Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Konstanze im Spiegel

Herr Kortüm stellte trübe Betrachtungen an: Freunde sind eine Gnade Gottes. Aber der Weg zur Hölle ist mit guten Bekannten gepflastert. Niemand kommt ohne die guten Bekannten aus. Ob man sie haben will oder nicht – sie haben jedenfalls uns, dachte Herr Kortüm. Die guten Bekannten begleiten uns freundlich durchs Leben. Begegnet uns das Glück, so feiern sie mit uns. Bleibt das Glück zu lange in unseren Armen liegen, tun sie das ihrige, daß wir es wieder los werden. Trifft uns wirkliches Leid, können wir auf ihren Kondolenzbesuch rechnen. Bedürfen wir einer Stützung, so sind sie guten Rats voll. Müssen wir fünf Mark von ihnen fordern, fehlen ihnen genau 178 fünf Mark zur Sommerreise. Aber wenn wir begraben werden – dessen sollen wir uns getrösten: die guten Bekannten stehen alle wie eine Mauer um unser Grab und geben uns die letzte Ehre. Denn wer sollte sie uns sonst geben?

Herr Kortüm neigte in diesen Tagen zur Ungerechtigkeit: er hätte sich auf seinem Privatfriedhof nun auch Monich vorstellen müssen, in der Feuerwehrhauptmannsuniform, mit seinen Orden auf der Brust und einem Immortellenkranz unterm Arm. Und – an Frau Konstanze hätte er denken können – mit einem selbstgepflückten Veilchenstrauß in der Hand. Jedoch Herr Kortüm wollte, daß ihm die Welt weh tat. Bis in seine Seele war Herr Kortüm gekränkt und beleidigt. Die Selbstgerechten beugten sein Recht mit dem Schein des Rechts.

Die silberne Windfahne zeigte Südwind an, und Kortüm mußte auf der Bank vor seinem Hause diesen soeben eingegangenen Brief lesen: »Der von Ihnen im Jahre 1912 am Abhang des Schottenhügels, Flurstück B 318, gepachtete Acker ist trotz dreifacher Anmahnung seit zwei Jahren und sieben Monaten nicht mehr ordnungsgemäß bestellt worden. Beweis: Augenzeugen. Ihnen wird hierdurch mitgeteilt, daß die Aufhebung des Pachtvertrages hierseits eingeleitet worden ist, ferner wird . . .«

Dieser Schlag traf die Fundamente des Schottenhauses. Nicht um Kartoffeln zu bauen, hatte er die Flurstücke gepachtet, sondern um die Zupflanzung seines Grundstücks in Richtung auf den Kolmberg zu verhüten. Die Südwiese, die offene Südsonne, der freie Blick auf den schönen Berg im Süden – das war der Sinn seiner Gründung hier oben im Gebirge. Freilich ließ er diese Ackerstücke gesetzwidrig brach und unbebaut liegen. Weder Geld noch Arbeitskräfte standen ihm nach dem Kriege zur Verfügung.

Sobald Herr Kortüm in Streit mit der Umgegend geriet, wurde ihm mit Wegnahme der Pacht und Aufforstung gedroht: »Da müssen eben Bäume hin! So war's je auch früher! Das Holz hält den Nordwind ab. Nachher wächst's auf den andern Äckern noch 'nmal so schöne.«

Jedesmal nach einer solchen Kriegsdrohung milderte Herr Kortüm seine knappe Hamburger Aussprache, Monich vermittelte, und die unbestellten Äcker blieben bis zur nächsten Schwierigkeit unangefochten liegen.

Eingeleitet worden ist die Aufhebung des Pachtvertrags, stand aber in diesem heutigen eingeschriebenen Briefe. Herr Kortüm stieg langsam die Treppe hinauf, ging in sein Zimmer und setzte sich auf 179 den Bettrand. Da drüben lag der herrliche Berg. Wie die Sonne auf die Südwiese strahlte! Dort würde nun elendes Gestrüpp hochwachsen, später Tannen – der blaue Berg verschwindet. Die Sonne kann nicht durch das Geflecht dringen. Im April noch liegt die sanft geneigte wundervolle Wiese grau und bleich da wie andere Waldblößen. Auf die Terrasse mag sich kein Mensch mehr setzen. Mit seinem Sinn verliert das Schottenhaus seinen Wert. Nie wird sich ein Käufer finden für diese nun zwecklos großen Gebäude auf einer Waldlichtung. Grübelnd ging Herr Kortüm auf und ab, auf und ab, ruhelos.

