Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die offene Wand

Auf dem Aussichtsturm des Brockens standen heute noch spät abends die Harzreisenden und blickten durch ihre Gläser nach dem Feuerschein im Süden. Von der Holzwarte des Inselberges starrten die Wanderer nach Südosten. Die nach abgekühlter Luft lechzenden Jenaer ließen ihre Lichtenhainer Holzkrüge stehen, kletterten auf den Fuchsturm und äugten nach Südwesten. Nur der Wärter des Schutzhauses auf dem Kolmberg stand einsam auf der Höhe und besah die Lichterscheinung im Schottengelände drüben; Wanderer, die dem Flügelhaus so nahe gekommen waren auf ihrer Reise, stiegen nicht erst auf den Kolmberg, sondern wanderten eine Stunde länger und feierten als ungeladene Gäste das große Maskenfest persönlich mit.

Vier Festplätze hatte Herr Kortüm im Schottengelände rüsten und beleuchten lassen auf viererlei dem Orte jeweils angemessener Art. In der Echostube brannten nur ein paar Kerzen auf dem runden Tisch unter der silbernen Windfahne. Den Schottenhof, die Festmitte, beleuchteten Fackeln. Rings um das Lohberghaus schwankten bunte Papierlaternen im Abendwinde. Auf dem Hachelstein aber loderte unter Aufsicht des Revierförsters Rab und einiger amtlich bestellter Waldhüter ein gewaltiges Feuer.

Auch musikalisch gab Kortüm jedem Gast das Seine. In der Echostube herrschte Ruhe. Es gibt ja immer noch Leute, die beim Trinken wie beim Arbeiten der Stille bedürftig sind. Auch auf dem Lohberg saß 631 keine Kapelle. Der weite Blick in die nächtliche Weite regte zum gelassenen Sprechen an, zum Erzählen. Wer zum Tanzen zu alt und zum Trinken zu jung war, fand hier oben eine anmutige Gesellschaft.

Vor den knisternden Flammen des hoch aufbrennenden Holzstoßes auf dem Hachelstein aber saß auf einem Felsblock ein einsamer Musikant. Unter sich auf den kalten Stein hatte der Mann ein Federkissen gelegt und neben sich ins Gras eine Flasche gestellt, die ein laufender Bote Kortüms in billigen Abständen durch eine volle ersetzte. Die knatternden Flammen fraßen sich lohend durch das trockene Geäst des Scheiterhaufens und winkten mit ihren goldenen Fahnen. Liebespaare wagten Hand in Hand den Anlauf, den Sprung durchs Feuer; andere lagerten Arm in Arm unter den Bäumen. Grellrot angestrahlt saß der verlassene Musikant Stunde um Stunde und blies auf Kortüms Befehl seine Oboe – nicht die scharfe Pikkola selbstverständlich, sondern die sanfte tiefere Oboe d'amore. Die Singvögel des Hachelgeheges blinzelten verwundert durch die Blätter; die Menschenkinder benahmen sich ja in dieser Augustnacht so still und friedevoll wie die sonstige Kreatur in warmen Nächten. Freilich kostete diese von einem einzigen Mann bestrittene Musikalisierung des Hachelsteins Herrn Kortüm nicht so wenig, wie man denken könnte. Der Holzbläser mußte mit Hilfe immer edlerer Weine gegen die Versuchung gestärkt werden, das schöne Instrument mit den blitzenden Silberklappen in das samtgefütterte Futteral zu packen und damit heimlich zu entweichen. Aber der köstliche Wein in ihm und das Raunen, das Schweben der lautlosen Liebe unsichtbar rings um ihn herum ließen den Musikanten immer singvogeliger, immer graziöser seine Gänge blasen. Über dem Hachelstein wölbte sich der nächtliche Augusthimmel. Die Stimmen und die Musik vom Schottenhofe klangen, eine abgerückte Welt, gedämpft hier herauf. Und am Anfang des einzigen Pfades, der zum Hachelstein führte, saß unter einem alten Eibenbusch Emil Wenzel, der Bälgetreter von der Friedhofskapelle zu Weimar. Wenzel wachte. Der undurchdringliche Schatten des giftigen Eibenbusches barg eine Fülle von Proviant – Wenzel konnte der Nacht ruhig ins Auge blicken und tat freudig seine Pflicht. Jedes Paar, das hinauf wollte und das große Feuer ansehen, hielt Wenzel an: »Ruhe hier, verstehn Sie?«

»Wir haben ja gar nichts gesagt.«

»Leise reden. Ich habe ja auch nischt weiter gesagt als: Ruhe. Weitergehn.« Wenzel verschwand in der Tiefe des schwarzen Eibenbusches.

