Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Mächler

Herr Kortüm hatte für die Reise von Jena aufs Flügelhaus viel Zeit gebraucht. Aufmerksame Leute, wie der Doktor Langloff, kümmern sich vorher um ihre Anschlüsse und reisen schneller. Während Kortüm unter der Linde in Ottstedt seinen Morgenkaffee schlürfte, saß Langloff bereits am Schreibtisch und arbeitete fleißig mit Tinte, Schreibmaschine, Rotstift und Fernsprecher. Am gleichen Abend noch konnte der endlich heimgekehrte Gastwirt die Früchte Langloffscher Tüchtigkeit würdigen. Das erste vollsaftige Ergebnis wurde ihm auf dem Papier des »Anzeigers« überreicht, frisch aus der Druckerei und noch etwas feucht. –

»Bringen Sie mir ein Windlicht«, sagte Kortüm zu Bilmes, der dieser Tage auf dem Schottenhofe scharwerkte. »Auf den Tisch am Püsterich. Ich verstehe nicht, wo sich der Hausdiener rumtreibt. Kaum wendet man den Rücken –«

»Der schafft doch Koffer nach Besenroda nunter.«

»Koffer? Wohin??«

»'s sind doch heute wieder viere ausgezogen. Nach Besenroda nunter.«

»Die Straße«, murmelte Kortüm, »daran ist die schlechte Straße zu mir herauf schuld. Wer in Besenroda wohnt, merkt nichts von ihr.«

432 Bilmes kam. Es wurde Licht. Kortüm entfaltete die Zeitung. Nun sollte er gleich erfahren, daß nicht nur die schlechte Schottenstraße seine Geschäfte schädigte.

In großen Lettern brachte der »Anzeiger« unter der Überschrift: »Die diesjährige Preiskochwoche – ein voller Erfolg!« seinen Lesern folgende Nachrichten: »Mimi Schlick preisgekrönt. Die Kochkunst erobert Neuland. Wir haben wieder essen gelernt. Wie hätte die Preiskrönung der bekannten Diätköchin Mimi Schlick, über deren Verlauf unser in die Feststadt entsandter Berichterstatter Näheres berichtet, eindrucksvoller vor sich gehen können, als daß es gerade ein Vertreter der alten Schule war, der ihr Wirken und Schaffen rückhaltlos anzuerkennen sich gedrungen fühlte, nämlich der in den betreffenden Kreisen bekannte Gastronom Fr. J. Kortüm? Als im Augenblick der Krönung die rauschende Musik einsetzte, als die hervorragendsten Vertreter der Kochkunst der mit einem Schlage in die ihr zukommende Stelle eingerückten Meisterin ihres Faches von Herzen kommende und zu Herzen gehende . . .«

Herr Kortüm las immer noch ganz ruhig weiter. Dann aber kam folgendes: »Für unseren schon von der Natur so überreich begünstigten Luftkurort ist es aber eine besonders freudige Überraschung, daß – wie wir kurz vor Redaktionsschluß aus zuverlässiger Quelle hören – Besenroda ausersehen ist, der Mittelpunkt des Diätkochens zu werden: in aller Stille ist in den letzten Wochen die ehemalige Villa des verstorbenen Glasfabrikanten Hackemann zu einem allen Anforderungen der Neuzeit entsprechenden Pensionshaus umgestaltet und damit einem längst gefühlten Bedürfnis endlich abgeholfen worden. Die Küchenleitung der Pension Hackemann liegt in den Händen der soeben preisgekrönten Frau Mimi Schlick und steht unter ständiger Aufsicht des auf diesem Gebiet als bahnbrechend weit über die engeren Grenzen unserer Heimat hinaus bekannt gewordenen Doktor Langloff.« –

»Guten Abend! Ich habe Sie im ganzen Hause gesucht«, sagte Klaus Schart. Er mußte Kortüm sagen, daß er für einige Tage nach Weimar wolle; Kortüm schien ihn gar nicht zu hören.

