Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Schlummerlied

Doktor Walter Langloff und Gattin begaben sich auf eine kleine Hochzeitsreise. Der Esperstedter Kollege übernahm die Vertretung, und der alte Kapitän, der den zweiten Teil des Hochzeitstages etwas still, aber doch noch recht angenehm in der Mitte der Seinigen verbracht hatte, versprach, die nicht medizinischen Belange in der Umgegend zu beobachten. Dazu war er jetzt sehr geeignet. Ein Hochzeitsvater, der keinen geringen Teil des Festes für sich im Badezimmer feiert, war ihnen neu. Sie gaben der Langloffschen Hochzeit den Namen Kortümhochzeit, so daß in der weiteren Umgebung jedermann zunächst einen Schreck bekam, der dieses Wort hörte, bis ihn jemand beruhigte: nicht Kortüm selber habe geheiratet. Die Besenröder erleben doch auf ihren Hochzeiten auch allerlei – die Kortümhochzeit weckte ihre Neugierde. Gern ließen sie sich mit dem Kapitän in längere Gespräche ein.

Auch Klaus rüstete sich zur Abreise vom Schottenhaus. In der Stille seiner gekalkten Stube in Hörsel wollte er arbeiten, ein Werk schaffen, irgend etwas – ein Drehbuch vielleicht, das ihm Bresche schlug in die große Welt, Geld brachte und Namen. Konstanzes Frage saß ihm als Stachel im Herzen: was sollte er anfangen mit ihr, in Hörsel, hinterm Walde? Die Liebe trieb ihn in die Welt, und Klaus war ja jung genug, um irren zu dürfen – wenn das ein Irrtum war. Er warf seine Wäsche in den Koffer, stopfte Stiefel, Bücher, Handschriften und Entwürfe nach, drückte gewaltsam den Deckel zu und machte sich reisefertig. Im Speisesaal saßen nur noch ein paar alte Damen. Der Kellner mußte Klaus die letzte Mahlzeit in die »Waage« bringen. »Das ganze Haus schläft ja ein«, sagte er. Der Bediente hob nur bedauernd die Schultern.

»Also Sie nun auch«, sagte Herr Kortüm langsam und legte die Rechnung auf den Tisch.

»Ich muß arbeiten. Einen Film vielleicht. Sie sind doch mit Utzenstorff befreundet. Könnten Sie mich nicht einmal mit ihm bekannt machen?«

»Zu meiner Zeit hatten wir soviel in der Welt zu tun, daß wir in Ihrem Alter nicht auch noch in der World hätten tätig sein können.«

Klaus lächelte. Davon versteht Kortüm nichts, dachte er. Lesen, Rechnen, Deutsch, Naturgeschichte, Schreiben, Singen und Turnen mußte er geben in wenig Wochen und suchte zwischen diesen Pflichtgewalten nach einer Fuge, weil Klaus hinter der grauen Mauer einen 490 Garten witterte, eine Freiheit, in der Orangen blühten und Konstanze lustwandelte mit ihresgleichen.

