Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die Aufführung

Nicht jeder ist den Aufregungen der Theaterproben gewachsen. Herr Kortüm jedenfalls nicht: als nach Schluß der Generalprobe, nachts halb drei, der gesamte Darstellerkreis ganz offenbar unter dem Eindruck stand, daß ja doch alles keinen Sinn habe und diese Aufführung ein wahrer Jammer sei, wandelten Herrn Kortüm seine alten rheumatischen Schmerzen an, und er beschloß, sich für ein paar Tage ins Bett zu legen.

Aber es mache einer nur erst seine Tür auf – sofort stellen die Menschen den Fuß dazwischen. Herrn Kortüms Portal stand sperrweit offen.

Monich brauchte zwei Unterschriften von Herrn Kortüm. Ein neuer Klingelzug mußte gelegt werden. Und ob denn nun eine größere Lampe in die Diele käme oder nicht? Wenzel zwang Herrn Kortüm 91 sogar, in den Keller zu steigen und eine neue Flasche Rum heraufzuholen.

»In'n Tee, jawoll«, sagte Wenzel. »Fürn Herrn Organisten.«

»Ich habe Ihnen doch erst vorgestern eine neue Flasche eingehändigt.«

»Die is alle.«

»Unmöglich – was für Tee trinkt dieser Dichter denn?«

»Ceylon, Herr Kortüm. Den braucht'r zur Anregung beim Proben. Damit er munter bleibt. Aber weil er da nu in der Nacht kein Auge zutäte – Tee regt'n nämlich auf – gießt er sich Rum nein. Ja. Je mehr Proben, je mehr Tee, je mehr Aufregung, je mehr Rum!«

Herr Kortüm schlief nach Tee auch nicht. Er sagte das Wenzel, der ihm auf der Kellertreppe leuchtete. »Trinken Sie doch 'n Rum ohne Tee«, riet der, »so mach ich's.«

Als Herr Kortüm wieder heraufkam, stand Mickewitz auf der obersten Stufe. Es sei unerhört! rief der Apotheker. Ein gut Teil der billigen Fremdenzimmer in Esperstedt sei vermietet. Aber die Leute mit den besseren Appartements säßen da. Von sich wolle er nicht reden – er habe ja die Apotheke. Ihm könne es am Ende gleich sein. Er lebe nicht vom Abvermieten. Aber die anderen. Die Besenröder müßten gezwungen werden, ihre Zimmerpreise mit sofortiger Wirkung heraufzusetzen. Es fände ein lebhafter Eselverkehr von Esperstedt nach Besenroda statt – jedoch nicht wieder zurück. Dazu habe man nicht die hohen Kosten auf die Ausschmückung des Esperstedter Bahnhofs verwandt.

Viel war zu tun, und alle kamen zu Herrn Kortüm. Sie mußten zu ihm kommen, denn seine Art, letzte Entscheidungen zu treffen, war so durchdringend und beruhigend, daß ihn das obere Ilmtal nicht einen Augenblick vermissen konnte. Herr Kortüm rammte seine Entscheidungen wie ein Pflasterstampfer auf die Steinköpfe – Herr Kortüm legte sich nicht ins Bett, obgleich morgen die Festaufführung stattfinden würde.

Der Theatertag dämmerte herauf. Tiefe Stille lag über dem Schottenhaus. Es wurde Mittag. Der Nachmittag kam: kein Schauspieler ließ sich blicken. Ist das eine Art? dachte Herr Kortüm. Die liegen im Bette, haben sich die Decke über die Ohren gezogen, und ich stehe allein aufrecht in diesem Jammer.

Gegen Abend kamen die ersten Festspielgäste. Das Schottenhaus schaltete sein gesamtes Licht ein. Der Saal füllte sich langsam. Gelegentlich bewegten sich die Vorhangfalten. In dem Geheimnis, das sie verbargen, polterte es. Manchmal hörte man einen Nagel einschlagen, 92 einen Stuhl schurren. Das Quintett stimmte seine Geigen. Der Saal verdunkelte sich – Herr Kortüm befahl seine Seele Gott und nahm Platz auf dem großen, geschnitzten, rotgepolsterten Samtsessel in der Mitte der ersten Reihe.

