorderen Räumen ißt man, wenn man speisen will. Unserer hochverehrten Sconosciuta hat es jedoch gefallen, frais und indirektes Licht zu befehlen. Herr Samoroff!« Der auswärtige Herr in Frack und Hornbrille erschien und überreichte dem Chef der Produktion ein ansehnliches Manuskriptbündel, in dem Utzenstorff sehr gewandt blätterte und eine Reihe von Speisen und Getränken fand, die Herr Samoroff zunächst in Auftrag nehmen wolle – einige Kleinigkeiten, die man zwanglos vorweg zu sich nimmt. Klaus paßte gut auf, wie und mit welchen Werkzeugen die anderen dieser Gerichte Herr wurden. Er ahnte nicht, was er aß. Er verstand auch nur wenig von dem, was man in frais und indirektem Licht hier redete. Das Parfüm Violantes war stark, die Weine waren schwer, die Reden wurden mit der Zeit leichter, die Polster blieben tief. Und die Nacht war lang.

Vor Dreihubs Tür, hinter der Gedächtniskirche, begann es zu tagen. Den Himmel verfärbte jenes Bleigrau, das die frühesten Morgenstunden der Weltstädte so adelt. Im Fraisraum schimmerte das gleiche Erdbeerlicht wie seit langen Stunden. Durch Zigarettendunst und 556 Weinnebel leuchtete – ein unwandelbarer Schein seit den Tagen Korinths – dieses ewige Licht nun auch auf diesen Klaus Schart, und er glaubte, in dieser Nacht endlich drinnen gewesen zu sein im Innern von Berlin, vor dessen Ausfahrtsstraßen, ganz draußen, die Bauern um diese Stunde die Pflugschar in die Erde drückten und die Soldaten in Schützenlinie ausschwärmten. Im Traume stand er mit den andern auf. Schwebend ging er mit den andern durch den schlichten Hausflur. Lächelnd stand er mit ihnen auf dem bleigrauen Kurfürstendamm.

Utzenstorffs Chauffeur öffnete die Wagentür.

»Wen kann ich mitnehmen?« fragte der Produktionschef. »Schart?«

»Danke, ich wohne – dort wohne ich, im Zentrum.«

»Wo wohnt er?«

Halfke lächelte. Utzenstorff sah von einem zum andern. »Ja«, sagte Klaus, »wegen der Ruhe. Ich brauche Ruhe beim Schreiben.«

»Dazu wohnen Sie im – Zentrum?«

Eben hatten sich die Herrschaften die Hand gegeben und nach ihren Wagen gewandt. Jetzt traten sie wieder zusammen. Der neue Autor der World mußte eine Schilderung der Einzelheiten geben und hatte damit fast noch mehr Erfolg als mit seinem Filmentwurf. Utzenstorff forderte die Anwesenden auf, gemeinsam nach Scharts Wohnung zu fahren und dort einen letzten Kaffee einzunehmen. Die Sconosciuta aber betrachtete jetzt erst den jungen Mann mit wirklicher Teilnahme. Selbst in diesem bleichen Frühdämmer sah Klaus doch recht sympathisch aus. »Mir kocht er den Kaffee«, sagte sie, stieg in ihren Wagen, zog Klaus am Ohrläppchen nach, und das schöne weiße Auto verschwand in Richtung Halensee.

»Er aber wohnt entgegengesetzt«, bemerkte Utzenstorff nachdenklich und richtete sein Auge nach dem Osten. »Halfke, das geht nicht. Das Drehbuch muß unbedingt zum festgesetzten Termin fertig sein. Auf die Weise kriegen wir es nie. Wo arbeitet die Sconosciuta jetzt?«