Herr Kortüm entzündete mit sehr langsamen Bewegungen die erloschene Zigarre, sah durch Feuer und Rauch seinen Gast an und begann endlich: »Herr Schart, ich würde die richtige Welt nutzen. In der erlebt man mehr. Heute zum Beispiel: da kommt das alte Fräulein Haupt zu mir. Erdmuthe Haupt, wissen Sie? Die Damen reisen ja morgen leider auch schon ab. Die andre, das Fräulein Bertha, ist kränklich. Will wieder nach Hause. Also Fräulein Erdmuthe bestellt die Rechnung, ordnet dies und das noch und kommt ins Erzählen. Ihr Bruder, sagt sie, ist Missionar. Ja, denken Sie: Missionar, Herr Schart. Vor fünfundzwanzig Jahren ist er in die Welt gegangen. Hierhin, dahin. Er war in Kaschgar, in Jarkand – immer so um den Pamir herum. Ich kenne die Gegend leider noch nicht. Sehr bemerkenswerte Landschaft. Die letzte Nachricht bekamen die Damen von einer englischen Station, Gilghit glaub ich. Das war vor zehn Jahren. Seitdem nichts. Verschollen. Nun stellen Sie sich vor: die zwei alten Damen, hier auf meinem Flügelhaus« – Kortüm stand auf und machte eine große Armbewegung nach Osten – »dort kommt erst der Hachelstein, weiter östlich die Saale, dann die böhmische Elbe, Herr Schart, immer weiter nach Osten – Donau, schwarzes Meer, Euphrat – noch weiter, Herr Schart! Noch ein Meer, Wüsten, dann tauchen Berge auf, immer höhere Berge, Riesenberge: ganz fern, blaßgrau, ein Hauch: der Pamir! Tausend Gipfel, zehntausend Schluchten, Täler, Ströme. Und dahin blicken nun die beiden alten Fräuleins Tag für Tag – von meinem kleinen Lohberg aus! Und nachts horchen sie, ob hinter den Felsen, dem Eis und dem Sand jemand ihren Namen ruft – über den Euphrat weg, donau-, elb-, saalüber und zu allerletzt noch über den Hachelstein weg: Herr Schart« – jetzt sprach Kortüm geradezu zornig – »leben Sie nicht in der World und tun Sie nicht Dinge, die es nicht gibt! Sollten Sie sich nicht besser der Dinge annehmen, die es leider gibt, wie?! Könnten Sie nicht mit sehr viel mehr Grund gelegentlich in die Pamirgegend reisen, nachdem Sie wissen, was ich Ihnen eben erzählt habe? Welchen Trost, und keinen bloß abendfüllenden, könnten Sie zwei alten Herzen geben. Sie sehen mich an, als ob Sie meinen Vorschlag weitläufig fänden – bitte: ist die World nicht viel weiter weg als Gilghit und Pamir?!«

Immer mehr redete Herr Kortüm, und als er jetzt auch noch anfing, die Realitäten ernstlich zu erwägen: die Fräuleins seien nicht 491 völlig unvermögend, würden möglicherweise seine Reise unterstützen – da ging Klaus vor Staunen der Mund auf. Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Klaus hatte, um Geld und Namen und Freiheit zu gewinnen, zu Utzenstorff gewollt – und dieser Mann empfahl ihm dafür, den verschollenen Missionar Haupt in der Wüste hinter Kaschgar suchen zu gehn! Konstanze, oh . . . Wo ist Klaus Schart? würde sie fragen. In Gilghit, Gnädigste, antwortete dann Herr Kortüm. Klaus sah ihn ja vor sich, wie er das sagen würde: so ganz nebenbei. Etwa wie: In Eisenach . . .

Klaus erkannte, daß eher Utzenstorffs World eine Grenze habe als Kortüms Welt – übrigens eine tiefe Erkenntnis, aber sie nützte ihm nichts, weil er sie noch nicht anzuwenden vermochte. Er wollte nun seine Meinung zur Geltung bringen.

Aber Kortüm bekam die Antwort auf Gilghit via Hachelstein plötzlich von einer anderen Seite: »Herr Kortüm«, sagte die eilig eintretende Frau Lotte Wingen, »ich habe die Rechnungen durchgesehen. Es fehlen ja alle Restrechnungen vom Umbau in der Mappe.«

»Die gehören nicht zur Saisonabrechnung, Frau Wingen.«

»Aber sie müssen doch bezahlt werden.«

Die furchtbare Richtigkeit dieser Worte konnte Kortüm so wenig von sich ablenken wie ein Nickelmantelgeschoß, das eben den gezogenen Stahllauf verlassen hat.

»Hm. Nun. Jawohl. Herr Schart, ich muß mich jetzt von Ihnen verabschieden. Wünsche Ihnen gute Arbeit. Aber an Ort und Stelle. Auf der Erde, hören Sie?«

Erde – Gilghit etwa? dachte Klaus und sah ihm nach, wie er sorgenvoll hinter Lotte in sein Geschäftszimmer ging.

