Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Ein neues Sternbild

Liese nahm die Teller ab und setzte bunte Tassen auf den Tisch. Konstanze speiste allein. Es hatte sich aber im Lauf der Tage gefügt, daß Herr Kortüm nach Tisch den Kaffee mit ihr trank und ein wenig plauderte. Er war der gute Wirt für Menschen wie Konstanze: das 171 Milchkännchen rückte er heran, den Zucker, öffnete das Fenster oder schloß es – wie gerade Wind und Sonne darauf standen. Er war zur Stelle und unterhielt sie, ohne daß er sprach. Herr Kortüm wartete, was ihr einfiel, und redete sich dann von ihr aus sachte in sein Allerweltserzählen hinein.

Heute war es ein bißchen schwierig. Konstanze drehte Brotkügelchen.

»Es wird wohl eine große Gesellschaft geben?«

»Aber nein, gnädige Frau. Es klingt bloß so weitläufig: Freitagsgesellschaft. Völlig geräuschlos. Das heißt – nun, einer ist dabei, der lacht ein wenig ungeschliffen. Wenn Sie einen kleinen Spaziergang machten in der Zeit? Ich konnte die Leute nicht länger fernhalten. Ein Gastwirt, wissen Sie . . .«

»Doch nicht etwa meinetwegen? Nein! Ich kann mir denken, wie neugierig die Leute auf Ihre silberne Windfahne sind. Herr Schart hat mir erzählt, jetzt endlich sähe man das Schottenhaus auch von Besenroda unten.«

Abwehrend hob Herr Kortüm beide Hände: »Mein Haus nicht! Meine Windfahne sehen sie im Ilmtal unten.«

»Reizend denke ich mir's. Ich werde mir nächstens den Schottenhügel vom Tal aus ansehen. Herr Schart kann von seinem Schulfenster aus mit dem Fernglas erkennen, wie der Wind hier oben steht.«

»Der junge Mensch sollte sich um den Wind im Tal kümmern.«

Konstanze lächelte: »Er kommt wohl oft?«

»Jeden Tag. Die Hochmoorflora untersucht er. Mit Moor scheint er meinen Teich auf der Nordwiese zu meinen. Es wächst außerdem noch gar nichts.«

»Er ist sehr fleißig, glaub' ich.«

Herr Kortüm zog die Augenbrauen, so hoch er konnte, und schwieg.

»Wenn's ihm doch nun Freude macht«, sagte Konstanze. »Sie sollten es rascher Frühling werden lassen.«

»Bedenken Sie, gnädige Frau: achthundert Meter hoch.«

»Ach was. Sie können alles. Sogar dem Wind befehlen, daß er weht, wie Sie wollen. Nein? Ich habe es doch gesehen! Ein Wink von Ihnen, und es gibt Westwind, Nordnordwest. Sie können einen Berg bauen, wie andre einen Stall. Theater lassen Sie spielen, Esel laufen – das kann nicht jeder.«

»Nein. Jeder nicht« – Herr Kortüm ließ den Kopf tief auf die Brust hängen – »nur: ich lebe davon.«

»Wir leben alle von unseren paar Kunststücken.«

172 »Aber Sie haben zahlendes Publikum. Sehen Sie: die Häuser da drüben – das ist Esperstedt. Porzellanindustrie. Dort liegt Besenroda. Masken und Thermometer. Und ich – allein hier oben.«

Kortümgeld, dachte Konstanze. »Ja«, sagte sie seufzend, »das kommt vom Obensein. Hoch und für sich wohnen ist ganz schön.« Sie stützte den Kopf in die Hand. Köstlich und bunt blitzte das Licht in ihren schönen Ringen auf.

»Eine knappe Stunde ist's bis zu mir, gnädige Frau!«

»Die Länge macht's nicht, Herr Kortüm. Auf die Straße kommt's an. Ich habe einmal gehört – vor langer Zeit – unsereiner müßte auf die Straße bedacht sein, die zum Lebendigen führt.«

Herr Kortüm richtete sich hoch auf: »Da unten soll das Lebendige sein?« fragte er und zeigte auf die Nester im Tal.

»Sie sagten doch, Sie leben davon.«

Eine ganze Weile war es still. »Da kommt ja Herr Schart.« Konstanze nickte ihm durchs Fenster zu. Dann klingelte die Haustür.

