Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der neue Doktor

Weiße klare Sonnenglut stand auch heute unbeweglich über dem Schottengelände. Vielleicht der gemächliche Schritt eines Hausmädchens war auf den läuferbedeckten Fluren des Flügelhauses zu vernehmen – nichts sonst. Das Schweigen der zehnten Morgenstunde eines Schönwettertages, Herrn Kortüms liebster Stunde, hielt das Flügelhaus in langatmiger Ruhe. Die erste Post war herein, die nächste schlechte Post konnte nicht vor dem Nachmittag kommen. Auch die erholungsbedürftigsten Gäste hatten nun gefrühstückt und das Haus verlassen. Sie erschöpften im Gehen und Transpirieren ausgiebig alle die Kräfte, welche an Regentagen bekanntlich auf den Gastwirt zielen, der ihnen rücksichtslos das Geld abnimmt trotz des schlechten Wetters. Nirgends sah der Herr des Hauses unmittelbar drohende Gefahr. Sogar die World tat das beste, was sie nach der aufgeregten Nacht tun konnte: sie schlief.

Möge sie sanft schlafen und lange, dachte Kortüm, hängte den Rasierspiegel an den Fenstergriff und werkelte mit Seife und Stahlklinge in aller Behaglichkeit. Zuweilen sah er von seinem Spiegelbild weg auf den Kolmberg draußen, dessen frühmorgens tiefgrüner Hut um diese Stunde blaß im zitternden Blendlicht lag. Ganz fern im Walde oben schlug eine Axt, schlug, schlug gleichmäßig wie eine Uhr. Kortüm hörte auf mit Schaben und horchte . . . Ein fleißiger Mann, wollte er sagen – ihm standen schon von der Arbeit des Rasierens die Schweißtropfen aus der Stirn. Aber er horchte schärfer. Der Kies vorm Hause knirschte, und eine gedämpfte Stimme sprach: »Der Alte schläft noch.« Zornig gedachte Kortüm einen Gutenmorgenwunsch zum Fenster hinauszurufen, als eine andre Stimme sagte: »Sie haben je auch gesoffen die ganze Nacht. Weiß Gott, bis die Sonne aufging.« Und der erste Sprecher erwiderte: »Wo sie's nur hinsaufen.«

Nun legte Herr Kortüm das Rasiermesser auf die Marmorplatte und überlegte, was einem solchen Kerl zu antworten sei. Konnte man ihm etwa klarmachen, daß er, Kortüm, ein Wirt, in saurer Pflichterfüllung eine volle Nacht kein Auge zugetan und obendrein schwere Gespräche hatte führen müssen? Seine Entrüstung war so groß, daß Kortüm jetzt erst fragte: wer sind die Halunken übrigens! Vorsichtig beugte er sein zunächst nur halbseitig rasiertes Gesicht über den Fensterstein. Natürlich, der neue Kellner. Der Mensch saß auf der Türstufe, riß das Maul auf, gähnte. Neben ihm lagen die Messer und Gabeln, 382 die längst geputzt sein mußten. Und vor ihm stand der Hausknecht – »hähä« – zog langsam, langsam seine grüne Schürze über den Kopf – ob der Kerl die Schürze bis Mittag runter kriegt?

»Du«, sagte der Kellner, »der Portier is auch 'n Einfaltspinsel.«

»Der? 'n ganz aufgeblasner Faulenzer.«

»Weißte, was er vorhin zu mir gesagt hat? Portier, hat er gesagt, is mehr als Kellner. Der Portier rennt nich bloß rum un holt, was die Gäste wollen, der Portier muß 'n Gästen auch untern Hut gucken können, wenn sie zur Türe reinkommen, un mit einem einzigen Blick raushaben, was sie ausgeben.«

Der Hausdiener hatte die Schürze zu einem säuberlichen Päckchen gefaltet. Jetzt strich er die letzten Falten glatt und sprach dazu voll Verachtung: »Wenn man so denkt, wie so 'n Kerl in seinem Bratenrock mitn Goldknöppen rumsteht, reine nischt tut un bloß seinen Bauch in die Sonne hält –«

