Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Dämonen, Dickschädel und Wetterfahnen

Wenn jetzt ein Besenröder aus der Tiefe seines engen Tales hinausblickte zum Schottenhügel, schüttelte er den Kopf: Totenstille auf der Höhe da oben. Nichts rührte sich. Fremde Wintergäste gab es in diesem geldarmen Jahre nicht, und die Eingeborenen blieben erst recht zu Hause, brieten sich Äpfel in der Ofenröhre und zählten ihre letzten Groschen. Im Schottenhause herrschte auch beschauliche Stille. 147 Klaus Schart hatte recht berichtet an Konstanze. Herr Kortüm ordnete seinen Gesamtbesitz an zerbrochenen Gegenständen, und Schwartenmacher sonderte die Bruchstücke nach wissenschaftlichen Grundsätzen: er brachte Knochen, dann altes Eisen, Tonscherben und Bronze aus je einen Haufen für sich. Draußen schneite es in dicken Flocken. Nichts störte ihr friedliches Spiel.

Nur der Eintritt in sein Haus bei der Rückkehr aus Kranichstedt war für Herrn Kortüm eine Aufregung gewesen. Nach all seinen Mühen und Widerwärtigkeiten in der Welt draußen hatte er sich mit Recht auf seinen alten Rock, auf seinen Lederstuhl und auf die braune Mappe mit seinen Plänen und Entwürfen gefreut. Der Gedanke an die Mappe erquickte ihn um so mehr, als die Errichtung der Landmarke auf dem Lohberg nicht mehr so eilte. Nach dem Kranichstedter Zwischenfall mußte Herr Kortüm ein wenig warten, bis sich die Aufregung gesetzt hatte. Der Brandgeruch störte.

Herr Kortüm mußte mit Schwartenmacher zu Fuß vom Bahnhof auf den Schottenhügel steigen. Sie kamen unangemeldet, und Monich hatte große Eile gehabt, in seinen Leinwandladen zu kommen – nicht um Esel, nicht um Gepäck konnte er sich kümmern. Herr Kortüm wischte den Schweiß von der Stirn und wies auf den Lohberg, der schneeglitzernd vor dem tiefblauen Himmel in der Sonne erstrahlte: »Sehen Sie ihn an, Schwartenmacher. Dort oben werde ich eine Landmarke hinstellen.« Er seufzte: »Die Zukunft habe ich im Auge gehabt, und die Vergangenheit fing davon Feuer. Ein Wahrzeichen sollte es werden, wissen Sie, ein Meilenstein, ein Richtungspunkt – ja, und ein Sarg ist dabei in Unordnung gekommen.«

Schwartenmacher nickte: »Kenn ich. Ich lebe vom Ausbessern, wie Sie wissen. Ich bin Restaurator –«

»Restaurateur heißt das.«

»Bei Ihnen, Herr Kortüm. In unserer Branche heißt es Restaurator. Also Ausbessern – je, niemals kann man dabei tun, was man möchte und was eigentlich richtig wäre. Der andere, der vor Hunderten von Jahren das Ding gemacht hat, ist immer mit dabei. Und wie ganz verflucht der Kerl dabei ist! Meistens steht er einem im Wege rum. Immer kann man nur fortsetzen, was schon begonnen ist. Und immer kann man es nur so fortsetzen, wie es angefangen wurde. Sonst wird's noch dümmer.«

»Ach, meine Seele«, sagte Herr Kortüm und blieb wieder stehen: »Einmal neu beginnen können! Einmal sich abreißen von allem und 148 von vorne anfangen können! Mein lieber Restaurator« – das Wort gefiel Herrn Kortüm offenbar ungeheuer, weil es gar nicht auf ihn selber paßte – »einmal sagen können: das habe ich gemacht – da steckt kein andrer drin außer mir . . . Sehen Sie, da ist der alte Noah –«

»Wer?«

»Der Sintflutnoah, wissen Sie? Sogar dieser Noah stieg nicht aus der Arche und konnte nach der großen Flut von vorn anfangen – nein: er klappte seinen Kasten auf, und das ganze alte liebe Leben flog, flatterte, kroch, zwitscherte, brüllte, grunzte genau wieder wie früher in die frisch abgesäufte Welt hinein. Und da gibt es Leute, der Teufel soll mich holen, die dem alten Herrn übelnehmen, daß er sich vor Gram darüber gelegentlich besoffen hat. Noah hat den Weinstock entdeckt – wissen Sie das? Ganz in Ordnung, diese Entdeckung durch Herrn Noah! Dieser Mann fand die bedauerlichste Wahrheit. Und der Herr entschädigte ihn dafür mit der freundlichsten Weisheit. Oder ziehen Sie die seinerzeitige Gründung des Regenbogens vor, wie? Die Sache mit dem Regenbogen ist doch so so . . . hm. Haha, wie der alte Noah erschrocken sein mag, als er den Deckel aufklappte – surr, bumbum, begab sich das ganze alte Sündenpack in die weißgewaschne Gegend.«