Die erstaunten Gäste stiegen den Pfad hinan, sahen den Holzbläser, 632 sahen die züngelnden Flammen. Sie blickten sich um. Da schwankte ein tiefrot beschienener Zweig, stand wieder still. Ein Schatten bewegte sich im Gesträuch. Aus dem Walde klang leises Mädchenlachen. Rasch fand sich die Oboe in den Durklang, echote das Lachen. Nein, in dem Bergahorn dort saß eine Wildtaube; die lachte wohl eben . . .

Wenzel wachte. Er ließ nicht mit sich spaßen. Da kam zum Beispiel Doktor Halfke in Begleitung eines Technikers der World, der unter jedem Arm einen viereckigen Kasten trug, aus dem Drahtkabel heraushingen. »Sie können hier nich rauf.«

»Wir sind Gäste.«

»Mit Ihren Photographierkästen können Sie hier nich rauf, sag ich.«

»Das sind ja gar keine photographischen Apparate.«

»Mit was für Apparaten is mir schnuppe: hier kann mit überhaupt keinem Apparat raufgegangen werden.«

»Na erlauben Sie mal, ich bin Doktor Halfke von der World –«

»Un ich bin der Bälgetreter Wenzel von der Friedhofskirche in Weimar.«

»Ja, zum Himmeldonnerwetter – wer darf denn da nauf?!«

»Ruhe! Erstens, wer 's Maul nich so aufreißt. Un zweitens, wer nich etwan glaubt, er kann da oben seinen Beruf ausüben.«

Es blieb Halfke nichts übrig, als den Techniker fortzuschicken und Kitty zu suchen. Wenzel trank gerade, als die beiden kamen. Er wies nur mit dem Daumen über die Schulter. Halfke und Kitty waren schon halb oben, als Wenzel die Flasche absetzte und einladend sprach: »Bitte – ahh«, er wischte sich den Mund, »so laß ich mir 's eher gefallen.«

Die ganze Nacht bewachte Wenzel den Frieden des Hachelsteins. Er verstand sich ja auf Dominantakkorde. Erst das aufsteigende Morgenlicht fand den Treuen schlafend zwischen seinen Flaschen im Eibenbusch, und den Oboenbläser traf die Morgensonne schlummernd und das große Feuer verglimmend. Die Liebespaare waren angewiesen auf die Musik der Drosseln und Meisen, die schon bald nach drei Uhr morgens kameradschaftlich für den immer langsamer blasenden Oboisten eingesprungen waren.

Den Knotenpunkt des Festes behielt Herr Kortüm selbst im Auge; der fackelbeglänzte Schottenhof war nicht so leicht zu bewachen wie der Hachelstein. Für Wenzel genügte zur Maskierung der Eibenbusch. Kortüm mußte mehr an sich wenden. Ein langer weißer Bart, ein bis zu den Füßen reichender weißer Mantel, die weiße Mütze und weißen Schuhe trugen ihm den Namen Nordpol ein, aber sie entstellten ihn völlig. Niemand erkannte den weißen Mann. Eigensinnig hatte Kortüm darauf bestanden, daß die auf dem Podium in der Mitte des Schottenhofes spielende Kapelle zunächst nur die Streicher zu Tone kommen ließ und auch diese bloß con sordino. Die Leute machten zudem so altmodische Musik, daß kein vernünftiger Mensch danach tanzen konnte. Herr Kortüm befand eben die Gäste und die Stimmung noch nicht tanzhaft. Der erste Geiger spielte seine Melodie, Bratsche und Cello begleiteten sie wie Quellenmurmeln. Die Masken strichen aneinander vorbei, sie lächelten, warteten – es mußte doch bald Licht werden, Musik werden . . .

