Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Reden und Burgunderwein

Sonntags verläßt der früheste Morgenzug die Stadt Besenroda um sechs Uhr. Man fährt bis Weimar drei Stunden und steigt dreimal um. Aber Laufen dauert noch länger.

Das Züglein bohrte sich durch den dicken Herbstnebel und stellte sich zufrieden krächzend neben den Bahnsteig. Klaus stieg ein. Er sah sich um und ärgerte sich. In das Abteil für Reisende mit Traglasten war er geraten. Neben ihm saß ein viereckiger Weidenkorb. Aus dem Korb guckte ein Nagel.

Und wenn der Nagel ein Loch in meinen Mantel gerissen hätte? dachte Klaus zornig. Auf dem Korbhenkel lagen ruhevoll zwei Mädchenhände. Sie mußten seinen Blick fühlen, denn die Hände begannen sich zu regen. Sie umfaßten den Henkel. Nun sahen sie noch schöner aus: schlank, ein wenig verspielt noch, und doch sehnig. Über dem Knöchel am Handgelenk spannte sich die Haut ganz durchsichtig. Versöhnt glitt Klausens Blick an dem unförmigen Wollärmel hoch. Wie in einem Sack stak alles, was doch auch so zart aussehen mußte wie das Handgelenk.

46 »Ach, Fräulein Lotte.«

Sie lachte: »Guten Morgen.«

Klaus entsann sich der tausend bemalten Larven in der engen Maskenmacherstube, und wie ihn aus all dem Dunst dort plötzlich dieser schöne Mädchenkopf angeschienen hatte, so schwebte derselbe Glanz nun wieder in diesem schlechten gelbbraunen Reisewagen zwischen schnatternden Weibern und pfeifeschmauchenden Männern.

»Wie schön, daß wir uns treffen.«

»Ich fahre aber nicht so weit wie Sie. Bloß nach Bischleben. Die Girlanden hier schaffe ich hin. Dort ist heute goldene Hochzeit.«

Schön, weiß Gott. Klaus sah versonnen in das Gesicht des Mädchens, das so aus nächster Nähe ganz anders aussah. Sind nicht alle Hochzeiten golden? dachte er. Lotte stellte den Korb auf ihren Knien anders und legte die Beine übereinander. Der Korb war so schwer, Klaus faßte mit am Henkel an und sagte: »Woher wissen Sie denn, wohin ich will?«

»Das weiß doch der ganze Ort.«

»Was? Ja – wohin will ich denn?«

»Nu, nach Weimar.«

»Das nennen nun die Leute hierlands vertraulich!«

»Sie wolln doch die Tanzmusik bestellen.«

»Ich will – was will ich?«

Das Mädchen lachte und nickte.

»Hören Sie, Lotte, vor Ihnen muß man sich aber vorsehen. Sie wissen ja mehr von mir als ich selber.«

»'s is doch wahr.«

»Weil's Besenroda sagt!«

»Na also.«

»Nein, nicht also. Tanzmusik will ich ja nun grade nicht bestellen.«

»Ohne Musik geht doch das Maskenfest auf dem Schottenhaus gar nicht.«

»Das wissen Sie auch schon?«

»Die Leute freuen sich alle darüber. Mein Vater sagt, so einer wie Sie hätte in Besenroda längst gefehlt. Sie brächten die Leute auf den Schwung.«

»Welche Leute?«

»Na, die vom Maskenmachen und vom Musizieren leben müssen und jetzt doch so wenig Arbeit haben.«

»Ich bringe noch ganz andre Leute auf den Schwung.«

47 Lotte sah ihn an.

»Zum Beispiel solche Leute« – Klaus strich mit dem Finger über ihren Knöchel am Handgelenk – »ja solche.«

Lotte zog die Hand langsam in den Wollärmel hinein. Klaus lächelte und dachte: beim Tanzen kommt der Arm schon wieder raus aus der Wolle und die Beine vielleicht auch. »Sie kommen doch?« fragte er.

»Ich weiß noch nicht.«

»Natürlich wissen Sie's!« Klaus wackelte am Girlandenkorb. »Ich entwerfe Ihnen die Maske. Weißes kurzes Kleid. Und einen silbernen Halbmond. Der paßt gut zu Ihrem braunen Haar.«

Lotte schüttelte den Kopf.