Lotte hatte wenig Phantasie, aber sie sah scharf und unverrückt die Tatsachen. Keine noch so großartige Handbewegung Kortüms konnte sie über Lücken in der Abrechnung wegbringen. Wie sollte sie das Kortümsche: »Oh, da fällt uns schon etwas ein – morgen!« – wie sollte sie das in Ziffern hinschreiben? Heute ließ sie ihn gar nicht erst ins Planen kommen. Er mußte zuhören, bis sie alles gesagt hatte. Respektvoll hörte Kortüm zu, aber tun konnte er im Augenblick nichts als die Augenbrauen hochziehen. Man kann so schnell nicht einen neuen Weg entwerfen. Gewiß, es stand ums Flügelhaus nicht gut. Halb war es einen Monat besetzt, im nächsten ein Drittel, in diesen Tagen stand es vorübergehend zufällig fast leer. Das kommt vor im Gastwirtsgewerbe. Lotte kannte das nicht.

492 »Sie können dann die Bauzinsen am ersten Oktober nicht bezahlen. Die Vorräte für die Wintersaison, die Sie ausgeschrieben haben, kaufen wir nicht.«

Nachdem Kortüm mehrmals an dem Schrank mit den Kontobüchern vorübergegangen war, begann er wirklich zu rechnen. Mit Ziffern. Lotte erfuhr zunächst nichts von dem Ergebnis. Herr Kortüm schwieg. Eine Woche verging. Noch eine. Die letzten Gäste waren abgereist. Das Wetter war nicht günstig. Schon vor dem Umbau, in der »Silbernen Windfahne«, war es in solchen regnerischen Wochen lautlos still gewesen: im großen Flügelhaus mit seinen langen leeren Gängen wurde diese Stille beängstigend. Das Flügelhaus schlief ein. Ein früher Herbstwind sang das Schlummerlied.

Die ersten Blätter fielen. Auf der Erde platzten die Kastanien auf. Lotte ließ die Gartentische und Stühle im Hof zusammentragen und scheuern. In Besenroda unten wurde der Zeitungsständer auseinandergenommen und fortgeschafft. Aber der Uhrmacher nahm die Juwelen noch nicht aus dem Schaufenster, denn noch wohnten in Haus Hackemann genug Fremde – dem Aussehen nach bessere Leute, die gerade an Regentagen leicht einmal auf den Gedanken kamen, sich einen silbernen Tafelaufsatz zu kaufen. Auch die Auslage im Leinwandladen Monichs wurde neu gruppiert. Besenroda war noch recht lebendig. Auf den guten Wegen im Tal ließen sich auch bei Nässe Spaziergänge machen, welche – »hä« – im Schottengelände ums Flügelhaus oben längst unmöglich waren für zartbeschuhte Leute. Die Gäste in Haus Hackemann konnten ruhig eine Weile zusehen, wie das Wetter wurde. In der nun früheren Dunkelheit setzte der Uhrmacher die Lichtreklame in Gang, die Besenrodas Hauptstraße erst das kurortliche Aussehen gab. Und im »Besenröder Anzeiger« stand sogar ein Inserat, demzufolge Frau Mimi Langloff noch ein tüchtiges Hausmädchen benötigte.

Lotte hatte soviel Bedienung entlassen, daß Frau Langloff leicht etwas Passendes fand. Herr Kortüm versuchte mehrfach, Einspruch zu erheben: »Das macht keinen guten Eindruck.« Als aber eines Morgens das Zimmermädchen Hannchen in Hut und Mantel bei ihm eintrat und um ihre Papiere bat, beschloß Kortüm ernstlich mit Lotte zu reden: wollte sie das ganze Schottengelände schließen?

Mißbilligend sah er die Gartenstühle im Schuppen bereits übereinandergestapelt. Er fand Lotte beim Bettenklopfen. »Es können noch schöne Tage kommen, Frau Wingen.«

493 »Dann müssen die Gäste in die ›Waage‹ gehen. Ich habe kein Geld mehr in der Kasse.«

»Achtung, Herr Kortüm!« rief der Hausknecht, der mit dem Laufjungen einen Palmenkübel schleppte. Er trat zurück, wäre aber fast von einer Gardinenstange getroffen worden. Die Waschfrau nahm die Vorhänge ab.