Als Utzenstorff den Schottenhof betrat und im schwankenden düsteren Fackellicht den Frauen ins Gesicht zu blickten versuchte, aber nur das farbige Wallen der Masken sah, die gedämpfte Geigenmusik vernahm, ging es diesem Spielgewohnten nicht anders als allen anderen: er glaubte das Fest nur zu träumen. Zum Tanzen brachten die Geigen die Gäste noch nicht, aber sie hielten sie in Bewegung – con sordino du und du.

»Ich wollte also von links her einen Zug Tänzerinnen –«, begann Nothnagel.

»Lieber, wollen Sie bitte noch nichts – ich bin sehr neugierig, was das wird. Ah, wenn du Violante sein solltest, schöne Frau –«

»– müßtest du meine runde World sein – halte meinen Umhang, Weltkugel. Es wird mir heiß.«

Utzenstorff stand mit dem Rosaflorhauch in Händen da, sah Violante im Gewühl verschwinden: »Wenn sie noch zweien so antwortet, hat die Gute nichts mehr an. Mmm!« Er legte das Mäntelchen um die Schultern seines Barockkostüms. »Geben Sie acht, Nothnagel, damit der Film nicht für Jugendliche verboten wird. Wo steht übrigens die Kamera?«

»Im ersten Stock. Zweites Flurfenster von links. Niemand ahnt etwas.«

»Mm.« Utzenstorff suchte in den Besitz einer Sektflasche zu gelangen.

Eben hatte Kortüm zu dem Kapellmeister gesagt: »Nun crescendo, mein Freund.« Die Musik schwoll an. Die Tänzer umfaßten die Frauen. Windhebel suchte sich rasch in Sicherheit zu bringen. Hart ging er an Kortüm vorüber. Aber er erkannte den Nordpol nicht. Hochbefriedigt lüftete Kortüm die Mütze ein wenig. Da legte sich ein Arm um ihn, eine Frau nahm den Erschrockenen ein paar Tanzschritte mit. »Steht mein Bett diese Nacht richtig, Herr Pastor?« sagte sie ihm ins Ohr.

634 Noch hatte sich Kortüm nicht von dem Schrecken erholt, da hörte er hinter sich sagen: »Ist es zu glauben? Uns hat dieser Kortüm das Kostüm zur Pflicht gemacht, in jede Kleinigkeit hineingeredet – und er? Da steht er in Zivil, mitten auf dem Podium und hat sich angezogen wie immer.«

Kortüm starrte nach dem Podium – – auf dem Podium stand Herr Kortüm und dirigierte mit einem riesigen weißen Taktstock – nicht die Musiker, das Fest dirigierte er! Er lenkte winkend eine Schar sehr gut tanzender und sehr geschminkter Mädchen zu einem Tisch, an dem festsitzende Trinker Zuflucht gesucht hatten. Die Mädchen scheuchten die Dunkelmänner aus ihrer Ecke.

»Bravo, Kortüm!«

Fast hätte Kortüm wie auf dem Podium in Holdermanns Atelier gerufen: »Ich stehe doch hier!«

Aber er besann sich: »Dieser Kerl ist Lerp. Er tritt als Andermann auf. Sieh da«, fügte er lächelnd hinzu und sah sich neugierig auf dem Podium stehen. Andermanns Augen waren überall – eben dirigierte er ein entzückendes Worldmädchen dem Grand Hotel in die kurzen Arme, um ihm beim Champagnertrinken behilflich zu sein.

Holdermann betrachtete scharfen Auges den unermüdlichen Andermann: »Fabelhaft«, sagte er bewundernd, »eine geschlagene Stunde habe ich ihn für echt gehalten.«

»Den da?« fragte ein Perser den Maler. »Wenn Sie Kortüm meinen – der ist nur so echt wie die alte Stephenson-Lokomotive im Kensington-Museum in London.«

»Nur«, Holdermann zeigte auf Andermann, »Kortüm fährt noch wirklich.«

»Umwege.«

Holdermann lachte: »Trinken wir auf die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, Ingenieur Müller. Es gibt schöne Mädchen hier, die haben noch das Gefühl für Ihren Grundsatz. Aber Sie müssen sich besser maskieren. Man erkennt Sie.«

Das Fest schwoll an. Kuffert spülte den Staub mit einem Pilsner hinunter und gab seinem Nachbar in der Türnische einen kleinen Stoß: »Ihrem blauen Frack sieht man auch von weitem an, daß Mickewitz drin steckt.«