»Schon?« Herr Kortüm sah nach der Uhr. »Entschuldigen Sie mich, gnädige Frau. Die Herren erscheinen gleich.«

»Und ich mache Platz«, sagte Konstanze und wollte Klaus im Vorübergehen begrüßen. Aber er blieb vor ihr stehen: »Oh, Sie gehen? Ich hätte Sie gern etwas gefragt. Ja.«

»Was denn?«

»Ich interessiere mich nämlich fürs Theater.«

»Um Gottes willen! Ich denke für Hochmoorflora! Schreiben Sie etwa Theaterstücke?«

»Nein. Das nicht . . .«

»Hm.«

»Ich verstehe aber manches nicht.«

Konstanze lachte: »Ich auch nicht.«

»Sie haben doch die Julia gespielt« – Konstanze sah ihn blitzschnell durch ihre dunklen Augenwimpern an – »die Julia. Ich meine die Shakespearische.«

»Natürlich.«

»Die Julia liebt doch den Romeo.«

»Freilich.« Konstanze nickte. Klaus wurde langsam rot im Gesicht.

»Also Julia liebt den Romeo. Wenn Sie spielen, sind Sie doch die Julia Capulet. Oder sind Sie noch etwas daneben?«

»Nichts da. Die Julia bin ich.«

»Die Julia. Und Sie lieben also den Romeo« – ganz schnell sprach 173 Klaus die letzten Worte heraus. Er bekam Angst, daß er den Mut verlieren könnte zu der Frage, die ihn brannte seit jenem Eselritt unterm silbernen Schirm in der Wolfsschluchtnacht.

»Seine Maske liebt die Maske, Herr Schart.«

»Seine Maske. Ja. Und nun sind Sie fertig mit Spielen. Sie ziehen sich um. Etwa so ein Strickkleid ziehn Sie hinterher an« – Klaus tippte vorsichtig mit dem Finger auf ihren Ärmel – »es steht Ihnen wundervoll.«

»Wirklich?«

»Herrlich! Sie müßten immer in diesem Grün gehen! Das ist noch schöner als weißer Brokat. Ihr dunkles Haar und die weiße Haut –«

»Also ich ziehe mich um.«

»Ja. Sie haben sich umgezogen –«

»Gut –«

»Und Sie sind nun keine Maske mehr.«

»Weiß Gott – nein!«

»Aber nun lieben Sie am anderen Abend wieder einen anderen, etwa den Grafen Strahl –«

»Die Maske liebt, Herr Schart.«

»Hm. Ja . . .«

»Und die zieht sich dann wieder um.«

»Zieht sich um. Wieder um. Gewiß. Aber das geht doch nun Abend für Abend. Woche für Woche. Monat für Monat.«

»Und Jahr um Jahr, Herr Schart.«

»Kann denn eine Frau – ich meine –« aber jetzt scheiterte Klaus Schart. Die Worte kamen der Sache zu nahe. Er stammelte noch ein wenig. Er wurde völlig rot und sah sie hilflos bittend an. Das ging Konstanze nahe. Wie der arme Junge im Rätsel der Maske stecken blieb. Jetzt müßte Herr Kortüm kommen und eine Eselstraße bauen. Aber sie lächelte nicht. Anfangs hatte sie gedacht: ich muß mich ernst stellen. Sie brauchte sich gar nicht ernst zu stellen: kann denn eine Frau . . .

»Ja, Klaus Schart. Sie kann.«

Es war gut, daß draußen Lärm entstand. Dieser unheimlichen Situation war Klaus denn doch nicht gewachsen. Er war zwischen die Masken der Konstanze und den Leib und die Seele dieser Konstanze geraten und atmete plötzlich den betäubenden Duft des Wirklichen. Vor dem Haus erschallte Kufferts dröhnendes Lachen. Konstanze drückte die Klinke nieder: »Wiedersehen!«

174 »Auf – ja – aber ich wollte noch mehr wissen –«

»Es trifft sich schon mal« – Konstanze stand auf dem Treppenläufer – »nachmittags gehe ich immer spazieren.«

»Morgen hole ich Sie ab!«

»Morgen geht es nicht.«

»Übermorgen. Ja?«

Kuffert kam polternd zur anderen Türe herein. Auch Herr Kortüm und der Apotheker erschienen. Klaus hatte noch die Konstanzentür in der Hand, drückte die Klinke, als wenn er das Schloß abreißen wollte, holte tief befreiten Atem, machte die Tür ganz weit auf und schmetterte sie dann ins Schloß, daß ein Staubwölkchen aus dem Türgewänd dampfte.

»Hahaha, Schulmeister! Schmeißen Se Kortüm nich die Bude ein!«

»Hahaha«, lachte Klaus und gab dem Stuhl an der Tür einen Tritt. Verblüfft sah Herr Kortüm den stillen jungen Mann an. Aber Klaus rief: »Na, Apothekerchen!« und hieb Mickewitz zum Gruß auf die Schulter, »wie ist's mitm Schnaps?«

»Erlauben Sie.«

»Aber natürlich!« Klaus klopfte noch einmal und nahm Platz. Kuffert lachte aus vollem Halse. Er wußte nicht warum, aber der Krach freute ihn.