Wingen war noch ein letztes Mal auf der Bühne gewesen und hatte im Wege herumgestanden. Er wischte den Schweiß von der Stirn, kam in den Saal und las die Nummer seiner Karte: zweite Reihe, Platz neunundzwanzig. Für Zahlen hatte er ein schlechtes Gedächtnis, denn die Zahl mußte er eigentlich behalten haben: an Hand der ausgegebenen Freikarten hatte er sich sorgfältig seine Nummer ausgesucht. Auf Lottes Freikarte, die sie als Mitarbeiterin bekam, stand Nummer dreißig. Wingen war freudig überrascht, sie gerade heute als Nachbarin begrüßen zu können.

Monich konnte das Spiel leider nicht vom Saal aus ansehen. Er hatte Dienst. Die Sache war gefährlich. Die Schläuche lagen bereit. Am Teich draußen standen zwei Wasserpumper – auf Monich war Verlaß.

Ein Rokokofürst stand am Guckloch des Vorhangs und musterte das Publikum. Lerp, ein meuternder Bauer, legte dem fürstlichen Herrn die geschwärzte Hand auf die goldenen Epauletten – totzuschlagen versuchte er ihn erst im vierten Akt – und sagte: »Nun laß mich mal ran. Das wird interessant. In der Hauptsache sitzen dort unten Handwerker. Hier und da ein geistiger Mensch dazwischen.«

»Ich weiß nicht, Lerp« – der Fürst schüttelte seine Perücke – »ich sehe ländliche Gesichter und ein paar städtische.«

»Wollen Sie etwa die Leute nach ihrem Wohnort einteilen? Wenn wir als Schauspieler dieses Ganze da unten in seine Teile zerlegen –«

»Laßt's doch ganz!« sagte Konstanze, die eben vorbeikam und sich ihre Bauernschürze umband.

»Wie können Sie dann ein Urteil über Ihr Publikum gewinnen?«

Konstanze lachte: »Ich kam ja eben nur vorbei und weiß gar nicht, wovon ihr redet. Aber wenn heute zwei Männer an irgendeinem Guckloch stehen, plagen sie sich damit, ein Ganzes in Teile zu zersehen.«

Konstanze hatte es eilig und verschwand hinter der Kulisse. Die beiden Schauspieler ließen die Klappe vor das Guckloch fallen und begaben sich an ihre Bühnenposten. Zwei so alte Maskenträger können es auch eine Minute vorm Gongschlag nicht lassen, dem Menschen auf der Spur zu sein. Während der Fürst seinen Degen umschnallte, suchte sich Lerp seinen Knüppel und sagte dabei: »Sag mal, hast du diesen Herrn Kortüm in der ersten Reihe gesehen?«

93 Die Perücke lachte: »Von Beruf ist er ein Gastwirt.«

»Nana«, murmelte Lerp, »dann ist Wingen, der uns heute in Gang bringt, von Beruf ein Organist.«

»Ein Gastwirt und ein Organist, Lerp – und uns sagt man nach, wir wären die Maskenträger auf Erden. Wir sind die einzigen Leute, die ihren Beruf ehrlich angeben.«

Von diesem Gespräch der beiden berufsmäßigen Vexierbildleser hörte Herr Kortüm unten nichts. Er saß in seinem Samtsessel als ein wirklicher König und Herr, unteilbar, unverpackbar und war auch für Geübte schwer unterzubringen. Nur daß er auch so eine Art Beweger und Schaffer sein müsse wie der orgelnde Dichter, das hatte die Bauern- und die Fürstenmaske gemerkt.

