Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Lederne Bälge

Bettelarme Menschen müssen manchmal lachende Gesichter machen – in Besenroda unten ja bloß aus Papier und Farbe. Immerhin: tagaus, tagein mit Masken zu tun haben, nur und nur Masken – leicht werden da Larven zu Alben und knabbern ihren Mächern das Menschliche ab, bis auf die nackte Maske.

Nein, lachende Gesichter machen müssen – das ist kein leichter Beruf.

Aber einen Beruf gibt es, der ist noch schwerer. Gott sei Dank ist das ein seltener Beruf, der den Auserlesenen vorbehalten bleibt, dieser Beruf nämlich: Luft machen müssen für andere Leute.

Wenzel war der Name des Luftmachers zu Weimar. Wenzel war Bälgetreter. Wenzel drückte von Amts wegen Luft in die Orgelpfeifen, denn nur die ganz großen Orgeln an der Ilm konnten ohne Wenzel Musik machen. Nur in den wirklich modernen Pfeifwerken stak ein kleiner eiserner Schuft, rund wie ein Igel, der bloß einen Fußtritt bekam, um sofort die unglaublichsten Luftmassen von sich zu geben.

Als Wenzel vorm Jahr diesen seinen Amtsbruder zum ersten Male gesehen hatte, war er sehr traurig geworden. Der eiserne Schweinigel stank ein wenig nach Öl und brauchte laut beigegebener Gebrauchsanweisung fast keine Wartung. Er, Wenzel, roch weder nach Öl, noch kam er ohne Wartung aus.

Diese Wartung! Ja, es ist der Menschheit nicht zu verdenken, wenn sie sich allmählich abschafft und dafür Schweinigel aus Stahl einführt, die keinerlei Wartung bedürfen. Dann kann sie Tag und Nacht Orgel spielen zum Lobpreis des Allmächtigen, braucht keine Pause zu machen und nicht einmal Lohn zu zahlen nach dem letzten Fortissimogloria.

Nun, alle Orgeln waren noch nicht auf der Höhe unserer Zeit. Die Orgel der Friedhofskapelle zum Beispiel bedurfte noch der von Menschenhand gemachten Luft. Gleich neben dieser alten schönen Kapellenorgel führte eine kleine Tür in die Bälgekammer. Versteckt hinter der Orgel lag diese Kammer, Uneingeweihten verborgen – wie ja alles wirklich Lebenspendende und Lebenschaffende still in seinem Kämmerlein im Verborgenen wirkt, während die Leute die dicken glänzenden Orgelpfeifen im sogenannten Prospekt bewundern, jene stummen zinnernen Paradepfeifen, die überhaupt nicht wirklich pfeifen können, die nur wie akademische Fragen zum Ansehen im Leben herumstehen.

Das Gebläse der Kapellenorgel war veraltet, unverwüstlich und praktisch. An der hölzernen Wand der Kammer, welche eigentlich nur die 28 Rückwand der Orgel war, führte eine senkrechte Leiter zu zwei links und rechts von ihr in Führungen laufenden Bügeln. Wenn sich Wenzel in den einen Bügel stellte, mußte er die spiegelglatt polierten Handstangen anfassen und festhalten, denn sein eigenes Körpergewicht drückte den Bügel bis auf den Fußboden hinunter, wo ein Sandsack den Anstoß dämpfte: Wenzel fuhr in die Tiefe und bewegte damit das Hebelwerk, welches den Blasebalg in Gang brachte und den Luftkasten mit Odem füllte.

Vorne saß der Orgelspieler und ließ die Luft musizierend zu den Pfeifen heraus. Hinten stieg Wenzel an der Wand hoch, fuhr abwechselnd links und rechts in die Tiefe und füllte wieder nach.

Der Meister vorm Notenpapier, der Spieler auf der Orgelbank samt Chor und Pastor und Gemeinde – die können tun, was sie wollen: verläßt sie Wenzel, der Bälgetreter, im entscheidenden Augenblick, so hört ohne Gnade Musik wie Andacht mit einem kläglich gurgelnden Laut auf, und es ist aus. Darum lächeln Bälgetreter nur, wenn der Meister der Töne vor den Pfeifen gefeiert wird, aber des Meisters der Luft hinter den Pfeifen niemand gedenkt.

Wenn sich der hölzerne Riesenleib der Orgel zu regen beginnt in seinem Innern, wenn die Musik aus ihm herausdröhnt, so hört nur Wenzel, der Bälgetreter, wie die Orgel dabei stöhnt und ächzt, wie die alten Hölzer schleifen und klappen, wie dieser Leib zittert, wie tief er Atem holt, wie furchtbar er Luft schlürfen muß, um ein paar zerfahrene Menschen für eine Weile in Ordnung zu bringen.

In der Friedhofskapelle war der Dienst im allgemeinen ruhig und ordentlich, besonders wenn der alte Kantor Heim die Orgel spielte. Da stand vorne der Sarg mit den Kranzspenden drauf. Zu Beginn kam erst Orgelspiel, im Winter meistens kürzer, denn die Kapelle war nicht geheizt. Zu diesem Vorspiel wurde sehr wenig Luft benötigt. Stimmungshalber ging die Sache in Aeolina oder Vox angelica los und stieg selten über Violoncello. Dann redete der Pastor, und wenn's eine große Leiche war, kamen noch der Kriegerverein, der Sängerbund, die geselligen Vereine zu Worte – jedenfalls ließ sich genau übersehen, ob Wenzel in der Pause frühstücken konnte oder nicht. Näherten sich die Ansprachen ihrem Ende, so zog der alte Heim die Klingel. Wenzel stieg dann gemächlich die Leiter hinauf, rutschte links runter, stieg abermals, rutschte rechts runter und beobachtete den musikalischen Luftverbrauch. Der alte Heim spielte gut. Die Bügel stiegen langsam wie die gute Zeit in die Höhe.