»Dieses Wetter, Herr Kuffert! Da muß doch sogar Ihr Porzellan Knospen treiben! Ein solcher Himmel! Was? Das ist Sonne! Da wird's einem wohl zumute nach dem gottverdammten Winter –«

»Mäßigen Sie sich, Herr Schart«, sprach Herr Kortüm. »Wir haben Leidende im Haus.«

»Fehlt Ihnen was? Nee? Na, uns auch nich! Aber'm Apotheker. Passen Se auf, wenn der jetzt anfängt. Haben Sie 'n neusten Skandal gehört?«

Mickewitz rieb seine Schulter. Er war bissig geworden: »Hehe, der Kurort Besenroda ist außer sich, und der Kurort Esperstedt ist empört.«

Und nun begann der Apotheker, ohne ein Mitglied der Freitagsgesellschaft anzublicken, mit niederträchtiger Behaglichkeit zu erzählen. Er schilderte, wie eifrig die armen Leute mit den Vorbereitungen für die Ankunft der Fremden beschäftigt seien. Sie strichen, sie lüfteten, sie ließen Prospekte drucken, Reklameschilder malen. Alles war gut und hoffnungsvoll. Und da – eines Morgens, bemerkten sie mit grenzenlosem Erstaunen ein schwebendes silbernes Wesen, das über dem 175 Abhang des Schottenhügels in der blauen Luft zitterte und Strahlen warf. Das Ding bewegte sich. Es leuchtete übers ganze Land.

Herr Kortüm saß immer aufrechter, machte einen spitzen Mund und kreuzte die Arme über der Brust. Schade, daß Monich das nicht hört, dachte er. Den Feuerwehrhauptmann hatte eine dienstliche Veranstaltung am Erscheinen verhindert.

»Hehe«, fuhr Mickewitz fort, »bis jetzt sah man ja das Schottenhaus nicht. Wegweiser gibt's wenig in der Gegend. Es störte den Kurbetrieb nicht. Und nun plötzlich das neue Reklameschild. Außer sich sind die Leute. Ich nicht. Ich habe ja meine Apotheke. Aber die anderen, die leben müssen vom Vermieten! Ei, ei, was haben die armen Leute nun für Sorgen wegen Ihnen, Herr Kortüm. Wie sich die Ärmsten nachts schlaflos im Bette wälzen. Oh, Sie sollten sie hören, Lieber. Da sitzt dort oben, sagen die armen Leute, ein großer Mann auf seinen Besitzungen und lockt nun auch noch die paar kümmerlichen Fremden mit einer nie dagewesenen Reklame an sich. Den gesamten Kurbetrieb der Landschaft will er an sich reißen, der Herr Kortüm, sagen die Leute, hehe.«

»Da haben Sie's«, lachte Kuffert.

Herr Kortüm war sprachlos. Als Mickewitz anfing, bereitete er sich im stillen auf eine würdige Entgegnung vor: er hätte das Opfer gern gebracht und wolle nur hoffen, daß dieses neue schöne Wahrzeichen der Umgebung zum Segen diene. Nun kochte es in ihm, und er beging seinen alten Fehler: er berief sich auf sein Recht. Derselbe Mann, in dessen Museum die große Maske mit den verbundenen Augen stand, berief sich auf sein Recht. Musik sei ihm verboten, sagte er. Ja. Aber Windfahnen könne er auf sein Haus stellen, so viel er wolle. Und ob denn alles das, was er in den langen Jahren für die Umgebung geleistet hätte, gar nichts bedeute, ob das alles vergessen sei? Ob alle möglichen Leute, die übrigens gar nichts von der Sache verständen, sich in den Kurbetrieb hereindrängen könnten und nur er beleidigt, gekränkt, hintangesetzt und um das Seinige gebracht werden dürfe. Ob denn kein anständiger Mensch aufstünde und sage: nun gedenkt erst einmal unseres Friedrich Joachim Kortüm!

»Wer bestreitet Ihre alten Verdienste, Verehrter?« sagte Mickewitz. »Es tut Ihnen ja gar keiner Unrecht! Hat die Umgegend Ihnen nicht in geradezu einziger Weise ihre Anerkennung zum Ausdruck gebracht? Mit Dankadresse und Gesang und Ansprache? Gott behüte! Als ob Ihnen jemand Unrecht tun wollte! Aber das Reklameschild auf Ihrem 176 Dache wollen Sie doch wohl nicht im Ernste eine Windfahne nennen. Diese maßlose Größe! Diese Höhe! Und wie es blitzt! Und das alles für den Wind? Hehe. Eine so rücksichtslose und über Leichen gehende Reklame, sagen die Leute unten, muß unsern Kurbetrieb ja ruinieren. Und auch damit nicht genug, sagen die Leute.«

»Was denn noch?« rief Herr Kortüm.