Konstanze wartete vergebens mit dem Kaffee auf Herrn Kortüm. »Wo steckt er denn, Liese?«

»Er hat sich eingeschlossen. Ich weiß auch nich, was is, gnä Frau.«

Statt ihr etwas zu erzählen – vom Brunnenbohren, vom Türkenfriedhof in Ejub, von der Herrlichkeit alter echter Teakholzdecks – schloß er sich ein. Sie freute sich, als sie Klaus kommen sah.

»Besseres Wetter für unseren Spaziergang können wir uns nicht wünschen«, sagte Klaus.

Unsern Spaziergang? dachte Konstanze – sie hatte Scharts »Also übermorgen« vergessen. Er wollte mit ihr spazieren gehen. Warum nicht? Herr Kortüm konnte sich ruhig ein bißchen ärgern, wenn er hörte, daß sie mit dem jungen Mann im Walde war.

»Bestelle es, Liese. Wann ich zurückkomme, weiß ich nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Klaus.

Hier standen die Veilchen.« Konstanze zeigte auf die bleichen vorjährigen Gräser, unter denen schon ein wenig frisches Grün leuchtete. Klaus suchte. Er fand keine Veilchen. Konstanze kniete ins Gras und hatte im Nu drei, vier Blüten in der Hand.

»Oh«, sagte Klaus, kniete auch hin, um besser sehen zu können, hielt aber nur ihre Hand fest und roch an den Blumen: »Ja, es sind welche.«

»Wenn Sie mit der Nase Veilchen suchen, haben Sie's freilich schwer.«

»Ja«, seufzte Klaus und sog den Duft ihrer Hand ein, »ich habe es schwer.«

»Glaub ich, Herr Schart. Der Herr Kortüm hat mir erzählt, daß Sie die Pflanzen im Teich untersuchen. Wenn Sie da auch jedesmal die Nase hineinstecken müssen, werden Sie bald ein Fisch sein.«

Sie war aufgestanden. Klaus blieb selbstvergessen knien und sah sie 180 mit halboffenem Munde an. Konstanze trat einen Schritt zurück, beugte sich hinab zu ihm und rief: »Steh auf, Herr Schlei!«

Klaus kam hoch, bewegte die Lippen nicht, die Arme nicht. Ungeschickt. Steif wie ein Schnitzbild. Und sah sie unverwandt an, als ob sie eine wehrlose Museumsfigur auf einem Sockel wäre. Konstanze hätte auch nicht so leichtfertig sprechen müssen. Sie war Spielen gewohnt – Jahr um Jahr spielte sie. Aber Klaus nicht. Der nahm Worte für Leben. Konstanze ahnte nichts von dem Abgrund Wirklichkeit, an dem sie lächelnd mit ihrem Veilchensträußchen spazieren ging.

Ihr Weg ging unter jungen Eschen hin. Grell schien die Sonne durch die leeren Zweige, die ein huschend wechselndes Schattengitter über sie warfen. Konstanze sah durchsichtig zart in diesem zitternden Lichtspiel aus, aber kräftig, fast jungenhaft schritt sie neben Klaus hin. In ununterbrochener Übung hatte sie ihren Körper gestählt. Die biegsame beherrschte Frische dieser verletzlichen Zartheit hatte Klaus noch nie an einer Frau erlebt. Sehnsüchtig sah er Konstanze von der Seite an. Ein Vorfrühlingskleid trug sie, und viel zu früh verschwand ihr Hals in dem elegant zusammengeflickten Trödelkram. Konstanze sah nicht nach ihm hin. Sie fühlte seine Blicke und nagte lächelnd an der Unterlippe. Wenn sie einen Schal mitgehabt hätte, würde sie jetzt vielleicht sagen: es zieht, und ihren Hals einwickeln. Das hatte sie nicht nur den Dichtern aus den Rollen abgeguckt: auch gute Frauen halten solche Quälerei nicht für Raub. Sie ist ihnen vielleicht eingeboren – nur beschweren sollen sie sich nicht, wenn dann der Löwe plötzlich brüllt und mit drei Tatzenschlägen den Käfig einreißt.

»Da, die Amsel!« rief Konstanze leise.

»Die fliegt, wohin sie will«, sagte Klaus träumerisch und sah die Amsel nicht.

»Jetzt ist sie in dem Weißdorn« – Konstanze blieb stehen.