»Im Atelier.«

»Ändern Sie den Aufnahmeplan: sie wird erst die Freilichtaufnahmen machen.«

»In Usedom?«

»Die Strandaufnahmen. Sofort. Sie sind mir verantwortlich.«

Halfke sorgte, daß Violante anderntags in Usedom filmte und daß Klaus am übernächsten Tage in eine Wohnung mit Fernsprechanschluß übersiedelte, ungesäumt an die Arbeit ging und bei der Arbeit blieb, 557 denn Scharts Gehirn war laut Drehbuchvertrag für fünf Wochen in das ausschließliche Eigentum der World übergegangen. Selten sah Klaus das, was er seit der Dreihubnacht für Berlin hielt. Er lernte, eingeklemmt zwischen Fernsprecher, Auto und Sitzungen, die Arbeit des Drehbuchschreibens kennen. Je weiter er kam, desto schmerzhafter wurden die Störungen. Utzenstorff bestellte ihn zu einer Besprechung ans andere Ende von Berlin, früh halb neun. Um elf Uhr zehn sprach man sich zwischen zwei Ferngesprächen. Aber vor Beginn der Sitzung um acht am Abend könnte man weiterreden. Die heikle Stelle wurde geklärt. In einem leeren Nebenraum schrieb Klaus die Szene um. Müde ging er die Nachttreppe hinunter und stand im Torweg erstaunt still; da hielten die großen Wagen immer noch. Die Fahrer schliefen oder rauchten; die Sitzung beim Chef der Produktion war noch nicht zu Ende.

Benommen von der Arbeit schlenderte Klaus die Straße längs, versonnen blieb er vor dem Schaufenster eines wahrhaft fürstlichen Möbelladens stehen und besah ein ungeheures Rokokobett, aus intarsierten seltenen Hölzern gebaut und von einem blauseidenen Betthimmel überdacht, den eine geschnitzte und bemalte Amorette hielt. Solche Betten kaufen sie, dachte Klaus, aber in solchen Sitzungen wachen sie nachts, damit sie diese köstlichen Betten bezahlen können. Wenn die Arbeitskraft lahmt, fliegen sie durch die Luft in Hotels, die auch so aussehen wie das Bett da. Und wenn das Ausruhen am Ende nicht mehr hilft, kaufen sie sich ein Grabmal, das wieder ungefähr so aussieht wie das Bett, nur statt Amorette die Aschenurne drauf. Und das genügt ihnen? Es geht ihnen prächtig, ja, aber sie ruhen nicht in ihrer Pracht. Sie arbeiten. Teure englische Anzüge ziehn sie dazu an, Nerz im Winter, japanische Seide im Sommer; sie lächeln, sie geben lächelnd ihren Dienern Hut und Mantel. Lächelnd überfliegen sie in den Büros die Eingänge, wenn ihnen jemand dabei zusieht; aber die Finger zittern nervös, wenn sie in den Papieren blättern. Nacht für Nacht scheinen sie bei Dreihub zu sitzen, aber bei Dreihub ist gar nicht so viel Raum: sie arbeiten. Und wenn sie allein sind, verschlucken sie Chemikalien, damit sie lächelnd von der Arbeit aufstehn können. Sie sagen einer Frau Verbindlichkeiten und denken an die ungeheure Steuerrate, die nächste Woche fällig ist und noch rasch erarbeitet sein will. Auf holländisch Bütten mit Mattgoldschnitt notieren sie Zahlen. »Und wenn ich mich nicht sehr irre«, sagte Klaus laut vor sich hin, »schreiben sie im ganzen gesehen nichts andres, als die Leute in 558 Besenroda und Hörsel auch aufschreiben, nur auf Holzpapier ohne Goldschnitt und mit weniger Nullen hinter den Zahlen. Ja, sollte das, was sie hier immer ›Die Sache‹ nennen, sollte das hinter dem Menschen stehen wie die Nullen hinter den Zahlen? Und der Mensch? Der lächelt.« Klaus dachte an sein eigenes Bett, das ohne Intarsien, ohne Himmel und Amorette auf den Todmüden wartete.

Aber es kam anders. Als er das Licht einschaltete, fand er auf seinem Tisch ein Stadttelegramm: »Sobald Sie diese Depesche finden, bitte zu mir. Auch nachts. Dringend. Halfke.«

Beim Eintreten wünschte Klaus dem Doktor Halfke nicht »Guten Abend«, sondern grimmig auf die Uhr zeigend, wahrheitsgemäß »Gute Nacht«, und legte sich auf Halfkes Sofa, dem Zimmer und seinem Insassen den Rücken zuwendend.