»Das Maskenfest muß einen Glanz bekommen. Das wird nicht etwa so ein Bums mit Bier und Rostbratwürsten. Ich komme italienisch. Als Veroneser. Schwarze Seide.«

Jetzt lachte Lotte laut heraus: »Da werden die Besenröder Augen machen! So was haben sie noch nicht erlebt.«

Klaus hatte eben den Romeo mit der Diana selbst im Tanz vor sich gesehen und den Walzertakt geklopft – lacht die mich etwa aus? Lotte hielt ihren Korb mit beiden Händen, sah den vornehmen Veroneser von der Seite an. »Fein«, sagte sie.

Albern, dachte Klaus. So 'n Ding. Na ja. Was weiß sie von Verona. Herr Kortüm hat ganz recht. Pappmasken . . .

Er setzte sich grade hin, holte seine Handschuhe aus der Tasche und begann einen anzuziehen. Schöne Lederhandschuhe. Er fuhr ja nach Weimar. Aber Lotte hatte das Gesicht zum Fenster gewandt und lächelte mit großen Augen in den Nebel – sie sah immer noch den Veroneser zwischen den biertrinkenden und singenden Besenrödern . . .

Das wurde Klaus zu dumm: »Überhaupt ist dieses Maskenfest«, sprach er von oben, »als eine künstlerische und zugleich als eine historische Darbietung geplant. Wir werden eine Übersicht der Entwicklung des gesamten Larvenwesens bieten, von den fernsten Zeiten bis in unsere Tage.«

So – da hatte sie's. Schön ist sie, verdammt noch mal – aber erst soll sie merken, wen sie in mir eigentlich vor sich hat.

Lotte rückte wieder ihren Girlandenkorb ein bißchen bequemer und sagte: »Wenn Sie nur die Musik bekommen. Mit Musik gelingt das Fest schon und wenn noch soviel Dummheit gemacht wird.«

»Bischleben!« schrie der Schaffner.

48 »Also viel Glück in Weimar, Herr Schart. Die Musik ist die Hauptsache. Auf Wiedersehen.«

Klaus sah sie schlank und kräftig mit dem Girlandenkorb auf dem Bahnsteig hingehen, als ob ganz Bischleben ihr gehörte. Es war ja lächerlich, der Lotte Albrecht solche Sachen zu erzählen. Sie hat ja doch nichts davon verstanden. Und dabei noch so selbstbewußt und überheblich.

Klaus Schart hatte heute mehr zu tun, als sich über ein Besenrodaer Mädchen zu ärgern. Er schrieb in Stichworten seine Rede für die Sitzung auf: Wirtschaftliche Not im Wald oben – Worte? Nein, Taten! – die Heimarbeiter beschäftigen – also Masken nicht bloß ansehen, sondern auch wirklich tragen – im Maskentragen mit gutem Beispiel vorangehen – das Maskenfest und sein Ethos – und das alles soll scheitern an einem kleinlichen Musikverbot? Wer die Maskenmacher lieb hat, setzt Masken auf – darum auf, laßt uns – und so weiter.

In Weimar hatte Klaus bis zum Beginn der Sitzung noch eine Stunde Zeit und ging im Park spazieren. Das war gut. Klaus konnte seine Rede laut für sich halten. Es kommt soviel auf den Tonfall an, auf die sprachliche Zuspitzung der Schlagsätze.

Und er hielt seine Rede. Zunächst begann er sachlich. Dann brachte er durch rhetorische Fragen seine Hörer – in diesem Park allerdings nur die armen weimarischen Herbstspatzen – aus ihrer Ruhe. Klaus wurde wärmer. Er rüttelte an den Fundamenten der gesamten Maskenmacherei. »Könntet ihr wohl eine ansehenswerte Maske zustande bringen?« rief er. »Oder seid ihr nicht vielmehr angewiesen auf die, welche verstehen und von Grund aus gelernt haben, Masken zu machen? Wollt ihr arme Menschen, welche sonst nichts gelernt haben als Masken herzustellen, wollt ihr die zugrunde gehen lassen? Wer, frage ich, soll euch dann Masken machen, wenn ihr sie braucht?«

