Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die zornige Gegend

Das Wetter blieb schlecht. Nicht einmal mehr der Kolmberg war von Besenroda aus zu sehen. Zu Mittag noch wehrte sich die Morgendämmerung gegen den Tag.

Klaus steckte vorsichtig die Nase zur Türe des Schulhauses hinaus – trostlos. Er trat unter das Vordach und hielt die Hand ins Freie: ob es regnete oder bloß nebelte, konnte er nicht mit Bestimmtheit ausmachen und döste mißmutig in das Grau hinein.

Auch die Wirtschaftstür des Schulhauses ging auf. Zuerst wurde ein Besenstiel sichtbar. Dann hörte man, wie sich jemand räusperte und anschließend in den Nebel dieser Welt hinausspuckte. Schließlich streckte sich auch hier eine Hand heraus, prüfte die Niederschlagsmenge, und allmählich rückte der ganze Mann nach: der Schuldiener stellte sich vor die Tür und spuckte noch einmal.

»Die Luft geht auf die Knochen!« rief Klaus zu ihm hin und wollte noch mehreres anfügen über das Steigen und Fallen der Nebel im Gebirge, als er bemerkte, wie Albrecht bei seinem Anruf ruckte und nach einem schnellen Blick zu ihm hin wie ein Kreisel in seiner Türe verschwunden war – nur der Besen lehnte noch am Türpfosten.

Nanu, dachte Klaus, was hat denn der?

Der Nebel wurde immer dichter. Nach der Schule machte sich Klaus auf den Weg nach dem anderen Ende des Ortes. Es war an der Zeit, mit Lotte wegen der Girlanden zu sprechen. Klaus kannte die Ilmstraße, aber heute mußte er vorsichtig gehen. Nicht drei Schritt weit konnte er sehen. Schattenhaft tauchten von Zeit zu Zeit Gestalten auf und wandelten unerkannt vorüber. Ein Wagen kam. Der Kutscher hatte die Laternen angebrannt. Aber das Fuhrwerk war vom Nebel aufgesaugt, ehe Klaus die Pferde hatte schnaufen hören. Alles Leben versank lautlos in die nasse Luft. Nur aus weiter Ferne klang der Hammerschlag eines Schmiedes fein silbern und gedämpft.

»Hallo!« rief Klaus. »Aufpassen! Haha, Herr Hiebrich, das hat einen Zusammenstoß gegeben.«

»Häh?« – Hiebrich rückte die Mütze wieder aus den Augen – »wer is 'n das?« Er erkannte den Schulmeister – und war weg. Im Nebel verschwunden wie ein Betrug. Keinen Tritt hörte Klaus auf dem Pflaster: zum Donnerwetter, der Kerl muß doch noch dicht bei mir stehen!

Jetzt dachte er nicht, sondern jetzt sprach Klaus Schart: »Nanu!«

69 »Nanu?« wiederholte er laut. Kein Laut antwortete. Nur der Hammer pickte in weiter Ferne auf seinen Amboß.

»Wer mich sieht, reißt aus – zweifellos, ich wirke im Nebel als Gespenst auf meine Besenröder.«

Klaus tastete sich über die Ilmbrücke. Er sah den Maskenmacher stehen, der sich einen Bottich vor die Haustür gestellt hatte und Gazestoff auswusch.

»Die wird bei dem Wetter auch langsam trocknen«, sagte Klaus.

»Nee.«

»Vielleicht ist morgen wieder Sonne.«

»Nee.«

»Die gute Zeit ist eben vorbei.«

»Das spritzt. Gehn Sie weg.«

»Ich bin schon naß.«

»Daß Sie sich nur nich erkälten.«

»Dagegen hilft ein Grog.«

»Je – wer sich den leisten kann.«

Klaus wurde verlegen. Er faßte nach dem Kragen und knöpfte den Mantel auf und wieder zu. Was haben denn nur die Leute? »Ja«, sagte er unsicher, »viel kann man sich nicht leisten heutzutage.«

Platschend warf Albrecht die Gazewocke ins Wasser: »Wenn unsereiner um sein bißchen Brot gebracht wird – nee, dann nich!«

»Ums Brot?«

»Ums Brot! Un ich meine Sie!« – Albrecht rang die Gaze aus, daß der Stoff knackte, drehte sich um und klapperte auf seinen Holzpantoffeln in den Schuppen. Erschrocken sah ihm Klaus nach: mich meint er? Ich soll jemanden ums Brot bringen? Der Schulmeister fühlte sich im Recht. Er dachte gar nicht daran, die Grobheit einzustecken und mit ihr nach Hause zu gehen. Aber dem Maskenmann lief er noch lange nicht nach. Er riß die Haustür auf. August kam mit einem Stoß Pappschachteln die Treppe herunter.