»Hm«, meinte der mit einem interessanten, gelbblau gestreiften Schlafrock angetane Doktor, »Sie irren aber doch. Wir haben nicht mehr Nacht. Es wird bereits hell. Also guten Morgen, Schart. Wo, Verzeihung, haben Sie sich übrigens bis jetzt herumgetrieben?«

»In der World!!« schrie ihn Klaus an und sprang auf.

»Ausgezeichnet. Das hört man gern. Bleiben wir also in der World. Hören Sie gütigst ein wenig zu. Es hat sich herausgestellt, daß im letzten Drittel des Films ein dramatischer Effekt fehlt. Etwa so – ich rede in Hausnummern: Nacht –«

»Es ist Morgen!«

»Nacht! Vielleicht Gewitter. Die riesigen Mauern des Stauwerkes. Der Ingenieur kommt. Sieht sich um. Dreht das Stellrad –«

»– der Donner kracht, Blitze zucken«, unterbrach ihn Klaus zornig.

»Ganz recht. – Jetzt ein Schrei. Der Schleusenwärter stürzt heran: meine Frau ist auf der Talsohle! Halt! –«

»Wecken Sie die Nachbarn nicht auf!«

»– der Ingenieur aber reißt mit unmenschlicher Energie das Rad ganz herum, das Wasser braust. Bitte: hochtragisch.«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Halfke.«

»Lächerlich? Das ist Seelenmassage fürs Publikum.«

»Die Frau des Wärters ist ein Mensch, der lebendig gemacht ist. Der lebt, Halfke! Wie kann ich diese Frau mir nichts dir nichts ertrinken lassen wegen Ihrer Effekte! Diese Frau!«

»Frau. Diese Frau. Sie reden manchmal, als ob die Spielfiguren Ihre Angehörigen wären. Film, Schart! Praktische Kinematographie!«

»Ah! Der Film ist wohl auch eine Sache, wie?«

559 »Bitte?«

»Und Rokokobetten sind Sachen –«

»Sagen Sie mal, Sie kommen wohl gar nicht aus der World? Rokokobetten . . .«

»– und Dichtung ist eine Sache, ja? Sie sind eine Sache!!«

»Eine lebendige«, nickte Halfke freundlich.

»Lebendige Sachen . . .« Klaus sah den Doktor Halfke jetzt geradezu verächtlich an.

»Die sind in Summa: das Leben.«

Klaus starrte den Assistenten an, der seelenruhig einen Löffel voll gemahlenen Kaffee in eine komplizierte kleine Maschine schüttete: »Sehn Sie mal. Espresso. Das Ding habe ich mir aus Italien mitgebracht. Ohne diese glorreiche Erfindung würde ich nur rund die Hälfte meiner sogenannten Tagespflichten getan haben. Da«, er zeigte zum Fenster, »da kommt der neue Tag.«

Klaus öffnete das Fenster. Stumm sah er auf die Stadt. Halfke wohnte hoch. Weit über die Dächer ging der Blick. Ein Turm, eine Gasanstalt, die Lichterketten unendlicher Straßenzeilen. Und Dächer, Dächer, Dächer . . . plötzlich sah Klaus Berlin, das ganze Berlin, das nicht Linienstraße war oder Dreihub oder Kuckucksgrund oder Fabrik oder World oder geheime Arbeit mit zusammengebissenen Zähnen Nächte durch. Klaus sah – nicht das Werden sah er – er sah Berlin: diese Summe des Gewordenen, des Getanen, des Geleisteten. Er sah mit einem Male diesen Akkumulator der getanen Tat und des gedachten Gedankens. Er fühlte den metallenen Maßstab an seinem Fleisch, den kühlen aber, oh ja! den zuverlässigen Maßstab, mit dem hier gemessen wird. Und Klaus begriff: dieses Maß irrt nicht. Klaus fühlte das Geheimnis der Riesin Berlin; diese Stadt hält sich an nichts als das Meßbare und baut sich auf, gewaltig, aus Meßbarkeiten: aus Sachen, aus Gewordenem.