29 Aber leider spielte die Kapellenorgel abwechselnd mit dem Kantor Heim der neue Organist, dieser Wingen. Der Dichter. Auf den war gar kein Verlaß. Sein Luftverbrauch war nie vorauszusehen. Eben noch trudelte das so schön hin. Gemütlich blies Wenzel die Luft in die Trauerfeier: da urplötzlich fing der Kerl an und zog, woran ein Mensch auf einer Orgelbank überhaupt nur ziehen kann – Akkordion, Posaunen, das gesamte Manual und Pedal geriet in Aufruhr. Und natürlich immer mit dem großen Crescendozug und allen Koppeln – das ganze Pfeifwerk wütete! Wenzel erstieg seine Leiter immer hurtiger und mußte sich immer ungebremster hinunterplumpsen lassen. Zuletzt kletterte Wenzel wie ein Affe senkrecht an der Wand hoch und fuhr wie ein Blitz in die Tiefe: »Eine Trauerorgel nennt der verfluchtige Kerl das!!«

Es war gut, daß mit der ungeheuren Zunahme des Luftverbrauchs auch die Tongewalt in der Kapelle ins Ungeheure wuchs, sonst hätte die Trauerversammlung schändliche Sprüche vernommen, die eines Bälgetreters unwürdig sind.

»Hörn Sie« – Wenzel setzte sich nach dem Abzug der Gäste erschöpft auf die kleine Holztreppe vor der Bälgekammertür – »hörn Sie, Herr Organist un Herr Dichter – wenn einer so lange Luft in seinem Leben gemacht hat wie iche, verträgt'r je was – aber Ihre Musike, nee, man denkt, verdammig, die Orgel schluckt die ganze Kirchenluft in sich 'nein.« Wenzel wischte den Schweiß von der Stirne. »Passen Sie nur auf, Sie orgeln noch mal die Kirche luftleer.«

»Wenzel, das kommt so über mich manchmal. Mich packt was, und dann schüttelt's mich, und ich kann mir nicht mehr helfen.«

»Nu, an der Orgel geht so was aber nich. Sie können doch dichten! Dichten Sie's doch aufs Papier. Da schad's doch keinem was. Aber wenn Sie's orgeln, müssen Sie doch bedenken, daß hinten einer is, der Ihnen die Luft dazu machen muß!«

Hm – Wingen ging auf dem Orgelpodest hin und her – hat er nicht recht? Ich habe bloß die Eingebung, aber der da pumpt sie voll Luft, daß sie heraus kann in die Welt. Nein, mehr noch: der schweißtriefende Kerl dort macht überhaupt erst Wirklichkeit aus ihr.

»Wenzel, so unrecht haben Sie eigentlich gar nicht.«

»Hä«, sagte Wenzel überheblich und nahm eine Prise.

Der Organist ging immer schneller auf und ab. Die dünnen Bretter des Podestes knarrten und dröhnten. Wenzel sah ihn von unten herauf an. Dann nieste er und sagte nach einer Weile: »Prost, mein lieber Wenzel. Zur Gesundheit.«

30 Aber Wingen merkte den Vorwurf gar nicht. Der ging wie ein Wachtsoldat auf und ab und dachte, was er auf seiner Bank vor der Orgel denn ohne Wenzel wäre – was denn? Ein Zappelmann, an dem schwarze Notenköpfe zerren, weiter gar nichts. Man muß das erlebt haben, um sein Nichts vor dem Manual dort zu begreifen, wenn ein Balg, ein leerer lederner Balg das einem beibringen will. Da sitze ich, Herr einer unermeßlichen Töneschar, und habe Gewalt über die Seelen der Menschen – dieser wunderbare Gedanke reißt mich fort. Ich spiele, drücke Tasten, Pedale, ziehe Register; die Mauern weichen, verdunsten, der blanke Himmel steht über der Orgelbank, Wolken ziehn über sie hin, da ein Schwälblein – plötzlich ein Röcheln, ein Pfeifenverschluß klappt, noch ein Holzklapp, und unerbittlich spannt sich ein schlechtbemalter gotischer Bogen über meinen Kopf – es ist aus. Aus? denkt der Organist. Er spielt, spielt: dieselben Tasten, dieselben Pedale. Totenstille. Die Tasten klappen nur mit ihrem Filzbelag leise auf Holz –

»Ja, lieber Wenzel, was wäre das Leben ohne den ledernen Balg!«

»Nu, nich gleich 's ganze Leben.«

»Doch Wenzel, das Leben ist eigentlich gar nicht wahr!«

»Hähähä.«

»Irgendein Fußtritt in die Lederbälge macht's erst wahr für eine kleine Weile!«

»So is es recht. Sehn Sie? Schrein Sie nur, un dichten Sie's raus aus sich. Aber nu denken Sie mal, wenn Sie jetzt noch auf der Orgelbank säßen un ich müßte die Luft machen, die zu so 'ner Aufregung nötig is!«

 


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