»Dem da auf dem Podium sieht man den Kortüm noch eher an.«

»Das is was anderes, Mickewitz: Dem Kortüm steht Kortüm am besten. Der braucht sich nicht zu kostümieren.«

635 Immer rauschender spielte die Musik. Vom Lohberg schallte Lachen. Nur das Feuer auf dem Hachelstein lohte schweigend in die Nacht hinaus. Kortüm war auf dem Wege in die Echostube halben Weges wieder umgekehrt. Dort würden sie ihn nach drei Worten erkennen. Seit er durch Lerps Andermannmaske sein Inkognito doppelt gesichert wußte, fühlte er sich wohl im Verborgenen. Nur vor der Sconosciuta hatte er Angst. Kortüm begann hinter den Fackelbränden eine stille Ecke zu suchen – keine leichte Mühe. Die jüngeren Damen und Herren waren vor ihm auf den Gedanken gekommen.

Unter der silbernen Windfahne hätte sich's besser gesessen. Hier tranken die Masken, denen die Maskierung hoffnungslos mißlungen war. Jeder erkannte den Doktor Windhebel trotz seines Pierrotkostüms an der Nickelbrille und der schiefsitzenden Krawatte. Schwartenmacher hatte sich mit dem Umbinden eines ledernen Schurzfelles begnügt, und Monich verstand die Maskenfreiheit so, daß der Gast nicht nur den Rock, sondern auch die Weste ausziehen durfte, wenn er schwitzte. Warm genug war die Nacht. Schweißwischend trat Utzenstorff in die kühle Echostube und klopfte Windhebel auf die Schulter: »Wunderbar! Sie sollten eine Rede halten auf diesen Kortüm.«

Der Gelehrte nickte: »Der hat ein Hoch verdient diese Nacht.«

»Hoch soll er leben!« rief der Maurermeister Lorenz.

»Damit ist es nicht getan, Meister,« antwortete Utzenstorff nachdenklich. »Eigentlich wären Sie der Mann, welcher diesem Fest für Kortüm und die World zugleich den Glanzpunkt aufsetzen könnte.«

»Ich? Hä. Ich kann nich reden. Ich kann bloß mauern.«

»Eben deshalb; Sie könnten dem eingemauerten Herrn des Flügelhauses für eine Maskennacht den Weg freihacken in sein Eigentum.« Utzenstorff blinzelte aus ganz kleinen schlauen Augen in die Wachskerze: »Meister Lorenz schlägt Herrn Kortüm durch diese Wand ein Türloch auf den Schottenhof hinaus.«

»Los, Meister«, sagte Monich.

»Arbeiten soll ich?!«

»Wir helfen.«

»Das sagen Sie jetzt, un nachher gucken Sie zu un saufen«, sprach der erfahrene Mann.

»Doch bloß so groß, daß einer grade durchkann«, redete Monich zu, »die paar Steine hast du in einer halben Stunde nausgeschmissen.«

»Aber wer macht's morgen wieder zu?« fragte Windhebel bedenklich.

»Sehn Sie?!« rief Lorenz, »nischt wie Arbeit.«

636 »Hinsichtlich der Kosten halten Sie sich an mich«, sagte Utzenstorff.

»Ach so. Aber das hört man draußen, wenn ich hier kloppe.«

»Die halbe Wand können Sie einschlagen – niemand achtet mehr drauf. Die Masken haben jetzt mit sich zu tun.«

»Vielleicht kannst du mit der Musike im Takte kloppen, Lorenz. 's muß sich noch 'nmal so schöne hier drinne sitzen, wenn's draußen vorbeitanzt.«

Die Musik brauste. Ein Gast nach dem andern war trotz des Kostüms allmählich Mensch ohne Maske geworden – vom Gymnasiasten Willy Tips bis zum Pastor Arcularius, von Violante Sconosciuta bis zu Elvira. Selbst Utzenstorff hatte ungeachtet seiner hier noch auf ihn wartenden Berufsarbeit alle Mühe, annähernd so nüchtern zu bleiben wie der Regisseur Nothnagel, der als einziger das kalte Blut bewahrte und auch weiterhin Fachinger trank.