»Halt!« befahl Herr Kortüm. »Das Erdgeschoß bleibt in Gang.«

»Neunhundert macht die Rate für den Dachdecker mit den Bauzinsen, Herr Kortüm«, sagte Lotte leise. »Zweihundert brauche ich für Löhne. Und dazu die Kassen. Sie können doch nicht Ihre Reserven ins Blinde ausgeben.«

Da war wieder das Nickelmantelgeschoß! Kortüm beschloß, die Lage noch einmal im ganzen zu überprüfen. »Überblick ist alles«, sagte er und verschwand wieder in seinem Geschäftszimmer. Hier hatte Lotte wenigstens die Gardinen hängen lassen.

»Sie hat ja recht«, murmelte er, »nur . . . hat sie ein wenig – spät recht.« Wenn er schon vorm Jahre eine solche Hilfe gehabt hätte, ginge es jetzt anders. Jedoch wahrscheinlich stände dann der ganze Neubau nicht.

»Nein, nein. Sie hat vieles, aber ihr fehlt der Weitblick.« Kortüm vertiefte sich in seine Papiere, weniger um zu rechnen – es gab ja nichts mehr zu berechnen – als um zu planen und einen wohldurchdachten Werbefeldzug zu entwerfen. Es gelang ihm bis zum Abendbrot aufs trefflichste: die Sache war großzügig, schlechthin zwingend – freilich ein wenig kostspielig.

»Und wenn sie wieder sagt: Geld?«

Lotte saß in ihrer Giebelstube und stopfte Strümpfe. Sie mußte aufpassen dabei. Die Lampe gab kein scharfes Licht. In diesem Raum hatte man den Glühkörper nur in eine Fassung an der Decke geschraubt. Das Zimmer war wenigstens nicht hoch. Herr Kortüm hatte ihr eine geschmackvolle Hängelampe in Esperstedt kaufen wollen: »Sie sind nicht mehr teuer heute, man kann sie auf- und niederziehen, und sie blenden nicht.«

»Ach danke«, hatte Lotte gesagt. »Es geht so.«

Die Stube war überhaupt ein recht schlichter Raum, hatte die zufällige Restform, wie sie sich manchmal beim Bauen von selbst ergibt. Niemand hatte die Wände harmonisch in die Dachschräge zu ziehen versucht. Aus des Malermeisters Pinsel war ein heller, graugrünlicher 494 Ton geflossen – ein paar Wochen zu früh wahrscheinlich für den frischen Putz, denn die Flächen durchzogen unzählbare feine Sprünge. Aber Lotte war zufrieden. In Haus und Hof hatte sie viel zu tun und freute sich, daß die kleinen Stuben leicht in der klaren Ordnung gehalten werden konnten, die sie zum Leben brauchte. Abends freilich und des Nachts war es um die Stube herum sehr still. Auch wenn das Flügelhaus bewohnt war, drang kaum ein Laut hier herauf. In diesen Regentagen aber hauste sie in einer gästeleeren Welt.

Nebenan schliefen die Kinder. Der Herbstwind blies in die Ziegel des Daches, und wo er konnte, klapperte er mit ihnen. Lotte legte Nadel und Faden weg. Ein Windstoß hatte den Laden drüben aufgeschlagen. Sie hakte ihn ein und schloß rasch das Fenster, gegen das sich der Wind stemmte. Aber das Brüderchen war doch aufgewacht, wälzte sich um und um in seinem Bett und verzog den Mund. Gleich würde das Schreien losgehen. Sie nahm das Kind aus den Kissen, drückte es an sich, flüsterte ihm Koseworte in die Ohren. Aber das Männlein blieb verdrießlich. Lotte nahm es lächelnd auf ihren Schoß und sang ihm leise das Schlummerlied vor, das immer geholfen hatte:

Im Dunkeln huscht die Fledermaus,
Drück deinen Kopf in meinen Arm.
Das Käuzchen schreit in seinem Haus,
Du bist geborgen und liegst warm.

Die Orgel hat den Klang verloren,
Sei still, schlaf ein, du hörst im Traum
Ein Lied, das nun für Gottes Ohren
Dein Vater spielt im Sternenraum.

Wer wacht, der hört die Menschen gehn,
Wer wacht, der sieht die Erde drehn.
Schlafe, schließ die Augen zu:
Und du
Bist du.

 


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