Klaus sah, wie ihre Brust atmete. Die ganze Erde hob sich atmend, daß die Zweige schwankten – kahl die Zweige, aber voll von Knospen. Über dem Weißdorn lag ein grüner Schleier. Der Weißdorn fing an sich zu drehen. Der braune Erdboden wogte – nur die Frau stand still in der drehend gewordenen Welt. Klaus mußte sich anhalten. Konstanze fühlte seinen Atem an ihrem Ohr. Sie wandte sich um und sah seine flackernden Augen. »Dort lang gehen wir«, sagte sie rasch und schritt voran. »Sehn Sie den Teich durch die Zweige? Die Nordwiese hat jetzt Sonne.«

Nicht Sonne sah Klaus, nicht Wasser, nicht Amselflug: Konstanze 181 schritt vor ihm. Sie ging schnell. Wenn sie in eine Radspur kam, auf einen Stein trat, federten ihre Knöchel. Die stählerne Zartheit ihres Körpers sah Klaus durch ihr Kleid und ganz nahe vor sich. Mit einemmal stand sie still, sonnenübergossen im Licht, und dann trat Konstanze heraus aus dem Unterholz auf die freie Wiese.

Sie atmete auf, ging langsamer. Da lag der Teich des Herrn Kortüm. Die Quellpumpe war angestellt. Perlend sickerte das Wasser in den Teich und zog Kreise in seinem Spiegel.

Konstanze blickte ins Wasser und rückte ihr Haar zurecht, das vom raschen Gehen und von streifenden Eschenzweigen in Unordnung geraten war. »Schade«, antwortete Klaus und sah ihren Mund an, »sonst ist der Wasserspiegel ganz glatt und man kann sich darin sehen.«

»Dort ist er unbewegt, in der Mitte.« Wohl zwanzig gläserne Fenster des Schottenhauses blickten auf den Teich, Konstanze fühlte sich geborgen. Gleich lockte wieder das Spiel in ihr: »Oh«, fuhr sie fort und lachte, hob Kinn und Schultern, stellte sich auf die Zehen. Ganz weit beugte sie sich über das Wasser – als wenn sie wegfliegen will, wie die Amsel drüben, dachte Klaus. »So weit kann ich mich nicht ausrecken –«

Klaus fuhr über die Stirn. Wie vorhin der dicke runde Weißdorn, so drehte sich plötzlich das Ufer um den Teich – sie fällt!

»Der Spiegel ist doch Wasser!« schrie er, faßte Konstanzes Schulter, zog sie rückwärts, warf seinen anderen Arm unter ihre Knie, hob sie auf, das Wasser platschte, mit drei Schritten stand er im Teich: »Hier können Sie sich sehn! Gott sei Dank! Wenn Sie hineingefallen wären!«

Aber der Grund war moorig. Er sank ein. Bis ans Knie stand er im Wasser. Er mußte Konstanze hoch halten, daß sie nicht naß wurde. Auch fallen lassen durfte er sie nicht. Ganz fest drückte er sie an sich, fühlte ihre Knie, ihre Brust: »Gleich wird das Wasser wieder ruhig.«

Er hielt sie.

Wasser wird langsam ruhig.

Ein Wellenkreis nach dem andern eilte aus sich heraus ans Ufer, noch einer, wieder – sie kräuselten immer langsamer, flacher, feiner.

»Sehn Sie sich jetzt?«

Konstanze regte sich nicht. Sagte nicht einen Laut. Er drückte sie fest an sich. Er fühlte ihre Brust an seiner atmen. Langsam ließ sie ihren Kopf hintüber sinken. Aber so sah sie sich erst recht nicht im Spiegel – blau, weißblau zitternd, nichts als Himmelszelt.

»Jetzt ist es still, Konstanze.« Klaus mußte ihr Gesicht sehen.

Ihr Kopf hing rückwärts. Ungeschickt wandte er sie in seinen Armen. Gewiß tat er ihr weh. Sie ließ ihn tun. Regte sich nicht. Hing überm Wasser. So sicher hatte sich Konstanze noch nie gefühlt vor einem Mann. Der Held! Da stand er, hielt sie in seiner Gewalt – wahrlich: in seinen Armen und in seiner Gewalt – nur wo er sie nun lassen und sie hinlegen sollte, wußte er nicht. Gepackt hatte dieser Mensch die Julia, wie er es in wilden Träumen sah – und hielt sie schwebend über dem einzigen Bette weit ringsum, in dem das Blut kalt wird.

Diese Rolle hatte noch keiner geschrieben für Konstanze. Sie ließ sich ruhig und schwer in seinen Armen hängen: wenn er uns nicht ertränken will, muß er an Land.