Weit in die Täler hinab hallte die Musik, und weit ins Land schimmerte der Lichtschein. Sehnsüchtig blickte der Provisor der Mickewitz-Apotheke aus der Tiefe Esperstedts hinauf in den Glanz der Festnacht, und der Besenröder Bahnhofsvorsteher sagte knurrend zu dem einzigen Fahrgast, der aus dem Nachtzug kletterte: »Un unsereiner – der hat Dienst.«

»Träger!« Es kam keiner. Diese Nachtarbeit gewohnten Männer betreuten heute die Garderoben und die Bierfässer. »Auto!« Es kam keins. Die Wagen standen vor dem Portal des Flügelhauses.

Die tiefe Ruhe auf dem Bahnhof machte den schlaftrunkenen Ankömmling munter. Ärgerlich wollte er den Bahnhofsvorsteher zur Rede stellen, aber er schwieg und starrte in die feuerscheinerleuchtete und musikumbrauste Höhe, wo er sein stilles Sanatorium wußte.

»Sie kommen grade noch zurecht, Herr Doktor«, sagte der Bahnhofsvorstand und begab sich in sein Dienstzimmer, nachdem er noch höflich gefragt hatte: »Geht's dem Herrn Vater wieder besser?«

»Ein Fest . . . ein Fest? . . . ein Fest!« rief Langloff auf dem leeren Bahnsteig. Nach einer Weile sagte er: »Also so war die Postkarte gemeint?« Die ansteigende Kurve der Einnahmen in Mimis Berichten hatte den Doktor gefreut, aber über Elviras Karte hatte er vergeblich nachgedacht: »Ein Gast ist angekommen, und wenn Sie bald abkommen könnten, wäre uns das eine rechte Beruhigung.«

Was ist das für ein Gast?

Und was ist das für ein Fest?

637 Langloff stellte seinen Handkoffer in das Dienstzimmer des Vorstandes und eilte die Betonstraße hinauf. Mit jedem der Laufschritte mehrte sich seine Sorge. Schweigend glühte nur, tiefrot und erhaben, der Hachelstein. Wer weiß, was dort geschah? Was im Flügelhaus vorging, konnte der Doktor auch noch nicht erkennen, aber er hörte es.

Mit einem Sprung setzte er über die drei Stufen des Aufgangs, wollte die Diele erreichen . . . »Halt!« rief ein Mensch mit einer lachenden Maske vorm Gesicht und hielt den Herrn des Hauses am Ärmel fest.

»Lassen Sie mich los!«

»Hier haben bloß Masken Zutritt!«

»Ich bin der Herr des Hauses!«

»Herr Kortüm is hier Herre.«

»Mensch!!«

»Zu dienen. Bauspack is mein Name. Küster an Sankt Marien.«

Langloff riß sich los. Aber nach ein paar Schritten blieb er schon wieder stehen. Da trank seine Frau aus einem Sektglas, stellte das Glas auf die Marmorplatte, auf die Kante nur, es kippte, zersplitterte am Boden. »Haha!« lachte ein junger Mann, warf sein Glas zu Mimis Splittern, umfaßte sie zärtlich und tanzte mit Mimi ab. Ehe der Doktor dem entschwebenden Paar nacheilen und dem Tänzer eine hinter die Ohren hauen konnte, bot sich ihm ein so lähmender Anblick, daß Langloff nach der Stirne griff: »Bin ich tot? Erlebe ich das im Jenseits? Denn hienieden kann das doch nicht sein.« Auf dem Sofa in der Kaminecke saß Elvira, die Wirtschafterin Elvira, sein Anker und seine Küchenhoffnung, die Verläßlichkeit in ihrer norddeutschesten Form – und ein kleiner spitzer Biedermeierherr beugte sich über ihre Hand, küßte diese, küßte Elviras Unterarm, ihren Oberarm. Elvira aber flüsterte: »Und wie heißt du wirklich?«

»Stichling, Teure. In meinen Jahren scherzt man nicht.«

»Ahh«, stöhnte Langloff, »der Gast. Das ist der Gast. Stichling heißt der Hund! Oder träume ich das alles nur?« Da strich doch eben Klemm, sein Oberkellner Klemm mit seligem Lächeln an ihm vorbei, sah ihm ins Gesicht und kannte ihn nicht. Langloff stierte in einen Pfeilerspiegel: »Ich bin's doch aber! – He, Kerl, kennt man hier im Hause nicht mehr den Herrn?« Klemm drehte sich gar nicht herum. Er schlenkerte nur die Hand ein wenig in Richtung der Hoftür: »Auf dem Podium sitzt er«, sprach er lallend und trank ein volles Sektglas leer.