Herr Kortüm stand im Schnee der bösen Straße und machte mit Mund und Händen und Armen vor, wie fröhlich die Insassen der Arche ins Freie entwichen. Schwartenmacher sah ihn an und dachte: wenn ich einmal Auftrag kriege, den Noah zu modellieren, nehme ich diesen Herrn Kortüm als Modell. Aber Noahs Modell hob den einen Fuß und seufzte: »Kommen Sie, Schwartenmacher, das Schneewasser zieht durchs Sohlenleder.«

Sie waren inzwischen vor dem Hause angekommen. Herr Kortüm öffnete die Türe und wollte eben sagen: legen Sie dort am Spiegel ab – aber er stieß nur zornig mit dem Stock auf und rief: »Liese!«

Liese kam gerannt: »Guten Tag auch –«

»Seid ihr verrückt geworden?« Herr Kortüm wies auf ein buntes Monument, das seine Diele versperrte und fast bis an die Decke reichte. »Was ist denn das?«

»Ach, Herr Kortüm, das is doch die Maske von Herrn Wingen.«

»Wie kommt die in mein Haus! Hinaus damit!«

»Aber nee! Die stand doch bei Albrechts aufm Boden!«

»Schafft sie wieder hin!«

»Nee doche! Da darf sie je nich mehr stehn.«

»Das geht mich nichts an!«

149 »Der Luftschutz hat's doch gesagt!«

»Was?«

»Nu, 's werden doch jetzt überall die Böden abgeräumt. Das muß sein. Bei uns auch. Ihre Kisten müssen auch runter.«

Herr Kortüm hob den Zeigefinger und sah Schwartenmacher an: »Als ob ich's geahnt hätte, wie? Sie kommen gerade recht.« Aber schon fiel sein Blick wieder auf das bunte Ungetüm: »Hinaus damit, sage ich!«

»Aber Albrecht wußte doch auch nich, wo er's hinrümpeln sollte, un da hat er gesagt, das Ding wäre von Herrn Wingen – ich glaube, Dämon heißt's – un Herr Wingen wäre der Dichter vom Schottenhaus, un da wäre 's denne.«

Ehe sich Herr Kortüm diese Schlußfolgerungen verbitten konnte, sprach Schwartenmacher, der inzwischen die Maske neugierig und sachkundig angesehen hatte: »An Ihrer Stelle würde ich die Maske nicht nausschmeißen. Das Ding ist gar nicht schlecht.«

»Ich kann mir doch nicht meinen Eingang damit verstellen! Den Eingang eines Gasthauses, Herr!«

»Das soll's auch nicht. Wissen Sie, wo das hingehört? In unser neues Museum! Da haben wir gleich die erste Nummer. Und die zieht! Außerdem paßt die Maske recht gut als Beispiel für Heimarbeit hinein.«

Herr Kortüm überlegte. Schwartenmacher aber nahm ein Blatt aus seinem Merkbuch und entwarf das Schild: »Sehen Sie, Herr Kortüm. So würde das etwa aussehen.«

Herr Kortüm las: »Museum Kortüm. Nummer 1. Gegenstand: eine Kolossalmaske, sogenannter Dämon. Hersteller: Friedrich Wingen. Zeit: Gegenwart. Ort: Besenroda. Material: Pappe.«

»Nun, das klingt ja ganz stattlich. Wir wollen es uns überlegen. Jetzt bring Kaffee, Liese!«

Im Erdgeschoß des Schottenhauses lagen die Wirtsräume, im ersten Stock die Fremdenzimmer und die Wohnung Herrn Kortüms. Das Dachgeschoß war halb Bodenraum, halb zu Kammern ausgebaut, in denen Gerümpel untergebracht war. Diese Kammern wurden ausgeräumt, frisch geweißt, ausgebessert und gründlich gereinigt. Dann nagelte Schwartenmacher an die fünf Türen Schilder, schön in Kunstschrift geschrieben: Raum 1: Vorgeschichte; Raum 2: Eiszeit; 3: Steinzeit; 4: Bronzezeit; 5: Verschiedenes. Zu Lieses und des Hausknechts 150 Verwunderung begann jetzt, mitten im Winter, ein neues Leben im Schottenhaus, und zwar auf seinem Boden. Herr Kortüm liebte die Gegensätze. Die Gruft hatte eine schlechte Erinnerung in ihm hinterlassen. Sein Leben lang hatte es ihn nach oben gezogen. Er hätte nicht in die Gruft hinuntersteigen sollen. Ihm lagen Böden.