Je mächtiger Klaus die Rede steigerte, desto schneller ging er. An der unteren Ilmbrücke lief er Trab. Als er auf der Oberweimarschen Straße, schräg gegenüber der Naturbrücke, zu den großen Schlußperioden kam, befand er sich fast im Laufschritt und rief: »Mit einem Schlage trefft beides – die Not der Maskenmacher und die Gleichgültigkeit der Maskenträger!«

Aufatmend stand er still, tat einen tiefen Seufzer, sein Geist begann in die gewöhnliche Wirklichkeit zurückzukehren. »Hier klingeln«, stand 49 plötzlich schwarz auf weißem Schilde vor seinem Auge, als er wieder nach außen in die Umwelt blickte. Klaus sah auf. »Hier klingeln« – eine weißgestrichene Gartentür, eine Hecke, dahinter ein hohes Dach – ach so: Goethes Gartenhaus.

»Hier klingeln?« sagte Klaus und schüttelte den Kopf: »Nein, hier nicht.« Er sah das Schindeldach an. »Schindeln, hölzerne Schindeln – wie lange ist das her. Nur wir selber können unserer Maskenmacherei helfen . . .«

Klaus schrieb sich doch noch einige Stichworte auf: die Sache muß noch klarer raus. Die grauen Häupter haben eine so lange – nein, eine lange Leitung wohl nicht grade – aber eine mit Knoten drin. Und diese Knoten nennen die Kerle allemal dann Erfahrung, wenn Schwung am Platze ist.

Klaus ging in tiefen Gedanken vor Goethes Gartenhaus auf und ab und leckte an seinem Bleistift. Klaus kam ins Schreiben – das Gartenhaus da stand ja leer.

Seine Rede gelang wirklich. Selbst die grauen Häupter im Ausschuß lächelten vor sich hin: im Walde oben – ein Maskenfest – gewiß, Kinder, das macht mal. Mit Musik natürlich.

Aber da hatte sich schon der dritte Vorsitzende der zweiten Sektion erhoben und gesagt: »Ausgezeichnet, diese Anregung des Herrn Schart. Nur eines ist zu bedauern: wir sind nicht zuständig. Diese Frage gehört in die fünfte Abteilung.«

»Wer hat Fünf?« fragte Klaus.

»Wingen. Friedrich Wingen. Volksmusik. Leider.«

Klaus erfuhr auch, daß Herr Wingen in der Regel im Pfundschen Weinkeller zu Mittag speiste. Er solle doch einfach dorthin gehen.

Klaus ging. Als er am Goethe-Schiller-Denkmal vorbeikam, stand er still. »Zu dumm. Nun muß ich die ganze Rede noch einmal halten . . . auch noch in einer Weinkneipe . . . hm –.« Er zog seine Stichworte aus der Tasche, las, holte den Bleistift hervor und fing an zu streichen: »Das nicht. Das – na, lieber auch nicht. Dichter sind manchmal empfindlich . . .«

Man kennt ja das schöne Denkmal von Rietschel vorm Theater in Weimar: seit bald achtzig Jahren blickt Friedrich von Schiller über so vieles weg, was zu seinen Bronzefüßen geschah. Auch jetzt sah er nach den Wolken, die überm Dach des Wittumspalais segelten. Nur Goethe guckte dem Redner von oben her ins Manuskript und blieb ernst dabei.

50 Mit der redigierten Ansprache in der Hand betrat Klaus Schart den Marktkeller. Die Leute speisen hier wohl im Finstern? Auf dem Platz draußen lag die grelle Oktobersonne, in dieser Weinbude war einfach Nacht. Er tappte vorwärts, bis er sanft an etwas Rundes stieß. Sein Auge hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt: das Runde war ein Bauch.

»Bitte?« sprach der Bauch.

Klausens Blick glitt an der Rundung aufwärts und stieß in überraschender Weise gleich über dem Bauch auf ein Antlitz: »Bitte, mein Herr?«

»Ich suche Herrn Wingen.«

»Da müssen Sie sich aufn Friedhof begeben.«

Klaus griff hinter sich. Ins Leere. Ob der Mensch bloß betrunken ist?