Herr Kortüm kümmerte sich um nichts und sah geradeaus auf den Vorhang. Auch Wingen kümmerte sich um nichts und sah nach rechts hin, nach Platz Nummer dreißig. Lotte spielte mit ihrem goldenen Kreuz am Halse und wartete auf das verborgene Leben hinter den Vorhangfalten, die sich schon leise bewegten und gleich auseinanderrauschen mußten. In der schlimmsten Lage befand sich Klaus. Der Schulmeister rutschte auf seinem Stuhl herum und starrte auf den Vorhang des Tempels, ob der nun bald zerrisse und ihm Konstanze zeigte, wie sie wirklich war. Klaus war sehr aufgeregt.

Wie beneidenswert sind alle Menschen im Theater, welche die ganze Sache nicht mehr angeht, als der Eintrittspreis beträgt. Die Täter aber – vier, drei, eine Minute vor der Hinrichtung – die büßen nun ihren Übermut. Und wer war nicht alles Täter in diesem Saal: Mickewitz, ein Rechenmeister, der jetzt am seidenen Faden des Minus über dem Abgrund einer Dichtung schwebte, ein phantastischer Anblick – Monich, der Gold zu Eseln gemacht und das Schottenhaus dadurch erst mit der Welt verbunden hatte: jetzt wollte er mit einer Notpfeife und fünfzig Metern Schlauch sein Gewissen einlullen – an Herrn Kortüm und Klaus Schart aber mag man in diesem Zusammenhang gar nicht erst denken.

Jedoch der erste, nun der zweite und jetzt – verdammt! – der dritte Schlag auf den Gong des bösen Gewissens schaffte endlich freie Bahn denen, die allein noch imstande waren, den Weltuntergang aufzuhalten: die Schauspieler begannen. Sie kamen, gingen, sprachen, spielten, und das Spiel gelang.

Leider sah gerade sein Dichter nicht allzuviel davon. Wingen mußte seiner Nachbarin soviel erklären. Immer wieder flüsterte er ihr etwas zu, und Lotte sah aus ganz großen Augen in diesen Widerschein der 94 Wingenschen Welt. In der Pause sagte Hiebrich zu Kersch: »Du, der Kerl da vor mir, weißte der mit den hellen Haaren, der immer redt – dem gebe ich aber jetzt 'n Schupp in 'n Rücken, wenn er wieder nich aufpaßt –«

»Mensch«, sagte Kersch und sah sich um, ob jemand diese Rede gehört hatte, »das is doch der Dichter von dem Stücke selber.«

Das hätte Kersch nicht sagen sollen. Hiebrich saß die letzten beiden Akte tiefsinnig neben dem Eseltreiber. In ihm bildeten sich ganz irrtümliche Vorstellungen von Dichtern. Der Bälgetreter Wenzel hätte neben ihm sitzen müssen. Dann hätte Hiebrich einen anderen Einblick in das Wesen lebender Dichter gewonnen. Aber Wenzel befand sich im Erfrischungsraum – einer muß ja schließlich auf die vielen offenen Flaschen aufpassen.

Überhaupt verlief trotz des Erfolges die Aufführung nicht ungestört. Auch Klaus hinderte seine Umgebung an der ruhigen Aufnahme des Werkes: »Sie ist's«, murmelte er. Ja, sie ist's wieder. Nicht die Julia – Frauen entwickeln sich unübersehbar, hatte er einmal gelesen. Aber was für eine andere diese Konstanze geworden war – ein warmes blühendes Weib, reif wie ein Weizenfeld im Monat August.

Die merkwürdigste Störung jedoch, die der ganze Saal vernahm, traf den Dichter unvorbereitet. Daran trug er selbst Schuld. Wingen war ursprünglich hergekommen, um zu erleben, wie sein Theater auf Menschen wirkt, welche kein Theater machen. Auf Menschen, denen Leben gerade Mühe genug macht. Nun saß Herr Wingen da und wußte nichts Besseres zu tun, als einem solchen wirklichen Lebewesen ein langes und breites zu erzählen vom Leben-Spielen. Nun erschrak Wingen, der sich gar nicht nach seinem übrigen Publikum umgesehen hatte, als ein Zwischenfall eintrat, der in rotgoldenen Staatstheatern freilich nicht vorkommt: als im vierten Akt an der schmerzlichen Stelle seiner Dichtung das gesamte Publikum sehr gerührt wurde, sprach in die atemlose Stille nach dem Sterben der Bauerntochter plötzlich die Metzgermeisterin Hiebrich hinein – und sie sprach selbstvergessen und vernehmlich: »Ach, du armer alter Vater.«