Und im selben Augenblick fühlte Klaus Schart das Unmeßbare in sich und seinesgleichen, das Dunkle, das ewig Werdende. Er sah seinen toten Vater wirken, seine gestorbene Mutter wesen, litt Lottes Leiden, Wingens Tod, hörte das gefährliche unterirdische Rollen des Vulkanes Mensch. Wenn es wahr ist, daß der Mensch, der lebende Mensch, der Wirklichkeiten letzte ist, das Menschliche das Wesentliche – war dann Klaus allein in dieser Stadt? Wie Heimweh schnitt diese Frage in sein Herz. Der Löwenzahn mußte jetzt blühen am Hörselufer, ganz gelb der Wiesengrund sein: vor Klaus' Augen die Dächer, die Dächer, 560 die Dächer da unten in sprossendem Löwenzahn, der wuchs, wuchs zu einem Wald von Löwenzahn, glatte wunderbare grüne Stämme; über ihm leuchtete im Sonnenglanz ein maßloser Goldschein.

Klar und scharf sah er in den strahlendurchschossenen Morgenhimmel ragen – blitzend wie Kortüms silberne Doppelmaske im Wind des Schottengeländes – die beiden wechselnden Gewalten, die in Wahrheit um die Erde ringen: den lebenden Menschen, das ewige Werden – und das Gewordene, die Sachen, das statuarisch lächelnde Haben. Die Kinder Gottes schaffen, und was sie schaffen, dessen müssen sie sich erwehren auf Tod und auf Leben: damit sie werden können, leben, wirklich sein können.

Vier Stunden hatte Klaus an diesem Morgen geschrieben. Das Telephon zerklingelte klirrend den schweren Dialog, den er eben zu haben glaubte. »Unmöglich so!« rief die World, »wenn das Mädchen den Toten findet, darf es nicht bloß aufschreien, sondern muß etwas sagen!«

Etwas sagen . . . Er warf die Feder hin und ging einen Teller Suppe irgendwo essen. Als er wiederkam, fand er einen Zettel: »Den Satz, der die gefälschte Unterschrift enthüllt, in die zweite Liebesszene einbauen.«

Klaus strich aus, schnitt aus, klebte an, schrieb: »Kind, sei vernünftig . . .« Er vergaß, wie er weiterschreiben wollte, und schrieb in dem Manuskript weiter: »Sehr geehrtes Fräulein Müller und lieber Herr Schmidt, wenn Sie im Parkett sitzen, sich zurücklehnen im Samtsessel, den Sie für eine Mark gemietet haben, wenn Sie die Cellophantüte aufknaupeln, die gebrannten Mandeln in den Mund stecken und gelassen die Personenliste lesen, die da über die weiße Wand gleitet, vergessen Sie freundlichst nicht die schlaflosen Nächte, die auch ein mißlungener Film gekostet hat, die Sorge und Qual – aber essen Sie weiter. Lassen Sie sich's gut schmecken und sagen Sie zum Schluß: na ja. Hinterher erholen Sie sich im Café Corso. Dort spielt eine Kapelle, so lustig, daß man nicht denken sollte, wie solche fidelen Musikanten so viel Sorgen mit dem Geigenkasten auf der letzten Elektrischen Richtung Alexanderplatz fortschleppen können. Und dann kommt die Nacht, ja – der übriggebliebene Nachtrest. Halb sieben rasselt der Wecker und nun – geht's Ihnen bei Tageslicht, bis zum Beginn der Großstadtnacht, wie's der andern Schicht erging bei künstlichem Licht.« Diesen und anderen Unsinn schrieb der übermüdete Mann. Dann kroch er fröstelnd in sein Bett.

561 Am anderen Morgen hob Klaus den Kopf vom Kissen. Er ließ ihn wieder sinken. Wüste Gedanken und Bildfetzen fegten durch sein Gehirn: wir haben Mai . . . wo kommt die Hitze her? Am späten Vormittag wurde Klaus allmählich klar, daß er Fieber hatte.