»Ich habe es gar nicht glauben wollen. Aber Fräulein Leibwein – wie jedermann weiß, eine leidende ältere Dame – klingelt mich plötzlich in der Nacht heraus und fragt, ob ich es auch sähe. Ein Komet! Ein Meteor stand am Himmel! Sie wissen natürlich nichts davon, Verehrter, aber ich muß es Ihnen doch sagen. Während wir alle, die wir hier an diesem Tische sitzen, friedlich in den Betten liegen und schlummern, haben ruchlose Hände Ihre sogenannte Windfahne grell beleuchtet« – die Augen des Apothekers standen nur noch einen Schlitz breit offen – »einen Scheinwerfer vom Motorrad müssen sie benutzt haben. Ihre neue Reklame glitzert schon am Tage aufdringlich. Aber glauben Sie: in jener Nacht warf sie Blitze. Direkt Blitze! Wir haben ja Läden an den Fenstern. Immerhin – nicht jeder verträgt das Schlafen im Dunkeln. Nun, mir kann es recht sein. Fräulein Leibwein hat in jener Nacht hundert Gramm Baldriantropfen gekauft. Hehe. Aber . . .«

Herr Kortüm hing nur noch auf seinem Stuhl. Der Kerl sprach die Wahrheit. Nur war sie falsch. Diese unselige Scheinwerferlampe hatte in einem Schrank des Schottenhauses gelegen. Beim Aufräumen war sie Herrn Kortüm in die Hände gefallen. Vor langen Jahren, in der guten alten Zeit, hatte sie an Festabenden die bunte sorglose Gesellschaft auf der Wiese vorm Haus beleuchtet. Es war getanzt worden in ihrem Scheine, gelacht und getrunken. Herr Kortüm hatte die erloschene Lampe kopfschüttelnd angesehen, der alten Tage gedacht: ob sie noch brennt? Er schaltete sie ein – wahrhaftig. Das Licht war noch da. Wer aber lebte noch von denen, die sie einst beleuchtete? Da kam ihm ein Gedanke: im Sommer müßte man diese Lampe wieder in Gebrauch nehmen! Die silberne Windfahne müßte sie ein paar Nachtstunden beleuchten! Er hatte einen Versuch gemacht und siehe – wundervoll strahlte die lachende und die weinende Maske auf in der Nacht, hoch über den Tälern und schwarzen Wäldern.

Herr Kortüm war ein gutes Stück in die Tannen hineingegangen. Es war ein laue feuchte Märznacht. Die Bäume dufteten und bewegten langsam ihre Wipfel. Wie sich Herr Kortüm auch stellen mochte, immer 177 sah er durch die Zweige und Nadeln sein Sternbild oben glitzern. Andächtig setzte er sich auf einen Baumstumpf und sah mitleidig die winzigen Sterne am Himmel an: das ist mein schönster Gedanke. Wie sich die Leute freuen werden, wenn sie ihr Wahrzeichen am Himmel erblicken. So war denn aus dem qualmigen Erlebnis in der Gruft, aus den Flammen des brennenden Sarges seines Vorfahren doch ein Gutes, ein Schönes erstanden! Vielleicht hatte der kränkende Abklatsch der blechernen Sonne dieses Sternbild bedeutet. Wie hätte er ohne Torstenson den Schwartenmacher gefunden, ohne Schwartenmacher das Sternbild! Wunderbar verflochten ist das Leben derer, die Gott lieb hat, dachte Herr Kortüm. Der Sommer wird gut werden. Die Fremden werden kommen und das Sternbild sehen wollen, das ich, ich Kortüm, habe aufgehen lassen über der Ilm –

Und nun dieses!

»Ärgern Sie sich bloß nich im Ernste, Kortüm.«

»Herr Kortüm«, sprach Klaus . . .

Er hörte nicht. Sein Kopf hing tief auf der Brust. Mickewitz wurde verlegen. Daß die Sache den alten Herrn so treffen würde, konnte er nicht ahnen. »Man muß auch an die anderen denken«, sagte er begütigend, »nicht wahr, Herr Kortüm? Weil doch der Mensch nun mal nicht allein lebt auf der Welt.«

»Nicht allein« – Kortüm sprach heiser – »nein. Und nun sagen Sie mir, Apotheker Mickewitz: wie hoch soll ein Mensch denn über euch wohnen und wie böse muß die Straße zu ihm sein, damit er euch nicht stört?«

 


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