Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Aufforderung zum Tanz

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, Halfke! Und mit solchen Dummheiten kommen Sie mir!« Utzenstorff schlug auf seinen Schreibtisch. »Jede gute Wetterstunde brauche ich für die Freilichtaufnahmen.«

»Eben dazu ladet uns ja Herr Kortüm ein. Wir drehn ›Die große Nacht‹ im Schottengelände.«

»Nach dem Leben drehn? Sie sind ein Dilettant, junger Mann. Sie bekommen die Hälfte Gehalt zuviel. Wollen Sie die wichtigsten zweihundert Meter wie eine Wochenschau aufnehmen?«

»Nachtaufnahmen, Herr Utzenstorff.«

»Die brauchen doch erst recht Regie!«

Halfke gab nicht nach. Es habe, wandte er ein, noch nie eine schlechte Wochenschau gegeben. Niemals sei der Film stärker, als wenn er das tatsächliche Leben packe, das ungestellte, das nicht zurechtgemachte. Das könne nur der Film.

»Lassen Sie mich in Ruhe. Wer weiß, was da irgendeiner im Schottengelände für Unsinn anstellt. Ein Maskenfest von Dilettanten, Halfke!«

»Nein – von Kortüm, Herr Utzenstorff.«

»Hm.«

»Natürlich müssen wir vor der Aufnahme wahrscheinlich überall gruppieren, ordnen, ohne daß es jemand merkt. Wir können ja auch 626 die Architekten mitnehmen. Jedenfalls sollte man Nothnagel fragen, was er zu dem Versuch sagt.«

»Versuch . . .« Utzenstorff überlegte. Er lächelte beim Überlegen. Gegen den Andermannfilm damals war er auch gewesen, und doch hatte sich der Bildstreifen glänzend rentiert. Kortüm . . . mit Kortüm eine Maskennacht . . .

»Den Versuch sind die paar hundert Meter Zelluloid wert, Herr Utzenstorff. Pech mit dem Wetter, und uns kann auch die schönste gestellte Freilichtaufnahme flöten gehn. Schlimmstenfalls ist anderthalb Tag verloren.«

»Mm, wer käme mit?«

»Das technische Personal, die Sconosciuta, die Kitty, Lerp, ja – und so an zehn, zwölf Mädchen, aufnahmefähig geschminkt, die der Regisseur fest in der Hand hat und einsetzen kann nach Bedarf.«

»Wir können uns schwer blamieren . . .«

»Wir können eine wunderbare Aufnahme schnappen.«

Herr Kortüm hatte mit Hilfe Lichtermarks nur den Generalplan aufgestellt. Um Nebensachen konnte er sich nicht kümmern. Kortüm ging bloß auf und ab und hatte Gedanken. Mimi schrieb die Einladungen, die Kortüm diktierte. Sinnreich formte Herr Kortüm diese Einladungen: für jeden Gast fand er den besonderen Ton. In der Gattin Langloffs stieg eine leise Ahnung auf von Kortüms Geheimnis, nach dem ihr Mann seinerzeit vergebens getastet hatte. Man mußte diesen Gastwirt eben das tun sehen, was er arbeiten nannte: mit den Händen auf dem Rücken am offenen Fenster stehen, Zigarrenrauch in die heiße Sommerluft blasen und zuweilen das Kinn reiben . . .

Kortüm ersuchte den Amtsrichter Heydenreich um sein Erscheinen beim Maskenfest des Schottengeländes, als ob der Richter auf einem Lokaltermin erwartet würde, der ohne seine Anwesenheit als von vornherein gescheitert angesehen werden müsse. Er lud den Ingenieur Müller zu dem technisch interessanten Versuch ein, eine Nacht lang ohne elektrische Beleuchtung zu tanzen und sich trotzdem nicht zu verwechseln. Herrn Specht aus Zittau berief Kortüm ins Schottengelände und tat ihm kund, in welchem Kostüm er aufzutreten habe. Aber es gingen auch andere Einladungen in die Welt. Kortüm bat Leute, von denen Frau Langloff nie etwas gehört hatte, einen gewissen Wenzel, Bälgetreter zu Weimar, einen Revierförster Rab, einen Küster Bauspack in Kranichstedt lud Kortüm ein, dazu den Maskenmacher Albrecht – und 627 jetzt auch noch den Maurermeister Lorenz in Besenroda. Wenn Mimi einen vorsichtigen Einwand erheben wollte, schnitt ihr Kortüm das Wort kurz ab: »Das verstehe ich, Frau Doktor. Farbe, Verehrteste, Farbe! Wir wollen ein wirkliches Maskenfest machen. Ich brauche diese Figur. Bitte schreiben Sie –«