Aber der Bauch fuhr fort: »Wenn Sie hier raus kommen – rechts. Dann gradeaus. Immer gradeaus. Rund fünfzehn Minuten. Dann tauchen Lebensbäume vor Ihnen auf. Da gehn Sie drauf zu. Da is er.«

Offenen Mundes stierte Klaus auf die Gestalt in der Finsternis: Heute rot, morgen tot, fuhr's ihm durch das Gehirn. Er ließ den Kopf hängen.

Der Weinwirt mißverstand seine Niedergeschlagenheit: »Na ja. 's is 'n langer Weg. Besser haben Sie's, wenn Sie sich hierher setzen. Aber wissen Sie, der Wingen, wenn er so gradewegs vom Friedhof kommt, da läßt er sich nich gerne ansprechen.«

»Ein Irrsinniger« – Klaus wandte sich zur Flucht.

»Da können Sie auch sitzen. Ich mache gleich Licht.« Der Wirt mißverstand auch diese Wendung Klausens. Er schaltete Licht ein. Jetzt sah der Weinkeller menschlicher aus. Klaus sprach verzagt: »Sie sagten doch eben –«

»Was 'n?«

»Auf dem, dem Friedhof –?«

Der Wirt zog seine Uhr: »Zwölfe. Bis ein Viertel eins müssen Sie rechnen. 's is heute eine große Leiche. Aber ein Viertel eins is er fertig mit orgeln. Halb is er hier.«

Klaus sackte auf einen Stuhl.

»Ein Glas Wermut vielleicht?« fragte der Wirt Pfund teilnehmend.

»Burgunder«, stieß Klaus hervor, »eine Flasche.«

»Achtunzwanziger? Sechsunzwanziger? Dreiunzwanziger?«

»Dreiundzwanziger will ich.«

»Ach so«, murmelte Pfund respektvoll. »Alle Achtung. Um zwölfe eine ganze Chambertin. Un Dreiunzwanziger. Vielleicht is das auch so 'n Orgler.«

51 Klaus mißverstand nun seinerseits nicht nur das Wesen des Burgunders, er mißverstand nicht nur den Geist des Jahrgangs dreiundzwanzig, nein, er mißverstand auch die außerordentliche Größe der Burgundergläser. Gelassen goß er dieses Glasfäßchen voll bis zum Rand, und gelassen nahm er das milde milchige holde und beruhigende Getränk zu sich in einem Zug.

»Nee, alles was sein kann. Alle Achtung«, sagte der verdutzte Wirt bei diesem Anblick.

Den Friedhofsschrecken überwand Klaus mit diesem Zug. Nach dem vierten Glas im leeren Magen aber lächelte er still vor sich hin: »Orgel spielt er? Wie schön, ein orgelnder Dichter. Oh!« Klaus sah die Orgelpfeifen um sich schweben mit seligen Fittichen. »Orgeldreher und Bänkelsänger«, sang Klaus vor sich hin.

»Das wird eine scharfe Sache«, murmelte Pfund.

»Bänkeldreher und Orgelsänger –«

Wingen kam herein.

»Das ist der Herr«, sagte der Wirt. Klaus Scharts Methode, mit Burgunder umzugehen, hatte den Weinschänker Pfund so überwältigt, daß er mit Wingen gar keine große Sache mehr machte: »Da. Jawohl. Das is er.«

»Orgelbänke und –«

»Welcher Herr?«

»Ah!« rief Klaus. Er hatte Wingen, den er aus Bildern kannte, erblickt, eilte ihm entgegen und reichte ihm seine beiden Hände: »Meister!«

Wingen sah den begeisterten jungen Mann eine Sekunde erstaunt an. Dann verstand er und drückte ihm die Rechte: »Was aber, Verehrter und Lieber, schafft mir die Freude?«

»Abteilung fünf«, antwortete Klaus und nickte dem Dichter glücklich zu: »Fünf. Ja. Dienstlich. Dringlich dienstlich.«

»Na« – Wingen besah das Flaschenschild – »Sie haben sich da dienstlich recht hübsch ins Warme gesetzt.«

»Oh, Herr Pfund«, sagte Klaus, »noch eine –«

»Nee, mein Lieber. Ich verstand was von Abteilung fünf und dienstlich. Ganz besaufen können Sie sich nachher. Erst mal schnell raus mit dem Dienst. Und mein Essen, Herr Pfund.«

»Meins auch, Herr Pfund.«

»Sie haben noch nichts im Magen« – Wingen lachte – »ach so.«

Der Dichter und der Schulmeister speisten. Sie tranken Kaffee. Nach 52 dem Kaffee erfuhr Wingen sogar Klausens Namen und Vornamen. Klaus begann wieder den Zweck seiner Reise zu überblicken, wenigstens in großen Zügen. Er wurde sichtlich unruhig, fuhr in seinen Taschen herum, brachte die Stichwortakten zutage, legte sie auf den Tisch, glättete sie, sagte: »Verehrter Herr Wingen« – und fing an.