»Und eure Bäuche?!« donnerte Herr Kortüm hinunter. Seine linke Gesichtshälfte, dunkelrot vor Zorn, hob sich in heraldischer Klarheit von der eingeseiften rechten Hälfte ab; wie ein sprechendes Wappenbild erschien er zu Häupten seiner erschrockenen Diener: »Wie tragt ihr eure Bäuche herum in meinem Hause?! Voll, he! So voll wie eure Schädel, die mit Niedertracht gestopft sind! Gegen mich, der die Nächte durchwachen muß, damit ich euch die Bäuche füllen kann!«

Herr Kortüm schmetterte das Fenster zu, sprach sich noch rasch den Rest von Grimm aus dem Leibe und griff wieder zu seinem Rasiermesser. Erst ging es stockend, dann fuhr die Schneide sicher und ruhig durch den Seifenschaum: »So«, sagte er, »nach meiner Erfahrung hält eine Grobheit dieser Stärke zwei, vielleicht sogar drei Stunden vor. Dann bin ich wieder zurück.«

Er wollte nämlich die ruhigen Schönwetterstunden und den Schlaf der World benutzen, um den Besuch des Organisten Wingen zu erwidern. Der kranke Mann in dem engen Dorfhause unten tat ihm leid. Im Laufe des großen Nachtgesprächs über das Wesen Volk war das Bild des Organisten vor ihm aufgestiegen und gegen Morgen immer deutlicher geworden – müde, hinfällig, latenter Herzfehler akut geworden: so hieß ja wohl die Formel dafür . . . Kortüm glaubte den gelehrten Doktor Windhebel verstanden zu haben. Er fühlte sich beinahe tröstlich hervorgetreten aus einer unvergänglichen Grundsubstanz als eine Scheinform, die zu ihrer Zeit in sie zurückkehren wird: also weiterleben. Aber Kortüm seufzte. Windhebels lässige Handbewegung 383 angesichts der Scheinformen drang ihm jetzt noch mit einem deutlichen, wenn auch merkwürdig erfrischenden Schmerz in die Nerven – so scharf, aber so erquickend wie das Kölnische Wasser, mit dem er die wohlrasierte Haut eben betupfte. Was, zum Teufel, macht dieses manchmal bis zum Blödsinn schwere Dasein lebenswert? Nicht doch die Begegnung mit einer passenden Scheinform im richtigen Augenblick?

Lotte war mit ihren Kindern allein im Haus und ahnte nichts von dem nahenden Besuch, sonst hätte sie wohl rasch einige Vorbereitungen zu seinem Empfang getroffen. Sie stand in der Giebelstube und rührte in einem Teller Gips mit Wasser an. Dann zerklopfte sie Glasscherben mit der Kohlenschippe und mischte die Splitter in den Brei. Sie hatte alle Mühe, schön gleichmäßig zu rühren, denn ihr Töchterchen zog sie an der Schürze:

»Ich will auch was!«

»Das kannst du nicht essen, Hedchen.«

»Bloß du?«

»Ich auch nicht.«

»Warum machst du das?«

Lotte stellte den Teller auf den Fußboden, kniete hin und begann, mit dem Küchenmesser den Brei in ein Loch zwischen der Bodenleiste und dem Wasserrohr zu streichen.

»Machst du der Maus einen Brei?«

»So«, sagte Lotte und strich den Gips glatt, »nun kann die Maus nicht mehr in unsere Stube.«

»Will die Maus keinen Brei?«

»Knirsch machen beim Beißen die Mausezähne. Weil Scherben drin sind. Da sagt die böse Maus ›pfui‹ und läuft fort und kommt nie wieder.«

Hedchens Augen wurden groß: böse ist die Maus, Scherben nimmt die Mutter, und draußen muß bleiben, was böse ist. »Die Krankheit ist auch böse.« Lotte verstand nicht, welchen Weg die Kindergedanken gingen, und nickte seufzend.