Er diktierte weiter, Mimi schrieb, aber ihr begannen die Finger beim Schreiben zu zittern; zu ihrem Erstaunen lud Herr Kortüm jetzt kaltblütig die gesamte Konkurrenz ein: »Aber ich denke, Sie sind verfeindet mit den Herren!«

»Verfeindet?« fragte Kortüm verwundert, »darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Und sollte der eine oder andre glauben, mein Feind zu sein – wir können deswegen unser Maskenfest doch nicht einer solch markanten Figur berauben. Bitte, wollen Sie ferner schreiben: Grand Hotel – haben Sie es? Also: ›Es gereicht mir zu höchster Genugtuung, Euer Hochwohlgeboren diese Einladung unterbreiten zu dürfen und im Fall einer gütigen Zusage das große Fest des Schottengeländes dem maßgeblich fachmännischen Urteil unterstellt zu wissen‹ . . .« Hotel Disch lud Kortüm ein, den großen Beerberg, den Brocken, den Feldberg, und ein letzter Brief war gerichtet an einen Amtsschösser Stichling, Hochbauamt zwei, Abteilung römisch drei Komma arabisch elf.

An Frau Konstanze Schröter, Professor Holdermann und Klaus Schart sandte Herr Kortüm Handschreiben. »Sehr bedauerlich«, sagte er nach Vollendung des Einladungswerkes, »daß man den Kapitän a. D. Langloff nicht bitten kann. Hoffentlich kommt wenigstens sein Sohn zu diesem Fest.«

In Elviras Kopf gingen die Gedanken im Kreise. Sie wachte nachts und fragte sich immer wieder, ob man nicht doch den Kapitän zu Rate ziehen müsse. Aber den armen kranken Mann durfte sie nicht aufregen, nein, Gott würde ihr schon Kraft geben. Daß sie unbedingt alle ihre Geisteskräfte wachhalten mußte, sah sie an den Lieferwagen, die früh, nachmittags und manchmal noch spät abends an der Echostube vorfuhren: diese Frau Wingen da drüben würde sicher auf dem Damme sein. Schwere Sorgen machte sich Elvira, aber wie sie auch grübelte, das konnte sie der Frau Langloff nicht bestreiten, der Umsatz würde ganz groß werden. Alle hatten zugesagt!

Als erster Festgast traf Klaus Schart ein. Er fand das Gelände in tiefer Ruhe. Kein Wunder: die Bäcker backten, die Fleischer schlachteten, 628 die Maskenmacher malten, die Väter berieten und rauchten Tabak dazu, die Mütter schneiderten, und die erwachsenen Töchter schickten heimlich Einladungen ab, von denen weder Herr Kortüm noch die Väter und Mütter etwas wußten.

Frau Tips: »Haben Sie gesehen, was die anziehn will?«

Frau Lautenschlager: »Haben Sie von so einer was anderes erwartet?«

Fräulein Wodtke: »Die fällt noch nackend aus ihrem Kostüm.«

Frau Sidonie Lautenschlager blickte mit schiefgehaltenem Kopf in den Spiegel und hob das ungarische Röckchen drei Finger höher: »Aber das geht doch noch?«

Solche Sorgen drückten Klaus nicht. Er hatte in die Aktenmappe neben Seife und Zahnbürste einen Domino gestopft und wanderte mit seinem leichten Gepäck unbeschwert den Goetheweg hinauf. Als er die Schottenhöhe erreichte, sah er den Mann auf einer Bank sitzen, in den heute alle Sorgen des Schottengeländes mündeten. Kortüm rückte beiseite: »Setzen Sie sich, Herr Schart.«

Klaus bedankte sich für die Einladung.

»Alle Gäste haben zugesagt –«

»Bei dem Wetter!« rief Klaus.

»– bis auf einen Gast«, sprach Kortüm seinen Satz zu Ende.

Klaus nestelte verlegen am Verschluß seiner Aktenmappe.

Kortüm sah ihn an: »Warum kommt Frau Schröter nicht?«

Der Wald war kirchenstill. Es ließ sich leicht die Wahrheit reden in diesem menschenleeren Hochwald.

