Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Mehr Bewegung

Der Schatten, den der Lohberg auf das Flügelhaus warf, wurde immer länger. Die Leitung des Sanatoriums trat in eine gemeinsame Beratung der Lage ein. Doktor Langloff, Mimi und der alte Kapitän überlegten ernstlich, was in der nahenden Saison anders zu werden habe. »Wie macht das dieser Kortüm eigentlich?« murmelte der Kapitän.

Nach Langloffscher Berechnung mußte der Lohbergwirt eigentlich am Ende sein nach diesem Winter und anfragen, was ihm die Langloffs für die Bewirtschaftung des Lohberghauses bieten wollten, er 664 habe keine Freude mehr an dem Betrieb. Aber Kortüm schien gar nicht an ein Zurruhesetzen zu denken. Er bereitete vielleicht sogar etwas Neues vor . . .

Mimi sah den Fall Kortüm nach Frauenart an: »Man müßte Herrn Kortüm nachmachen?«

Aber trotz Andermann gab es eben nur einen Kortüm, und einer ist immer mehr als zwei. Ein Kortüm ist nur dann weniger als drei Langloffs, wenn er vom Stuhl aufstehen will, einen Schwindelanfall bekommt und, seiner nicht mächtig, von Stannebein gerade noch am Arm gepackt und hinauf in sein Bett getragen wird. Eine Stunde lang war Herr Kortüm beinahe gar nichts mehr.

Die Nachricht von der Erkrankung Kortüms traf während der Sitzung im Sanatorium ein.

»Im Bette hält er gleich Ruhe«, knurrte der Kapitän.

»Nicht leicht zu nehmen, meine Herrschaften«, sagte Mickewitz, der im Vorübergehen das neueste Ereignis doch auch dem Herrn Doktor Langloff erzählen wollte.

»Schlaganfall etwa?« fragte etwas beunruhigt der Kapitän, dessen eigene Gesundheit die Teilnahme im Falle ernster Krankheit nahe genug legte.

Der eintretende Kellner unterbrach das Gespräch: draußen stände Stannebein – ob der Herr Doktor gleich mal aufs Lohberghaus kommen wollte.

In das tiefe Schweigen sprach Langloff: »Ich komme.«

Der Kellner ging. Die Vier sahen sich an. »Dich läßt er rufen?« sagte Mimi endlich. Ein dunkler Streif zog durch ihre Gedanken: es ist vielleicht alles ganz anders. Minuten vergingen, bis der alte Langloff die Verlegenheit brach. »Dich holt er. Da habt ihr ihn. Das ist Kortüm. Nun sieh man zu, mein Jung, un komm 'n bißchen rasch wieder. Ich bin doch neugierig –«

Der Doktor hatte an der Unterlippe genagt. Er griff nach seinem Hut und schüttelte den Kopf: »Jetzt bin ich Arzt. Sonst nichts.«

»Deuwel nochmal. Dieser Kortüm« – der Kapitän suchte nach seiner Mütze – »er stellt uns einfach an. Heute so, morgen anders. Als ob er bloß zu winken brauchte.«

»Ich sage ja«, begann Mickewitz.

»Hoffentlich ist es nicht schlimm«, sagte Mimi und zupfte an ihrer Bluse.

Die Sitzung war beendet. Der Kapitän stapfte durch die Diele. Er 665 blieb am Barometer stehen, klopfte ans Glas, sah den blauen Zeiger an, bemerkte aber nicht den Wettergrad, den er zeigte. »Der ist uns über«, brummte er und begann seinen Morgenspaziergang.