Langloff gab der Tür einen Fußtritt. Sie flog auf – – –

638 Langloff schüttelte verständnislos den Kopf, er schüttelte ihn eine ganze Weile, als ob er ihn leerschütteln wollte. Da draußen auf seinem Schottenhofe, wo die Liegestühle für die Genesenden stehen müßten, wogte im düster glühenden wallenden Fackellicht tief farbig, glitzernd, schillernd eine Maskenmenschheit, sie wogte, drehte sich. Die Musik umströmte diese Menschen, die sich da küßten vor aller Augen, schmeichelnd, lockend – und – –

Da: Der Gast! Der Gast!!

In der Mitte des Podiums saß in einem geschnitzten Sessel der Herr Kortüm . . .

Andermann war das Stehen lang geworden. Er hatte Platz genommen: Bacchos im Kreise der Nymphen und Hirten, der Geist des Weinstockes, mächtig des Geheimnisses, Wasser in Wein zu verwandeln, den Tau der Wolke durch den Rebstock in Feuer. Inmitten der Seinen thronte Andermann, neben sich die Flasche, mit feuchtem Efeu kühlend umwickelt. Keiner von denen, die hier tanzten, sah eben jetzt den wahren Bacchos dieser Nacht in seine Echostube eintreten. Von Arcularius geführt, hörte Kortüm tief erstaunt des Meisters Lorenz Spitzhacke in die Steine der Mauer krachen. »Gleich gleich«, sagte Utzenstorff zu Kortüm.

»Gleich«, sagte Windhebel auf der anderen Seite der Wand im Schottenhofe zu sich selbst: der Kalk rieselte schon, bröckelte . . .

Zitternd vor Zorn aber wand sich Langloff durch das Maskengewühl und empfand einen fast körperlichen Schmerz; Gäste, die er von einem Bronchialkatarrh beinahe geheilt hatte, hielten eine dicke schwarzhäutige Zigarre in den Zähnen, Nervenleidende ein schlankes weißhäutiges Mädchen in den Armen, Herzkranke eine schwere volle Sektflasche in den Händen! Mit kräftigen Fäusten zerteilte der Doktor die Menge. Jetzt stand er vor Andermann:

»Herr Kortüm!« rief er drohend.

Andermann schien sich zu entsetzen: »Ein Mensch ohne Maske?!«

»Aus!« schrie Langloff die Musik an.

»Blast ihn hinweg!« Andermann hob gewaltig den weißen Taktstock: »Hörner, Trompeten! Die Baßtuba – wettert ihn hinaus!«

»Sie ruinieren mich und mein Haus!«

Mit einem Zauberschlag ergoß sich eine grellweiße Lichtflut über den Schottenhof, blendend schossen baumstarke Lichtbündel aus Scheinwerfern vom Dache herab. Das Fest lag in blitzendem Tageslicht. Näher kommender Gesang klang aus. Aber ehe sich Langloff noch gefaßt hatte, polterten, rumpelten Steine, krachend brach die Wand auf –

639 »Mein Haus stürzt ein!«

In dem weißblauen Licht blitzte eine Spitzhacke auf. Eine Schar Tänzerinnen, ein lebendiger Schleier, wehte heran – durch die aufgerissene Mauer trat ein Mann, ein Mann ohne Maske, im schwarzen Rock: der Herr Kortüm! Langloff sah zurück, er wurde irre an sich; auf dem Podium im geschnitzten Sessel saß Herr Kortüm – der Kortüm winkte dem Kortüm zu . . .

Langloff stolperte über einen Draht am Boden, der Draht bewegte, straffte sich. Langloff sah neben sich einen maskierten Menschen einen Fernsprecher an den Mund nehmen und hörte ihn hinter der schützenden Hand sagen: »Scheinwerfer drei mit Blauscheibe. Rechts mehr dämpfen. Volles Licht auf die Gruppe links.«

»Halt!!« schrie Langloff – da war es Nacht.

Allmählich erst sah das geblendete Auge die düster lohenden Fackeln wieder, die tanzenden Masken . . .

 


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