Aber nun sah Klaus Schart Herrn Kortüm an. Er fühlte, was Kortüm hören wollte. Und er sagte das: »Sie – sie bereitet eine neue Rolle vor in diesen Tagen.«

Die Lüge erschafft Zustände und Ereignisse und stellt sie zwischen die Wirklichkeiten. Die Lüge vermehrt den Bestand an Tatsachen, nimmt nicht wie der Dieb, sondern erweitert Anschauung und Erlebnis, und da Erfindung so lebensähnlich zwischen der wurzelbestockten Gestalt wachsen, blühen und Frucht tragen kann, durchschaut der Mensch – wenn überhaupt – nicht in jungen Jahren die ganze Furchtbarkeit der menschlichen Existenz.

Denn Klaus hatte jetzt nicht gelogen, um Kortüm etwas zu nehmen oder sich zu verstecken – er war stolz, daß Konstanze Schröter den Klaus Schart liebte – sondern um Kortüm Gutes zu tun. Er sah denn auch, wie der Herr des Schottengeländes den Kopf ein wenig 629 zurücklegte und in den Sonnenstrahl blinzelte, der scharf durch das Blätterdach schoß: »Hm hm. So so. Nun freilich. Sie ist eine große Künstlerin.«

Auch Klaus war nicht töricht genug zu glauben, daß Kortüm etwa mit dem Gedanken spielen könne, eine Konstanze Schröter einzuspinnen in sein eigenes hinalterndes Leben. Aber Klaus Schart fühlte recht gut, daß Kortüm mit dem Glanz ihres Wesens sich selber erhellte, durch die Freundschaft dieser Frau sich selber bestätigt fand und seine unendlichen Sorgen gelassen ein wenig beiseite zu schieben und der neugierigen Welt das gleichmütige Angesicht zu zeigen vermochte, das ja zuletzt Kortüms Geheimnis und Kraft war in der Welt.

Lieben mag Konstanze, wen sie will – Gott bewahre mich, dachte Herr Kortüm; er würde wahrscheinlich den glücklichen jungen Mann scharf von der Seite besehen und dann ungefähr geäußert haben: »Nun, er hat zwanzig Jahre weniger erlebt als ich, gut gut.« So glaubte Kortüm zu denken, aber mit dem verpanzerten Liebesgefühl eines ältelnden Herzens hatte er sich seit Monaten in einsamen Stunden gefragt: wo bleibt sie? Auch ein Mann, der bereits einer warmen Altstimme lauschen kann wie einem Vogellaut und der dabei zufrieden tun und sich entweder mit braver oder mit großartiger Gebärde am Ewigmännlichen vorbeizulügen vermag, kommt nur schwer auf den Gedanken, daß auch die wunderbarste Frau alles erleiden kann – nur dieses eine nicht: den Schatten der anderen, der sich ihr einmal in die Sonne stellte. Frauen kennen sich genau. Zehn Kortüms können im Schottengelände regieren: wenn ein selbstgewisses Wesen wie Lotte Wingen waltet an dem Ort, atmet der ihr Wesen aus. Dem Manne mag die Zeit gehören – der Raum gehört Eva. Von alters her.

Von diesen haarfeinen, aber platinhaft unschmelzbaren Netzfäden ahnte Klaus nichts. Jedoch – er sah Kortüm an; dieser Mann war es doch, der das ganze herrliche Lebenstheater hier oben aufgeschlagen hatte. Klaus verehrte ihn, vielleicht liebte er sogar sein Wesen. Und Klaus Schart hatte denn einen guten Tag herbeigelogen, und Herr Kortüm war zufrieden, seine große Frage los zu sein:

Frist verlangt – zwei Männer.

Lotte und Konstanze hätten das anders gemacht. Die eine würde nicht gelogen und die andre nicht so rasch aufgehört haben mit Fragen. Freilich hätte es dann vielleicht kein Maskenfest gegeben diese Nacht – dafür aber auch keine Demaskierung übers Jahr.

Es ist leider nicht so, daß die Lüge am besten gedeiht auf leichtem 630 Boden, auf Lumperei und Angst. Solche Lügen bläst der nächste Wind als Papierblumen übers Feld. Die Herzensgüte ist der schwere Boden, auf dem sie mächtiger aufschießt, lebensgefährlicher wuchert.

Es gab also seit heute zwei Konstanzen: Klaus war so gütig gewesen, für Herrn Kortüms Spezialbedürfnisse eine zweite zu erschaffen – Verehrung ist großzügig wie die Liebe. Golden rot lag das Abendlicht auf den runden Buchengewölben. Die Singdrossel flötete ihre Strophen, unverwüstlich heiter, hanswurstiger Einfälle voll.

»Ein schöner Abend«, sprach Herr Kortüm.

Klaus neigte horchend den Kopf: »Ich glaube, die Musikanten im Schottenhof stimmen schon.«

Kortüm stand auf: »Es ist an der Zeit.«

 


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