»Ein Brief ist Ihnen runtergefallen.« Klaus bückte sich und gab Herrn Kortüm das Schriftstück, oder vielmehr: er legte es in die offene, reglos auf der Tischplatte liegende Kortümsche Hand. Der Herr des Flügelhauses wendete langsam den Kopf, er sah den achtunggebietenden Umschlag an, er wendete das Schreiben um und um: »Ja«, sagte er, »ein Hummer hängt diesmal nicht dran.«

433 »Wer hängt nicht?«

»Sind Sie schon einmal in eine Hummerzange gekommen, junger Mann?«

»Wohin?«

Kortüm hielt wohl eine Antwort nicht für nötig. Er zog die eingeschlagene Klappe des Umschlags heraus. Kortüm las. Es mußte ein langes Schreiben sein. Oder ein fremdsprachiges, Kortüm schien den Inhalt nicht recht zu verstehen. Er gab den Büttenkarton an Klaus: »Herr Schart, bei diesem flackernden Licht . . . die Buchstaben . . . bitte lesen Sie es mir langsam vor.«

Dem Schulmeister verschwammen die Lettern nicht: »Mimi Schlick, verwitwete Radebogen – Doktor Walter Langloff, praktischer Arzt – Verlobte. Besenroda, den . . .«

»So. Danke. Da habe ich doch recht gelesen.«

Klaus legte die Anzeige verwundert auf den Tisch: »Wie rasch die Menschen in einem Ort wechseln. Ich habe doch auch in Besenroda gelebt. Die Namen habe ich nie gehört. Kennen Sie die Leute?«

»Mein Freund – seit heute.«

Der Ton dieser Stimme ließ Klaus aufsehen. Ihm ist was in die Quere gekommen. Man muß ihn aufmuntern: »Also ich fahre morgen nach Weimar. Ich werde Frau Schröter sehen. Soll ich Grüße bestellen?«

»Glückliche Reise.«

»Sie will übrigens bald ins Schottengelände kommen, hat sie mir geschrieben.«

»Wohnt sie auch bei Hackemann?«

Der schläft ja, dachte Klaus. »Also, auf Wiedersehen.«

Kortüm sah ihm nach: »Er geht auch, ja ja. ›Im Stillen‹, steht in der Zeitung. Das haben sie fein gemächelt. Hinter den Kulissen.« Jetzt begriff er, warum am Tage seiner Abreise nach Jena plötzlich außer Frau Schlick auch die Zimmernummern sechs, neun, vierzehn und dreiunddreißig abgereist waren mit der Weisung, ihr Gepäck nicht zur Bahn, sondern nur nach Besenroda zu bringen. Und von den naturverbundenen Gästen, die er beim Streit um den Kortümweg so geschickt mundtot gemacht hatte, waren auch drei Nummern beim Kofferpacken. Ja, ohne Zweifel: er, der Herr Kortüm, hatte gestern nicht nur einer bedrängten Dame auf einem girlandenbekränzten Podium ritterlich Platz gemacht, hatte nicht nur einem Marktplatz Schweigen befohlen und die Festkochwoche gerettet – er hatte ganz offenbar auch dem ihm viel näher liegenden Kurort von einem längst 434 gefühlten Bedürfnis abgeholfen. »Hoch!« hörte er in weiter Ferne rufen, »hoch!«

Kortüm glaubte allein zu sein und murmelte vor sich hin. Er sah sich auf dem Schottenhof stehen, sah Langloff Sohn, Langloff Vater, Mimi Schlick, seine entfernte Verwandtschaft sah er dastehen. Die Angeklagten etwas zurück, so. Der Kläger bitte. Ein Herr Kortüm, ja. So ging die murmelnde Verhandlung eine Weile hin. Bilmes kam zurück, wollte ihm sagen, der Hausknecht sei noch nicht da. Er hörte Kortüm vor sich hin reden. Er trat ihm näher. Noch einen Schritt. Jetzt stand er neben dem Stuhl . . . »Aber«, murmelte Kortüm, »der Kläger zieht seinen Antrag zurück. Kortüm hat seine Existenz wieder ein Stück näher an die menschliche Natur gerückt. Er klagt diesen Ruck nicht ein, nur was seinen Atem betrifft, den Lebensodem, hoher Gerichtshof . . .«

»Unsern Odem«, sagte Bilmes und legte seine Hand sachte auf Kortüms Rockärmel, »den muß unsereiner festhalten. Wenn er raus is, kriegt man ihn nich wieder. Die Luft kann man nich anfassen.«

Herr Kortüm war gar nicht erschrocken. Er lächelte sogar ein wenig, als er Bilmes ansah: »Evangeliste . . . Sagen die Leute nicht so zu Ihnen? Ja, die Luft können wir nicht fassen.«