»Ist Vater heute gesund?«

Die Mutter hielt den Gipsteller fest, schloß die Augen. Dann sagte sie ruhig: »Vielleicht, Hedchen.«

»Muß er in der Nacht wieder im Lehnstuhl sitzen?«

»Wenn die Krankheit wiederkommt.«

»Kommt die Krankheit wieder?«

384 »Sei still, Kind.«

»Soo viel Scherben mußt du machen und soo viel Brei« – mit ihren Kinderhänden zeigte Hedchen eine Berglast Scherben – »dann kann die Krankheit nicht mehr in unsre Stube.«

Hart stellte Lotte den Gipsteller hin, nahm das Kind in den Arm und drückte ihr Gesicht in das Schürzchen, das sie ringsum mit bunten Blumen bestickt hatte. Wie wollte sie in Scherben schlagen, was ihr gehörte, wenn das zertrümmerte Hab und Gut – sie riß das Kind fester an sich und preßte ihren Kopf an seinen Leib – wenn Scherben Krankheit und Tod aus dem Hause schlössen. Hedchen war erschrocken. »Mutti!« schrie sie und mühte sich, das blonde mütterliche Haupt mit den kleinen Händen aufzurichten. Im Nebenzimmer knackte ein Kinderbett. Das Brüderchen war aufgewacht und begann zu weinen. Da klopfte es an die Tür. Der Milchmann wohl. »Ja!« Lotte wischte sich mit Hedchens Schürze übers Gesicht, stellte das Mädchen auf den Boden: »Geh hinein. Gib ihm den Ball.«

Das Kind nebenan schrie lauter. Es klopfte stärker an die Tür.

»Ja doch«, sagte Lotte ungeduldig.

Die Tür ging auf. Erstaunt starrte Lotte den Besucher an. Aber Herr Kortüm nahm ruhig den Hut ab und sagte: »Die letzte Türe war es. Teufel, eine steile Treppe!« Hat sie verweinte Augen? »Hm, guten Morgen, Frau Wingen. Wie geht's? Haha, steile Treppen halten jung und elastisch. Wenn man gesund ist –«

»Bitte nehmen Sie doch Platz.«

»Freilich, nicht jeder ist gesund.« Kortüm rückte sich auf dem Holzstuhl zurecht. »Die meisten Leute sind erholungsbedürftig. Ihr Mann zum Beispiel. Solche Leute sollten grundsätzlich Erdgeschosse bewohnen. Ein Schritt, man ist im Freien. Ein Schritt, man ist im Bett. Ein Schritt –«

»Das geht hier im Hause nicht.«

»Lassen Sie ihn bei mir wohnen. Ein Flügelhaus ist mehr als zwei Apotheken!« Herr Kortüm kam ins Plaudern. Lotte sah den Besucher immer erstaunter an, der da von dem nötigen Maß Ruhe sprach, das der Mensch brauche, wenn er nicht ein trockener Flederwisch vor der Zeit werden wolle. Als grade bei diesen Worten aus dem Schlafzimmer kräftiges Kindergeschrei schallte, machte Lotte rasch die Türe zu, aber Kortüm sagte: »Nein, nein!« Nicht er, der Gastwirt, sondern sein Gasthaus sei ruhebedürftig: die World wohne nämlich im Flügelhaus. Ohne eine theaterkundige Stütze stände seine Gaststätte 385 voraussichtlich vor weiteren Schwierigkeiten, wie sie die vergangene Nacht in ungeahntem Maße gebracht habe. Wingen sei der Mann, den er jetzt zur Hand haben müsse: »Schon der Gedanke, einen Fachmann fragen zu können, beruhigt den verantwortlichen Leiter eines solchen Unternehmens, Frau Wingen. Ich habe grade ein nettes Zimmer im Erdgeschoß frei. Wir helfen uns schlicht um schlicht: Ihr Mann bekommt für seine Ratschläge kein Honorar, ich keine Pension, und dem Ruhebedürfnis sowohl des Flügelhauses als auch Ihres Mannes ist zu meinen Gunsten aufs beste gedient.«