Konstanzes Leblosigkeit und Schwere wurde Klaus unheimlich. Sie ist ohnmächtig – erschrocken rauschte er ans Ufer, wollte sie sanft auf den Boden stellen – aber mit einer Wendung war sie frei. Das hatte sie auf der Bühne gelernt.

»O Gott«, flüsterte Klaus. Bis in die Lippen war er blaß. In einem moorigen Teich sieht sich Liebe anders an als auf festem Land – jetzt flieht sie vor mir.

Konstanze floh gar nicht. Sie zeigte ruhig nach den zwanzig gläsernen Fenstern: »Nun schämen Sie sich.«

»Schämen?« fragte Klaus. »Schämen?!« rief er. Seine Knie zitterten. Er wußte nichts Besseres zu sagen: »Und wenn Sie ertrunken wären?«

Unsinn, wollte Konstanze antworten. Aber sie fühlte sich schuldig. Das war kein Spiel mehr. Klaus sah schrecklich aus. Ein Gesicht – weiß, ohne Maske. »Lieber«, sagte Konstanze, »wenn einer von uns beiden eben am Ertrinken war: ich nicht.«

Klaus antwortete nur mit einem bösen Laut in der Kehle.

»Geben Sie mir die Hand, Schart, und sagen Sie danke zu mir.«

»Konstanze!«

»Wer so lebendig ist, daß er ins richtige Wasser springt, der soll denen aus dem Wege gehen, die so was spielen gelernt haben.«

»Denen, ja! Aber ich habe Fleisch und Blut im Arm gehabt, und das hieß Konstanze Schröter!«

Jetzt ging sie nahe an ihn heran und zog ihn ein wenig am Rockaufschlag: »Ja, Schart. Die bleibt leider immer übrig nach dem Spiel. Aber vom Spielen lebt sie. Und nun geben Sie mir die Hand, und wir wollen ›Danke schön‹ zueinander sagen.«

Klaus schwieg. Die Haare hingen ihm in die Stirn. Er starrte vor 183 sich hin. Konstanze wurde das Herz groß, wie sie ihn so dastehen sah. Beinahe hätte sie ihn bei dem Haarbüschel gefaßt. Gewaltsam nahm sie sich zusammen. Sie hatte Angst vor Scherben bekommen. Scherben schneiden furchtbar. Und solche Wunden heilen schlecht. Klaus kannte diese Risse im Fleisch noch nicht.

»Sehn Sie« – sie zeigte auf seine nassen Beine – »das Kostüm steht Ihnen schlecht. Sie ziehen sich jetzt um. Und heute abend erwarte ich Sie zum Essen. Um acht Uhr, Schart.«

Konstanze ging nach dem Haus. Klaus sah ihr nach. Wütend: warum habe ich sie nicht geküßt? Unter den Eschen, wo die Veilchen stehen? Er fühlte sich gedemütigt. Das war auch so ein Traum: ich erwarte Sie, Schart, zu Tisch, um acht – und nun? Mit ihr essen? Ersaufen eher! In dem dreckigen Teich da.

Klaus biß die Zähne zusammen. Oh, in seinem Arm hatte er diese Frau gehabt. Noch fühlte er ihr Herz an seinem schlagen. Und wie ein Rauch war sie aus seinen Händen entschwunden. Er sah seine leeren Hände an.

Vor dem Schottenhaus in der Sonne stand Herr Kortüm. Eben war Konstanze an ihm vorbeigekommen, hatte ihr Haar festgesteckt und an ihrem Kleid gezupft. Und da kam dieser Jüngling. Wie sah der junge Mensch aus?

Herr Kortüm zog die Augenbrauen ganz hoch. Er schob die Lippen vor und fuhr gewaltig mit der Zunge im Mund herum. Klaus bemerkte ihn überhaupt nicht. Tropfend schritt er an ihm vorbei ins Tal hinunter.

Herr Kortüm aber blickte lange gedankenvoll die Tropfspur an, welche sich an seinem Hause vorbeizog. Aus der Gruft unterm Chor der Marienkirche hatte er auf seinem Hosenboden die seltene und höchst merkwürdige Erfahrung ans Licht des Tages heraufgebracht, daß ruinierte Kleider manchmal auch Leute machen.

Er legte den Kopf weit zurück, kratzte sich in seinen weißen Bartstoppeln: »Nun, in seinen Jahren – zieht sich der Mensch eben um.«

 


 << zurück weiter >>