Eine Weile hörte Wingen verblüfft zu.

»So. Nun hören Sie mal 'n bißchen auf. Schottenhaus, sagten Sie? Geweihsaal? Wieviel Menschen faßt denn der?«

»Vielleicht vierhundert oder fünf- oder sechshundert.« Klaus war nicht kleinlich.

»Wo liegt denn das Schottenhaus?«

Der Wirt mußte eine Karte bringen.

»Aha, Bahnstation Besenroda. Esperstedt ist auch Bahnstation. Ausgezeichnet. Ist die Verbindungsstraße vom Bahnhof aufs Schottenhaus gut?«

»Gut kann man nicht ohne weiteres sagen. Nein. Nicht gut. Aber was heißt gut.«

»Fahrbar?«

»Der Breite nach, ja. Was die Straßendecke angeht, nun, da dürften unmoderne Verkehrsmittel Schwierigkeiten haben. Aber das ist völlig gleichgültig: Herr Kortüm hat gesagt, er habe das Mittel entdeckt, mit dem er alle Verkehrshemmnisse zwischen dem Bahnhof und seiner Haustüre restlos überwinden werde.«

»Kinder, ihr drückt euch so schwierig aus in Besenroda – welches Mittel denn?«

»Man kann mit einem Herrn wie dem Herrn Kortüm nicht einfach so losreden –«

»Nanu –«

»Ihn etwa so fragen, das geht gar nicht. Da muß eben gewartet werden, bis er selber die Einzelheiten mitteilt. Der neue Schottenverkehr soll wohl eine Überraschung für die Gegend werden. Aber wenn Herr Kortüm sagt, das wird, dann wird's.«

»Na, das ist ja schön. Der Mann will wohl eine Autoverbindung schaffen. Die ist ja auch das sicherste.« Wingen schrieb Zahlen auf ein Blatt. Dann ließ er ein Kursbuch bringen. Sorgfältig zog er sämtliche Verbindungen Thüringens mit den Orten Besenroda und Esperstedt aus. Eine Weile saß er noch in Gedanken da und malte Figuren auf sein Papier. Schließlich schlug er Klaus auf die Schulter: »Das wird gemacht.«

53 Klaus sprang auf: »Oh, Herr Wingen! Da kann ich morgen schon die Masken –«

»Ach, Sie mit Ihren Masken.«

»Ja, Sie sagten doch aber eben –«

Wingen nickte ihm lächelnd zu: »Wissen Sie, was bei Ihnen da oben geschehen wird? Sie haben Glück. Passen Sie auf: Theater wird gespielt werden!«

»Theater?« stammelte Klaus.

»Theater, mein Freund. Dieser dritte Ort hat uns noch gefehlt. Das Schottenhaus liegt ausgezeichnet. Ich komme in nächster Zeit hin und sehe mir alles an. Wenn Ihre Angaben stimmen, haben wir nun ein ordentliches gleichseitiges Theaterdreieck in Thüringen: Arnstadt, Kranichstedt, Schottenhaus. Und so sollen Theater sein: zwei Fässer und ein Brett drüber, nicht so viel Marmortreppen und geschliffnes Glas und Samt und Technik und Großartigkeit.«

»Aber was denn nur für ein Theater?«

»Das Staatstheater, Schärtlein. Und Sie ernenne ich hiermit zu meinem Stabschef des Gastspiels Schottenhaus.«

»Ja, um Gottes willen –«

»Das freut Sie, was? Mich auch, daß ich's endlich habe. Prost, mein lieber Schmierendirektor.«