Der Arzt verschrieb Umschläge, Tropfen, Bettruhe.

Die Wirtin hatte auf Klaus' Bitten zweimal den dringendsten Anrufern am Fernsprecher gesagt, Herr Schart könne nicht an den Apparat kommen. Gegen Elf stand Halfke an Scharts Bett, sah betreten den Kranken an und sagte: »Bleiben Sie ruhig liegen. Ich gebe Ihr Manuskript Graumann. Sie brauchen gar keine Sorge zu haben.«

»Halfke, morgen bin ich wieder gesund. Nehmen Sie mir mein Buch nicht weg.«

»Die Verträge, Schart. Es eilt.«

»Einen Tag.«

»Wenn das Utzenstorff merkt, bin ich draußen.«

Halfke nahm es auf seine Seele. Klaus erschien in einer entscheidenden Korrektursitzung nicht, Halfke redete ihn heraus.

Am Abend vor seiner Erkrankung hatte Klaus durch das steinerne Meer Berlin hindurch auf den Grund dieser Stadt gesehen. In Augenblicken beginnender körperlicher Wehrlosigkeit liegen die Nerven bloß, die Reizschwelle senkt sich, dem inneren Wesen selbst scheinen Sinne zu eignen, und der Mensch sieht mehr, als er nach der Erfahrung zu sehen berechtigt ist. Unbedeutende, aber glücklich ineinander greifende Erlebnisse hatten in jener Stunde zwischen Rokokobett und Espressomaschine Klaus' Seele gelockert – unbewußt fiebernd bereits hatte er sich stehen sehen in Vierdreiviertelmillionen mitten drin. Jetzt aber war sein Körper wirklich wehrlos, Klaus konnte nichts tun als krank sein, und nun bestätigte sich jener vorweggenommene Einblick; vollkommen einsam lag er auf einer Matratze zwischen Sachen und Sachmenschen. »Wenn ich sterbe, wer merkt es?«

Halfke mußte am anderen Tag melden, daß der Autor des Drehbuchs »Der Staudamm« erkrankt war. Utzenstorff sprang auf: »Das hat gefehlt!«

»Aber das Drehbuch ist ausgezeichnet und noch vierundzwanzig Stunden Risiko wert.«

»Sie haben gut reden. Aber ich! Wenn die Termine umfallen, bin ich dran.«

Aber Utzenstorff gab seinem guten Herzen einen Stoß und bewilligte einen weiteren Tag, ehe neue Entscheidungen hinsichtlich Abgabe des 562 Drehbuchs an einen anderen Autor getroffen werden sollten. Klaus durfte also weiterfiebern, Löwenzahnbäume am Hörselufer wachsen sehen und ruhig im Bette liegen bleiben. Von dem gefährlichen Gespräch in der World ahnte er nichts. Erst später erfuhr er, daß Utzenstorff sogar nochmals vierundzwanzig Stunden zugelegt hatte.

Klaus war todmüde. Am vierten Tag der Krankheit schlief er immer noch den dumpfen Schlaf des Überarbeiteten, den sich der Grippebazillus als willkommenen Nährboden ausersehen hat. Stundenlang hatte er Ruhe im Unbewußten, dann lag er eine Weile in halbwachem Dämmer. Ein vertrauter Duft umschwebte ihn. Wo war das nur? Klaus lächelte, aber er konnte sich nicht besinnen. Dufteten die blühenden Haselbüsche in Hörsel so? Ohne den Kopf zu wenden, schlug er die Augen auf; an seinem Tisch saß jemand. Ein Damenmantel hing über der Stuhllehne. Die Sconosciuta, dachte er. Ist sie zurück aus Usedom? Und gleich besucht sie mich. Es webte vor seinen Augen, er ließ sie wieder zufallen; er sog den zarten Duft ein, er kannte ihn doch. Da war ein Brokatsessel, ja, und das Ilmwehr rauschte. Klaus öffnete die Augen: da saß . . . an seinem Tisch saß Konstanze. Ihr Hut lag auf den Büchern, sie hatte den Kopf in die Hand gestützt. Eine Weile lag Klaus wieder mit geschlossenen Augen. Er versuchte zu denken, dann zu sehen; sie war es. Konstanze las in seinem Manuskript, hatte den Bleistift in der Hand. Jetzt schrieb sie etwas. Blätterte, schrieb wieder, lächelte dabei.