»Wo ist deine Schwester?«

»Die Große?«

»Ja.«

»Die is hinten.« August setzte seine Schachteln auf den Boden und klinkte eine Tür auf: »Hier is sie.«

Lotte hatte ihr Plättbrett über ein Bett gelegt und bügelte. Sie probierte mit dem nassen Finger, ob die Plätte zischte. »Ach, Herr Schart.«

70 »Guten Tag. Sagen Sie bloß, Fräulein Lotte, wissen Sie, was die Leute gegen mich haben? Was fällt den Besenrödern ein! Der Schuldiener sagt nicht guten Morgen, Hiebrich reißt aus vor mir, und Ihr Vater wird grob – ich hätte ihn ums Brot gebracht.«

Lotte bügelte.

»Und Sie haben wohl die Sprache im Nebel verloren?«

Lotte hob die Plätte, legte eine Spitzenkante glatt und bügelte weiter: »Schön ist es auch nicht von Ihnen, Herr Schart« – sie mußte dabei genau auf die Spitze achten, daß sie sich nicht wieder verkrempelte.

»Was ist nicht schön von mir?«

»Na, daß Sie uns das große Maskenfest verdorben haben.«

»Ich?«

»Als Sie in Weimar waren, bei Ihrer Freundschaft vom Theater.«

»Ja – wer hat denn das gesagt?«

»Zapp hat's gestern in der Versammlung erzählt.«

»So. Und wo hat der den Unsinn her?«

»Von Fischern.«

»Ich möchte wissen, wie der Gastwirt dazu kommt, solche Lügen zu verbreiten.«

»Dem hat's doch Pfund gesagt, als er Bierfässer nach Weimar schaffte.«

»Pfund? Was denn für ein Pfund?«

»Na, Pfund! Der Wirt vom Marktkeller. Wo Sie doch mit den Komödianten gefeiert haben.«

»Sieh mal« – brachte Klaus mit einiger Mühe noch heraus, aber dann auch keinen Mucks mehr. Zwischen dem Bügeln sah Lotte von unten her ein bißchen nach ihm hin und mußte lächeln. Klaus wurde langsam dunkelrot. So ein Lumpenwirt, wollte er sagen. Aber der Spruch paßte nicht recht zu seinem Chambertin; er suchte einen anderen, es fiel ihm nichts ein, dabei rückte er an dem Plättbrett hin und her.

»Nein doch! Halt. Das fällt ja runter!« – Lotte setzte klirrend ihre Plätte auf den Untersatz. Sie lachte ihn an und wurde auch rot dabei.

»Ärgern Sie sich doch nicht, Herr Schart.«

»Wenn der ganze Ort stänkert, kann ich mir als Lehrer lieber gleich eine andere Stelle suchen.«

»Ach, nächste Woche is wieder was Neues. So was vergißt sich eins ums andre.«

»Aber Lotte – es ist doch gar nicht wahr!«

»Das bei Pfund?«

71 »Ach was, nein – na, das bei Pfund schon, aber ganz anders« – und nun fing Klaus an, der Lotte Albrecht Punkt für Punkt seine Reise nach Weimar zu schildern. Manches etwas ausführlicher, zum Beispiel die juristischen Zuständigkeitsfragen in Sachen Maskenmusik. Manches wieder etwas knapper, zum Beispiel die Wechselwirkung von Burgunder und Stichworten. Überhaupt, betonte Klaus, als er in die Nähe des Chambertins geriet, was könne denn er, ein Besenröder Schulmeister, dem Staatstheater gegenüber ausrichten! Nein, da sitze ein gewisser Wingen, Lotte wisse schon: Friedrich Wingen, der bekannte Dichter – ja der! Wingen sei eine einflußreiche Persönlichkeit. Was der wolle – na, Klaus müsse aber andererseits sagen: Wingen sei doch auch ein hilfsbereiter Mann. Hören Sie, mein lieber Schart, habe der gesagt, es ist sehr schade, daß Sie heute abend gleich wieder nach Hause fahren, ich hätte Sie sonst gleich mit – hm, na ja – wie man auch darüber denke: er, Klaus Schart, habe in Weimar so gut wie nichts getan. Das mache alles die Verwaltung des Staatstheaters. Aber das eine wolle er Lotte sagen: nunmehr würde er seinen gesamten Einfluß in Weimar aufbieten, nun erst recht, damit das Maskenfest doch noch zustande käme, jawohl, und er heiße Klaus Schart.