Wingen unterdrückte einen Fluch: jetzt war alles hin. Nun würden sie lachen – aber es lachte niemand. Im Gegenteil: nun schluchzten auch noch ein paar Menschen. Hätte Wingen nicht nur Lotte als Publikum betrachtet, sondern auch auf die anderen Leute gesehen, so würde er bemerkt haben, wie wenig Zuschauer überhaupt im Saale saßen: nur ein paar Geistarbeiter dachten die Gedanken der Schauspieler mit, urteilten mit ihnen und verglichen – von Bilmes bis zu Mickewitz.

Kersch, Albrecht, Hiebrich und all die vielen von ihren Händen lebenden Menschen hatten das Mirakel erst ungläubig ablehnend und ein wenig blöde schmunzelnd angestarrt. Als dort oben auf den Brettern aber Menschen zu leben anfingen wie sie selbst, vergaßen sie sich über ihresgleichen. Sie schauten nicht zu: sie spielten mit. Sie dachten nicht: sie lachten oder wurden böse – es war gar nicht ausgemacht, ob sie den Rokokofürsten nach dem fünften Akt nicht braun und blau schlagen würden, wenn sie ihn zu fassen kriegten.

Die Geistarbeiter waren beim Geist, die Handwerker bei der Sache, Wingen hielt sich ans Leben, und Herr Kortüm hielt sich an sich. Anfangs war er dem Spiel gefolgt. Dann folgte er Konstanze. Nicht wie Klaus der Frau folgte: mit dem heißen Wunsch, sie rechtzeitig einzuholen in ihrem hinreißenden warmblütigen Spiel. Herr Kortüm hörte Konstanze sprechen, wie ein Maler beim Arbeiten das Klopfen des Landregens in den Baumwipfeln hört: nicht mit den Sinnen, sondern mit der Seele. Die Seele geht davon aus und fängt an sich zu regen. Auch Herr Kortüm begann auf seine Art mitzuspielen – freilich nur sich selbst. Für solche Frauen soll man ein Mann sein, dachte er. Für solche Frauen Gottes Erde so lange umkneten, bis sie zu ihnen paßt, Berge abtragen, Berge auftragen, und auf den höchsten Berg einen Stein stellen, den sie von ihrem Schlafzimmerfenster aus sehen kann – ja, für Sie gebaut, gnädige Frau – ich tat es, ich, Kortüm. Ich werde doch die Idee mit dem Stein auf meinem Lohberg wieder aufnehmen – Herr Kortüm arbeitete und wachte erst auf, als ihn der laute Beifall nach dem letzten Vorhang umtoste. Das Spiel war gelungen. Die Mitspieler waren zufrieden: Lerp, die Schröter, der Rokokofürst, Kersch, Hiebrich, Frau Hiebrich, Albrecht – alle. Die Zuschauer waren zufrieden: Klaus Schart, Mickewitz, die Pastoren, die Lehrer, Bilmes – alle. Und auch die beiden waren zufrieden: Wingen und Herr Kortüm. Wingen sah das goldene Kreuz an Lottes Hals an: »Das ist wohl ein altes Erbstück, Lotte? Ja – und wie hat Ihnen denn mein Stück gefallen? Ach, wirklich?«

Herr Kortüm gar war so zufrieden mit sich, daß er nach der Aufführung nur einen flüchtigen Blick über die schmausenden und trinkenden Gäste warf und zu Monich sagte: »Was schlucken diese Menschen bloß in sich hinein. Ich glaube, die haben alle den Bandwurm.«

Wenn ihm, der immer den weißbeschienenen Stein in der Nacht auf dem Lohberg vor sich sah, zehnmal das Schlürfen und Schmatzen unangenehm war – ist das die Rede eines Gastwirts? 96

 


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