»Schmiere – wer spielt denn da?«

Wingen lachte: »Seien Sie ruhig. Um uns haben Sie keine Sorge. Wir führen ein Stück auf, das im achtzehnten Jahrhundert spielt. ›Der Blasebalg‹ heißt es. Die Besenrodaer werden Augen machen.«

Augen machen? Hatte Klaus das heute nicht schon einmal gehört? – »Welche Schauspieler treten denn auf?«

»Sie sind ja ganz verdonnert! Wer? Na, alle Rollen stehen heute noch nicht fest. Die männliche Hauptrolle spielt natürlich Lerp –«

»Oh, Lerp?«

»Und die weibliche die Schröter.«

»Die – ahhh!!«

Wingen nahm die Zigarre aus dem Mund: »Nun setzen Sie sich erst mal wieder hin. In aller Freundschaft – aber den dicken Burgunder da trinken Sie mir nicht wieder flaschenweise am hellen Tage, hören Sie?«

»Ich bin ganz nüchtern.«

»Das hab' ich eben gemerkt«, lachte Wingen.

Aber Klaus sah ihn mit schwimmenden Augen ohne Blick an und sprach leise: »Sei unbeständig, Glück.«

54 Jetzt hörte Wingen auf zu lachen: »Sie zitieren Shakespeare gar nicht schlecht, mein lieber Chambertin.«

Klaus sah die Strickleiter am Balkon schwanken, im Osten graute der Tag. Eile Romeo – dort kommt jemand – das ist die Nachtigall und nicht die Lerche – wohin, Geliebter? Nach Taschkent, sprach Herr Kortüm und hielt ihm einen ungeheuren Spieß vor die Brust: setzen Sie sich, Romeo.

Klaus schlief.

»Wir lassen ihn am besten erst richtig ausschlafen«, riet Pfund. »'s war je auch eine Leistung. Nee nee, da kann keiner was sagen.«

»Ich muß ihn aber unbedingt noch sprechen, Herr Pfund. Lassen Sie ihn nicht weg. Um fünf bin ich wieder hier.«

Um fünf machte Klaus ein verlegenes Gesicht, als Wingen zu ihm sagte: »Guten Morgen, Herr Direktor.« Aber Klaus Schart war doch wieder ein verhandlungsfähiger Mann und gab verläßliche Auskünfte. Wingen wurde immer zufriedener. Klaus schrieb noch seine Adresse auf, sah nach der Uhr und erhob sich.

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Mein letzter Zug geht. Morgen früh um acht habe ich Schule.«

»Schade. Frau Schröter kommt erst halb elf aus dem Theater. Ich hätte sie gerne gleich mit ihr bekannt gemacht. Na, also das Weitere schriftlich, bis ich komme. Und vergessen Sie mir nicht den genauen Grundriß des Saales zu schicken.«

Nach Taschkent, dritter, bitte«, sagte Klaus am Schalter.

»Häh?«

»Nach – nach Besenroda.«

Wohl hatte der Wirt Pfund bei seinem Abgang gesagt: »Na, nu geht's je wieder einigermaßen!«

Aber schwerer als der laue milde Burgunder hatte ihn der letzte Stoß dieses unerhörten Tages getroffen: »Schade, ich hätte Sie gleich mit Frau Schröter bekannt gemacht.«

Gott weiß es: das hatte Wingen gesagt!

Klaus trug in seinem Herzen das berauschende Gefühl, daß er, Klaus Schart, Schulmeister zu Besenroda, heute abend ein Bekannter von Konstanze Schröter geworden wäre – wenn sich nicht das Mißverständnis mit der Schule dazwischengeschoben hätte. Aber was tut das? Ich kann sie jederzeit besuchen. Als Mitarbeiter sozusagen. Zu ihrem Empfang in Besenroda werde ich selbst alles Nötige vorbereiten. 55 Ich bin am Bahnhof. Meinen blauen Anzug – nein, da muß ich den schwarzen Rock anziehen. Man müßte Girlanden – ja, ich werde mit Lotte reden. Lotte muß die Girlanden für Konstanze flechten. Das Transparent mache ich selbst. Illuminiert wird ja an dem Abend sowieso in Besenroda. Monich kann ein Feuerwerk abbrennen. Und Herr Kortüm gibt ihr das große Südzimmer, das mit Bad . . .

 


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