»Glauben Sie wirklich noch an unser Fest?«

»Natürlich! Das ist eine Kleinigkeit! Ah, da können Sie sich auf mich verlassen. Nächste Woche bin ich wieder in Weimar. Ich werde alles mit Wingen besprechen. Außerdem – verdienen denn die Besenröder etwa nichts an dem großen Gastspiel aus dem Schottenhaus? Die Eselstation muß eingezäunt werden. Ein Häuschen für den Mann, der die Eselkarten verkauft. Trinkgeld für die Jungen, welche die großen Schirme über die Reiter halten, wenn's regnet. Ja, und die Schirme selbst, jeder in einer anderen Farbe, zum Sattel passend. Sogar ein silberner muß dabei sein. Dann muß illuminiert werden. Es werden vielleicht auch Böllerschüsse abgefeuert. Und die Fahnen! Ach ja, und vor allem die Girlanden. Derentwegen bin ich doch gekommen.«

»Ich soll sie wohl machen?«

»Ja, Lotte. Am liebsten Sie. Zum Girlandenmachen gehören besondere Hände. Sie haben solche Hände. Zierlich wie lebendige Blumenstraßen müssen die Gewinde in der Luft schweben. Es kommen nämlich Leute, die dafür einen Blick haben. Erst mal Friedrich Wingen selbst, dann die Frau Schröter –«

»Wer?«

»Na, die Konstanze Schröter. Ich bringe Ihnen mal ein Bild aus der 72 Zeitung mit. Aber Photographien geben von einer so schönen Frau kaum den Schatten an der Wand –«

Klaus leckte in Gedanken seinen Zeigefinger an und tupfte auf die Plätte: »Die is ja bloß noch lauwarm . . .« Lotte beugte sich tief über ihre Plätterei und mußte tüchtig aufdrücken. Sie bekam von der Anstrengung ganz rote Backen: »Ach, daran liegt's. Ich habe über dem Schwatzen meinen Bolzen vergessen.« Sie schob die Klappe an der Plätte hoch, zog den Bolzen mit der Zange heraus – »nun muß ich aber« – und lief in die Küche: »Auf Wiedersehen, Herr Schart.«

Klaus stand allein da und guckte in die leere Plätte: ja, der Bolzen war fort. Und Lotte auch. Vielleicht konnte er ihr den heißen Bolzen tragen. In der Küche hörte er Lottes Mutter sprechen: ach nein, dachte er. Hinterherlaufen nicht.

Der Nebel war noch ebenso schlimm wie vor einer Stunde. Ein Geländer hatte der Weg an der Ilm nicht. Klaus mußte aufpassen, sonst lag er plötzlich im Wasser.

Ja, es wird ein strahlendes Fest werden, murmelte er trotzig und klappte den Mantelkragen hoch. Je nebliger Besenroda war, desto kerzenheller sah er den Saal oben glänzen – musikalisch festlich. Sogar der Bahnsteig erglänzte. An der Uhr etwa würde Konstanze aussteigen. Dort hielten die Wagen erster Klasse, das heißt, wenn die Besenröder Züge solche Wagen mitführten. Aber Konstanze fuhr ja sicher erster. Klaus fühlte immer noch den mädchenhaft und dennoch sinnlich tief beunruhigenden Blick der Julia Capulet in allen Gliedern – so würde sie nach dem Hügel hinaufblicken: dort oben also soll ich spielen, lieber Schart . . .

Achtung, da kam ihm ein Fuhrwerk entgegen. Nein, eine Schubkarre schien es bloß zu sein. Klaus spähte in den Nebel: paß auf, der mich sehen und ausreißen, ist eins. Ich bin ja der Zerstörer des Maskenfestes. Hoffentlich fällt er dabei wenigstens in die Ilm. Dann rette ich ihn, und die Besenröder sind wieder gut.

Aber der Schubkärrner machte keine Miene, in die Ilm zu fallen. Er hielt sogar, ließ seine Karre stehn und kam auf Klaus zu: »Na, haben Sie schon was abgekriegt? Hähä, die Besenröder sind je schöne geladen auf Sie!«

Bilmes, der verrückte Wildfütterer aus dem Forst oben.