Klaus drehte den Kopf zu ihr hin. Konstanze sah auf. Sie sahen sich an.

Seine Augen blickten klar, sie fühlte das, warf den Bleistift hin, kam zu ihm, setzte sich auf den Bettrand, die Arme auf die Kissen gestützt. Klaus' Kopf lag zwischen ihren Händen.

»Ich stecke dich an.«

Konstanze schüttelte den Kopf: »Hast du Schmerzen?«

»Durst.«

Sie gab ihm das Glas.

Klaus wollte sich aufrichten. Aber Konstanze drückte seine Schulter auf das Kissen und hielt ihm das Glas an die Lippen. Er trank und blickte ihr dabei unverwandt in die Augen.

»Wo kommst du her?«

»Dein Name läuft einem schon ein bißchen entgegen, wenn man gut hinhört.«

»Gott sei Dank, daß du da bist.« Er atmete tief auf. Konstanze 563 lächelte. Vielleicht ahnte sie, wieviel Erlebnis wohl diesen neuen Einwohner Berlins so aufatmen machte. »Aber dein Buch wird gut.«

»Es wäre anständig geworden. Nun kriege ich's zum Termin nicht mehr zustande. Es entgleitet mir. So geht es.«

»So geht es nicht, Dummerling.«

»Utzenstorff kann nicht länger warten.«

»Er kann. Ich fahre zu ihm.«

Klaus schüttelte den Kopf.

Konstanze hob den Kopf und sagte ein bißchen von oben: »Wir leben bekanntlich in einer Welt des Schauspielers . . .«

»Das hat sie nicht vergessen!«

»Eine solche Schlechtigkeit vergißt man nicht. Ich fahre zu Utzenstorff und sage ihm, daß mir die Rolle der Octavia gefällt und daß ich sie spielen will.«

Mit einem Ruck richtete sich Klaus hoch: »Du?«

»So bleib doch liegen.«

»Du?!«

»Wenn du Lärm schlägst, spiele ich nicht.«

An diesem wunderbaren Maiabend begab sich der Chef der Produktion der World zu Dreihub, und zwar allein. Er ging nicht in den Fraisraum. Utzenstorff nahm Platz im Rindlederzimmer, ließ rings um sich auftischen und aß in der festen Absicht, heute endlich einmal wieder zu speisen. Der Produktionschef hatte allen Grund, an diesem Abend auf sein Wohl zu speisen und zu trinken. »Dieser Erfolg ist – ja, ist eine Sache«, murmelte er und sagte viel damit, denn eine höhere Lobpreisung kann ein Berliner nicht spenden. »Bei Gott, das ist eine Sache«, sprach er noch einmal.

Zärtlich lag beim Speisen sein Blick auf der dicken Schlagzeile in der Abteilung »Kunstnachrichten« des Abendblattes: »Konstanze Schröter filmt!« Dann ging es weiter: »Sie hat die Rolle der Octavia in dem neusten Drehbuchwerk Klaus Scharts übernommen. Es ist dem Chef der Produktion der World gelungen, endlich die große Künstlerin für den Film zu gewinnen! Wie man hört, ist Schart –«

Ach ja, Utzenstorffs Stern . . . er glaubte an ihn. Wie er da strahlte in frischem Glanz. »Mmm.«

Und Utzenstorff winkte dem Kellner: »Lassen Sie mir den Geflügelsalat ganz wie damals zubereiten – Sie wissen? Nur Champignons.«

Der sachverständige Vertraute der diffizilsten Gäste Dreihubs hob 564 nur das Kinn ein wenig. Einen Salat aus den Bruststücken dreier Hamburger Kücken serviert ein Samoroff einem Utzenstorff selbstverständlich nur mit Champignons, allerdings ein wenig getrüffelt: die gezüchteten Pilze gewinnen durch einen Hauch Périgord.