Doktor Langloff konnte erfreulicherweise Frau Wingen versichern, die Sache sei nicht bedenklich, aber der Kranke müsse das seinige tun. »Kortüms Konstitution. Zu wenig Bewegung. Na ja, er läuft nicht genug. Hier oben auf dem Lohberggipfel – das reicht nicht. Ordentlich bewegen. Ausschreiten. Er muß sich weite Wege machen.«

Langloff traute seinen Ohren nicht, als er diese Verordnung aus seinem Munde klingen hörte. Sekundenlang schloß er die Augen und kam sich irre vor, wie damals auf dem Maskenfest, als zwei Kortüms vor seinen Augen gestanden hatten. Wenn Doktor Langloff philosophischen Anwandlungen ausgesetzt gewesen wäre, hätte er sich jetzt in die Gaststube des Lohberghauses gesetzt, eine Flasche Wein verlangt und die alte Frage gestellt, was Leben eigentlich zu bedeuten hat. Der Leiter des Sanatoriums unterlag solchen Versuchungen nicht, er wiederholte nur noch einmal in aller Deutlichkeit seine ärztliche Verordnung: »Mehr Bewegung.« Für die nächsten Tage verlangte er natürlich unbedingte Ruhe. Doktor Langloff schrieb auch eine Arznei auf und gab die Diätvorschrift.

Langsam stieg er den Bergpfad hinab. Auf der Bank unten vorm Hause saß sein Vater.

»Na?«

In ein paar Worten schilderte Langloff den Zustand Kortüms. Der Kapitän war selber alt und hatte vor nicht langer Zeit so einen gewissen Erdgeruch in nächster Nähe verspürt. Wenn andre Leute mit einem blauen Auge davonkommen, ist das eigentlich nur ein Trost. Der Alte war beruhigt: »Wird also von selber wieder.«

Der Doktor sah an seinem Vater vorbei. Aus Nordwesten zogen Wolken hoch, bleigrau mit weißen Rändern . . . wenn das nur nicht Hagel gibt, die ersten Obstblüten sind schon auf. »Von selber?« Der Doktor schüttelte den Kopf.

»Nich ganz von selber« – der Kapitän nickte – »was die Doktors eben verordnen. Troppen –«

»Die würden ihm auch nicht helfen, Vater. Dieser Herr Kortüm da oben führt eine sitzende Lebensweise. Bewegung braucht er. Dann ist er gleich gesund.«

Da fegten die Wolken heran. Rasselnd spritzten die weißen Körner 666 auf die Steinplatten. Die beiden Langloffs traten in den Hausflur. Es war plötzlich dunkel. Der Hagel prasselte an die Scheiben.

»Meine Aprikosen sind hin«, seufzte der Doktor.

»Du, sage mal, du – du hast Kortüm mehr Bewegung verordnet?«

»Das einzige wirksame Mittel bei seiner Konstitution.«

»Hm. Ja. Natürlich. Wenn der Funker SOS aufnimmt, dreht man eben das Schiff in Richtung SOS und fragt nich, wer drin sitzt im Malheur. Ist selbstverständlich. Aber . . . hm . . . das laß ich mir gefallen. Deuwel, Dunnerkiel und Schwerenot, das ist doch mal was: Langloff verordnet Kortüm mehr Bewegung. Hm. Davon solln denn ja woll die Leute noch reden, solange hier 'n Stein auf 'm andern steht – du!« fuhr er den Kellnerjungen an, »bring mich mal 'n Püsterich. Aber 'n büschen fixing, du.«

Im Schottengelände hieß es erst, Kortüm sei tot.

Monich mußte im Laufe des Tages an mehreren Orten sehr grob werden, ehe das Gerücht sich legte. »Hanke«, sagte er zum Steinmetzmeister, der sich in seinem weißen Kittel an den Zaun des Werkplatzes gelehnt hatte, »dir nehme ich's ja zuletzt übel, wenn du sowas sagst. Du mit deinem Grabsteingeschäft un deinem Sargladen lebst eben vom Sterben. Wenn keiner stirbt, kannst du keine Steine setzen un keine Särge loswerden. Aber ihr solltet doch erst 's Maul abwischen, eh ihr sowas weiterredet.«

»Nischt für ungut, Monich. Ich habe je bloß gefragt, ob's wahr is.«

»Un dabei dein Sortiment angeguckt, ob was drunter is, was für Kortüm paßlich sein könnte, he? 'n schönen schwarzen Granit mit Engelskopp oder 'n Sandstein mit Palme – ich weiß schon.«