»Was haben Sie denn da?« fragte Klaus. Er gedachte, die dumme Frage zu überhören.

»Viehsalz. In'n Wald nauf.«

73 »Jetzt? Salz?«

»Nee, 's kommt sackweise in den Schuppen beim Hachelstein. Wenn's trocken wird, wollen wir anfangen mit Streun. Das Salz gibt feste Knochen.« Der Evangelist lachte: »An Ihrer Stelle tät ich auch hin un wieder ä bißchen Salz lecken.«

»Was fällt Ihnen eigentlich manchmal ein, Herr Bilmes!«

»Gehn Sie bloß nich so weit zurück, sonst falln Sie noch ins Wasser. Was denn? An 'n Salzlecken is doch nischt Böses dabei. Der Mensch muß heutzutage gute Knochen haben, damit er schön im Stande bleibt. Jeder in seinem Stande, wissen Se?«

»Dann müssen Sie's Salz mit Schöpflöffeln essen, lieber Bilmes.«

»Sie meinen wohl, ich bin aus meinem Stande raus?« – Bilmes rückte seinen zerknüllten Hut ins Genick und sah den Schulmeister an: »Was wißt ihr'n von uns«, knurrte er.

»Von euch? Was soll das heißen?«

»Von uns – nu was ihr 's einfache Volk nennt.«

»Unsinn.«

»Hä? Na, passen Se mal auf: jetzt sind Sie Schulmeister. In zehn Jahrn Schulrat. Un wieder in zehn Jahrn vielleicht Schulpräsidente. Ich – nee, von mir wolln wir nich reden – aber Kersch, Sie kennen doch Kerschn? Also der is Holzhacker – heute, in zehn Jahren, un in hunderten, wenn er längst beim lieben Gott aufm Wolkenbänkchen sitzt, is er auch Holzhacker. Verstehn Se jetzt?«

Klaus schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Nich? Sehn Se, aus 'm Holzhacker kann zur Not ein Präsidente werden. So was hat's doch gegeben, he? Aber aus einem Präsidenten kann niemals nich ein Holzhacker werden. Merken Sie 's jetzt?«

»Also, Bilmes, ich habe wirklich keine Zeit mehr –«

»Immer noch nich? 'n Augenblick noch. Manchmal muß auch 'n Präsidente Holz hacken – wenn er Pech gehabt hat, 'n armes Luder geworden is. Aber zum Holzhacker aufsteigen kann er deswegen noch lange nich. Das is vorbei. Die andern Holzhacker werden bis an sein seliges Ende von'm sagen: das is der Präsidente – un wenn er keinen Hintern in der Hose hat un doppelt so viel hackt wie 'n Holzhacker.«

Jetzt sah Klaus den Salzstreuer groß an. Der Alte nickte: »Haben Sie 's jetzt? Ich muß nu« – er ging zu seiner Karre und faßte die Griffe.

Klaus starrte ihm nach.

Bilmes lachte. »Da gucken Se! Ihr wißt eben nischt von uns! 74 Holzhacker, wissen Sie, so 'n richtiger Holzhacker, der läßt keinen ran an sich. Sie können unserein' was vorreden – sehn Se, Schulmeister, die eine Hälfte arbeitet so« – Bilmes faßte die Karrengriffe, daß die Sehnen scharf aus der braunen schmutzigen Haut seiner Fäuste heraustraten – »die nehmen, was auf der Erde is, un machen, was sie können, un die laufen sich die Sohl'n ab. Un die andere Hälfte, die erfindet für das, was wir machen, Buchstaben un Zahlen un hantiert damit. Mit Sachen, die 's gar nich gibt –«

»Jeder an seinem Platze, Bilmes.«

»Na eben, das sag' ich doch! Die einen stehn auf der Erde, un die andern reden davon. Un wer bloß red't un alles bloß in Gedanken macht – nich mit seinen beiden Händen – wer nich wirklich was macht, der soll sich nich neinreden wollen in uns. Der weiß nischt von uns. Un wen wir nich kenn'n, der kann sich nich in unser Bette legen.«

Bilmes fuhr los. Verrückt ist er . . . dachte Klaus. Aber Bilmes blieb noch einmal stehen und rief zurück: »Lecken Se ruhig hin un wieder 'n bißchen Salz, Schulmeister. Das gibt feste Knochen, un der Mensch soll sich im Stande halten.«

Klaus blickte nach ihm hin, aber er konnte Bilmes im Nebel schon nicht mehr sehen.

 


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