Der Frühling wälzte den alten Adam um. Die Birkenzweige wehten. Viel Frühlingswehen atmete Klaus nicht ein. Er sah noch blaß aus. Aber er arbeitete wieder. Anfang Juni trieb der Phlox dicke Knospendolden, und der erste Rittersporn begann zu blühen. Mitte Juni aber mochte es blühen oder nicht: Klaus war frei. Das hieß: ein Abendblatt brachte sein Bild, ein Mittagsblatt besprach Scharts Gedichte, und ein Morgenblatt druckte eine Novelle von ihm ab. Der Verleger Osthoff fragte an, ob er vielleicht an einem Roman arbeite. Ein Mann, der gerade dabei war, aus zwölf Büchern das dreizehnte zu machen, bat Klaus um die hochdramatische Schleusenszene für sein Sammelwerk; Honorar dürfe der Autor allerdings nicht erwarten, aber der Beifall einer breiten Leserwelt sei ein edleres Entgelt als schnödes Gold. Halfke vertraute Klaus an, man habe gehört, jemand solle gesprächsweise geäußert haben, daß man sich in München erzähle, in Königsberg käme ein neues Werk heraus, das Schart eben in Frankfurt am Main für das Theater in Breslau geschrieben habe, aber Breslau lehne ab, weil Schart in Düsseldorf gegen das »Hamburger Abendblatt« intrigiere. Klaus hatte immerhin lange genug in Berlin gewohnt, um darauf erstaunt zu fragen: »Wie haben die Leute das bloß erfahren?« Klaus bekam eine Einladung, in Walkenried aus seinen Werken zu lesen. Er erhielt eine Aufforderung vom Finanzamt, unverzüglich sein Einkommen wahrheitsgemäß anzugeben, andernfalls man ihn belangen werde. Klaus fand auch zwei anonyme Briefe auf seinem Tisch. Aus dem ersten Schreiben erfuhr er, daß die Konstanze Schröter mit einem gewissen Wingen in Weimar heimlich verlobt sei, und das andere Schriftstück eröffnete ihm, Klaus Schart sei ein ganz gewöhnlicher Konjunkturschreiber. Dies alles und noch viel mehr bekam er: Klaus war also da! Klaus Schart war anwesend!

Und eines Tages hielt Konstanzes Auto vor seiner Haustür. Sie rückte auf den Platz neben dem Steuer. Klaus schüttelte den Kopf: »Ich kann nicht fahren.«

»Was? Morgen früh fängst du in der Fahrschule an!«

»Dazu habe ich jetzt keine Zeit.«

»Zeit hat niemand. Aber von sieben bis acht jeden Morgen lernst du 565 fahren«, und gnädig setzte sie hinzu: »Einstweilen will ich dich noch mitnehmen.«

Zoo, Gedächtniskirche, der Damm, die Halenseer Brücke, Grunewald – dann öffnete sich das freie Feld. Durch ein märkisches Dorf fuhren sie mit seinen nüchternen Stadthäusern. Jetzt kamen sie in den Wald.

Klaus beugte lauschend den Kopf vor.

»Ist was?« fragte Konstanze.

»Hörst du's nicht? Kann ein Hinterrad locker sein?«

Auch Konstanze horchte auf verdächtige Geräusche.

»Jetzt wieder«, sagte Klaus.

Sie schüttelte den Kopf, hielt an, sprang aus dem Wagen, besah ihn von allen Seiten. Sie zog den Handschuh aus, betastete die Radschrauben – plötzlich fühlte sie sich von Klaus umfaßt.

»Oh, du Schuft . . .«

Er bog ihren Kopf zurück, küßte sie.

In den Gründen des Waldes schimmerte die Sonne. Ein Sonnenbusch schob sich vor den anderen. Aus der unendlichen Wirrnis von Blättern, Moos und Sonnenstrahlen rief unermüdlich der Kuckuck in die frischduftende Sommerluft.

 


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