Jetzt sah Lotte dem Herrn Kortüm ins Gesicht, der weiterhin in geschäftskühlen Worten bedauerte, daß er Wingens Erfahrungen zur Zeit nicht entbehren könne. Wingen müsse einsehen, daß man sich eben zuweilen aushelfen müsse. Lotte war Frau genug, um hinter der lauten World und dem ruhebedürftigen Flügelhaus den Herrn Kortüm stehen zu sehen, schlicht um schlicht: »Schönen Dank, Herr Kortüm. Wenn mein Mann nach Hause kommt, sage ich's ihm.«

»Nicht nur sagen. Man muß zuweilen anordnen. Ich werde ihm mitteilen, was wir beschlossen haben. Wo ist er?«

»Beim Doktor.«

»Ah, beim Nachfolger vom alten Starcke. Wie man hört, ist der Mann aus Norddeutschland.« Kortüm konnte ihr die besten Auskünfte über die dortige Medizin geben, versprach, Wingen entgegenzugehen, und gab Lotte die Hand: »Wenn Sie mit Ihrem Mann oben im Flügelhaus wohnen wollen – willkommen. Nur die Kinder, nicht wahr« – eben schrien sie, was zu den beiden Hälsen herauswollte – »die gibt man besser der lieben Großmutter in Pflege.«

Kortüm öffnete eben die Gartenpforte des Doktorhauses, als die Haustür aufging und Apotheker Mickewitz heraustrat.

»Sie sind doch nicht krank, Herr Kortüm?«

»Ich kann nicht klagen. Wegen eines Gastes komme ich. Wegen eines demnächstigen Gastes. Der neue Arzt und ich sind Landsleute.«

»Ah ja, Sie sind ja mit seinem Vater befreundet.«

»Vater?«

»Mit dem alten Kapitän.«

Kortüm starrte den Apotheker an. Sein Mund ging langsam auf. Aber er sagte nichts, ging ein paar Schritte, beugte seinen Kopf ganz nahe über das Türschild: »Dr. med. Walter Langloff, praktischer Arzt und Geburtshelfer« stand auf dem Messingschild.

386 Der liest lange, dachte Mickewitz. Jetzt richtete sich Herr Kortüm langsam auf und sprach: »Wer ist hier zuständig?«

»Wie?« fragte der Apotheker, der nichts verstehen konnte, weil ihm Kortüm immer noch den Rücken zudrehte.

»Der Alte versteht sich auf niederträchtige Glückwünsche. Und der da nennt sich auch noch Arzt?!«

Mickewitz wurde vor Neugierde ganz spitz. Er kam nahe an Kortüm heran, er beroch ihn beinahe wie ein unbekanntes chemisches Präparat: »Was sagen Sie? Etwa kein Arzt?«

»Ein Schiffsarzt!«

»Na erlauben Sie.«

»Kennen Sie seinen Vater? So. Aber ich kenne ihn. Ein magenkranker Mann. Warum macht der Sohn den nicht gesund? Als Gesellenstück sozusagen? Schiffsarzt, jawohl. Seekrank ist hier niemand. Ein Kurort braucht einen Landarzt. Der Mann versteht nichts von Landkrankheiten.«

»Haben Sie bestimmte – wie soll ich sagen – haben Sie etwas gehört? Erzählt man sich etwas?«

»Ich höre nichts erzählen, Herr Apotheker, ich sehe die Menschen an, und ich weiß, woran ich bin.«

Nun hatte Kortüm den Doktor Langloff ja leider noch gar nicht gesehen. Nur der Stachel jenes Glückwunsches ruckte immer wieder in der Wunde, und das Herumhorchen und Herumgucken in seinem Hause hatte Kortüm dem Kapitän auch nicht vergessen. Jetzt aber sah er plötzlich die Neugierde Langloffvaters in vielleicht wohlüberlegter Absicht an den Mauern seines Flügelhauses bohren. Mit kurzem Gruß ging Kortüm eilig an Mickewitz vorbei und zur Gartenpforte hinaus, ohne im Doktorhaus eingetreten zu sein.

Der Apotheker sah ihm lange nach.

»Potztausend«, murmelte er, »das ist doch mal ein Positivum.«

 


 << zurück weiter >>