Kortüm erhob sich. Hinter dem Lohberg breitete sich am Himmel weißliches Licht aus. Der Mond mußte grade hinter dem Gipfel stehen. Kortüm nickte nachdenklich: »Viel zu schnell wird Luft, was man erlebt. Wir wollen uns heute eine Notiz machen. Ich vergesse zu leicht. Da oben« – er zeigte nach dem Lohberggipfel – »wollte ich schon immer ein Zeichen aufstellen. Eine Landmarke. Ich hatte nur immer keinen passenden Stein. Jetzt liegen da die Bruchsteine vom Terrassenbau. Kommen Sie, Bilmes. Ich zeige Ihnen, wie sie stehen sollen.«

»Diese Nacht?!«

»Morgen mörteln Sie die Steine fest. Morgen habe ich aber keine Zeit. Morgen ist ein saurer Tag. Ich habe Ihnen rasch gesagt, wie es sein muß.«

Bilmes ging verwundert hinter Kortüm her den schmalen steilen Pfad zwischen den Tannen empor zur Höhe. Kortüm zeigte genau die Stelle am Absturz des Berges: »Mannshoch. Nach oben zu spitzer. Eine steinerne Nadel, Bilmes. Man soll sie sehen bis nach Weimar hin, wo Frau Konstanze Schröter wohnt.«

»Spitz nach oben? Dann zeigt sie da naus«, nickte Bilmes.

Herr Kortüm folgte dem Finger des Evangelisten. Er mußte den Kopf weit zurücklegen. »Ein schöner Stern. Der da – der dort auch. Und wie still! Sagen Sie, Bilmes, die Leute haben sich den lieben Gott doch immer als einen Mann gedacht?«

»Als 'n alten Mann, Herr Kortüm.«

»Soso. Und nun warten sie auf Antwort. Da können sie lange die Ohren aufsperren. Alte Männer wissen viel zu viel. Die antworten auf nichts. Aber die Gottheit« – Kortüm reckte den Arm aus nach dem Sternbild des Großen Bären und wischte mit der Hand gewaltig über den glitzernden Himmel, beim Benetnasch beginnend – »die Gottheit als ein Weib gedacht«, rief er, den Polarstern streifend und bis zur Cassiopeia hinüber und bis zum Stern Algol ausgreifend, dem geheimnisvoll veränderlichen am Himmel einer Welt, die aus dem Schoß des Weiblichen geboren wird – nach Herrn Kortüms diesnächtlicher Ansicht.

Unverwandt sah Herr Kortüm die Sternbilder an über der steinernen Nadel, die Bilmes morgen mauern wird. Der alte Evangeliste stand wieder mit offenem Munde da und rückte seinem Brotherrn langsam näher: »Herr Kortüm, mit solchen Gedanken täten Sie besser, wenn Sie nich da nauf guckten, sondern lieber da nunter.«

Kortüm warf nur einen kurzen hochmütigen Blick in die Täler: die lagen sternlos in ihrem Dunst. Bilmes mit seinen Eulenaugen konnte trotz Nacht und Dunst in die Täler hineinsehen, ins Ilmtal dort, ins Esperstedter Tal auf der anderen Seite und in den Flügelhausbezirk auf dem Paßweg zwischen beiden.

Kortüm sagte oft, je älter er würde, desto besser sähen seine Augen. Aber die Mitmenschen gehen ja meistens durch das Dunkel nicht als Sternbilder, nicht einmal als Glühwürmer. Nichts sah Kortüm von ihnen mit seinen guten Augen: nicht, wie Mickewitz von Besenroda nach Esperstedt ging, der alte Langloff aus seinem Esperstedter Hotel in Fischers Gasthof nach Besenroda, Kuffert von Haus Hackemann über den Paßweg in die »Forelle«, der junge Langloff von der »Ilmpost« ins »Esperstedter Tageblatt«, Hiebrich aus seiner Räucherkammer in die Hackemannküche, Fräulein Leibwein zu Frau Schlick, Frau Schlick . . . ach, wenn ihnen der Glühwurmfunken am Hut gesteckt hätte, würde jetzt der Herr Kortüm vom Lohberggipfel aus ein haarfeines Netz gesehen haben, das diese Leuchtspurleute ins Schottengelände zogen, ein ungreifbares Fischernetz ums Flügelhaus.

Herr Kortüm hatte nicht die Augen für die Mächlerspuren im Dunkeln. 436

 


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