»Je, Monich – du verkaufst Unterhosen un Spitzenhemden un brauchst Lebend'ge dazu. Un ich, ich brauche eben schön viel Sterbefälle, sonst sitz ich da auf meinem Steinlager.«

Monich nickte zu der verständigen Rede des Meisters. »Jeder nach seinem Brot, Hanke. Aber 'n Spitzenhemde is eine lieblichere Ware als deine Grabkonfektion. Kortüm is so gesund wie du un ich; was meinste 'n, wenn wir auf sein Wohl einen zu uns nähmen?«

Die beiden Männer setzten sich an den Ecktisch im Dorfgasthof und besprachen die Aussicht der Fabrikation von Kunstseide, von Kunststein, und zuletzt betrachteten sie den Schaden an der verhagelten Obstblüte. 667

Mit dem Nachmittagszug traf Doktor Windhebel in Besenroda ein, um nach Schluß des Wintersemesters ein paar Wochen auf dem Lohberg in der Stille zu arbeiten. Monichs Aufklärungstätigkeit im Ort bewahrte ihn beim Aussteigen vor der Nachricht von Kortüms plötzlichem Ableben. Der Gepäckträger teilte dem bekannten Kortümgast nur die schwere Erkrankung des Lohbergwirtes mit. Betroffen stieg Windhebel den falschen Weg zur Schottenhöhe hinauf. Die Betonstraße ging er. »Wie geht's Herrn Kortüm?« rief Windhebel dem Milchmann zu, der mit seinem Wagen bergab fuhr. Der Mann hob statt einer mündlichen Antwort nur bedauernd die Peitsche und legte den Kopf auf die Seite.

Frau Wingen begrüßte den Gast und gab klarere Auskunft.

»Hm, kann man zu ihm?«

»Freilich. Er wird sich freuen.«

Lotte nahm ihren Armkorb und ging nach Besenroda hinunter. Windhebel sah erst in das Gastzimmer. Es war leer. Er stieg die dunkle Treppe hinauf. Oben strauchelte er und wäre fast gefallen. »Wer sitzt denn hier, zum Teufel? Tun Sie doch den Mund auf, wenn Sie jemand die Treppe heraufkommen hören.« Windhebel wollte auf die Mitteltür des Flures zugehen.

»Hier geht's nich rein«, sprach eine grobe Stimme.

»Ich will Herrn Kortüm besuchen.«

»Is nich zu sprechen.«

»Sagen Sie ihm, Doktor Windhebel wäre da.«

»Nee.«

Als nun Windhebel Miene machte, an die Tür zu klopfen, hielt ihn der Mensch am Rockzipfel fest: »Ankloppen is auch nich gestattet.«

»Ich wohne doch hier im Hause.«

»Ich auch. Un ich habe meine Order« – der Kerl zeigte unmißverständlich die Treppe hinunter – »un hoffentlich merkt das der Herr nich erst, wenn's zu spät is.«

Windhebel blieb nichts übrig, als auf Lottes Rückkehr zu warten. Er fragte, was da oben auf der Treppe im Dunkeln für ein Flegel sitze.

»Ach, das habe ich vergessen zu sagen. Sie kennen den Mann ja noch nicht!« rief Lotte. »Stannebein ist das. Ja, da kann ich auch nichts tun. Mich läßt er auch nicht hinein. Der Arzt hat Ruhe verordnet. Kaum, daß Monich einmal über die Schwelle darf.«

Windhebel überlegte eine Weile, dann ließ er sich einen Briefbogen 668 geben und schrieb: »Verehrter Herr Kortüm! Ich wollte Ihnen guten Tag sagen, aber vor Ihrer Tür sitzt ein Subjekt, das mich nicht anklopfen läßt. Ich begrüße Sie auf diesem Wege und wünsche gute Besserung. W. (Anschrift: Dr. Windhebel, zur Zeit Lohberghaus, Post Besenroda, Thüringen.)«

Der Gelehrte ging nach Besenroda, gab den Brief mit dem Vermerk ›Durch Eilboten bestellen‹ zur Post und berechnete, daß er frühestens übermorgen früh Antwort haben könne.

 


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