Freilich war es in den Kammern recht kalt. Herr Kortüm trug Pelzstiefel, Pelzmütze und seinen alten Jagdpelz mit Muff. In diesen Muff steckte er seine Hände. Das konnte er ruhig tun, denn er arbeitete mehr geistig. Schwartenmacher hingegen mehr körperlich. Schwartenmacher wurde warm dabei. Herr Kortüm fror. Aber nie hätte er geglaubt, daß Museumsarbeit einem Menschen so viel Freude bereiten kann.

Der Restaurator verstand meisterhaft, aus dem Gerümpelholz Klötze und Platten zu sägen und sie teils als Mahagoni oder Apfelbaum weiterbestehen zu lassen, wenn die Flächen schön gemasert waren, teils aber schwarz zu lackieren. Auf diesen Sockeln und Tafeln befestigte er mit dünnem Messingdraht die Gegenstände aufs sachverständigste. Das erbärmlichste Bruchstück, zum Beispiel ein halber Ochsenzahn, sah mit einemmal appetitlich und wissenschaftlich aus. Als die erste Wand vollgestellt war, ließen sie den Photographen aus Esperstedt kommen und sich samt der Wand abbilden. Von den Gegenständen sah man auf dem Bilde leider nicht viel. Die beiden Museumsmänner waren im Maßstab etwas zu groß geworden, da sie sich so darstellen ließen, als ob sie mit aufs äußerste entschlossenen Gesichtern eben einen wissenschaftlichen Gegenstand unter der Lupe betrachteten.

Die Tage verliefen ungemein anregend. Herrlich aber waren die langen Abende, wenn sie von ihrer eisigen Höhe herabstiegen und sich am Kamin auftauten. Dann setzte Herr Kortüm einen Grog an oder, nach besonders schweren Tagen, einen Punsch – dies verstand er nun, und Schwartenmacher staunte. Schwartenmacher stellte am Tage eine Aufmachung her und befestigte dann eine Lächerlichkeit daran. Herr Kortüm jedoch füllte in die schlichteste Aufmachung, zum Beispiel in einen alten Bunzlauer Topf, einen Inhalt, der gar nicht lächerlich, sondern sehr gehaltvoll und ein wirklicher Genuß und eine Erhebung war. Messingdraht, schwarze Lackfarbe und Papierschilder belasteten den Etat des Kortüm-Museums wenig – Rotwein, unverschnittener Rum, Zitronen und echter Rohrzucker dagegen recht erheblich.

Monich kam bald hinter diese Sparsamkeit am Tage und Opulenz bei Nacht. Er fing an, den »Konferenzen«, wie Herr Kortüm diese 151 Punschsitzungen nannte, auch dann beizuwohnen, wenn er als Sachverständiger nicht unbedingt nötig war – sein Urteil wurde ja nur bei Objekten mit Brandspuren gebraucht. Mit den ganz undeutlichen vorgeschichtlichen Bruchstücken glaubten Herr Kortüm und Schwartenmacher selbst fertig zu werden, namentlich wenn so wenig übrig war, daß es auf ein paar Jahrtausende nach oben oder unten nicht ankam. Nur bei den geschichtlichen Objekten, die man noch erkennen konnte, etwa vom Dreißigjährigen Kriege an, beriefen sie Klaus Schart in die Punschkonferenz. Deswegen wurden diese sogenannten Viermännerstücke – das heißt Bruchstücke aus neuerer Zeit mit Brandspuren – die kostspieligsten Objekte der Sammlung. Vier Männer: Herr Kortüm, Schwartenmacher, Monich und Schart – mußten oft bis in die tiefe Nacht an solchen Bruchstücken arbeiten, und selbst eiserne Objekte, zum Beispiel Reste von Sporen, nahmen dabei einen ganz leisen liebenswürdigen Duft von Tabak und Punsch an.

»Nummer zweihundertelf, Schwartenmacher – nun, wie nennen wir das?« Herr Kortüm hatte eine schwarze Holzplatte vor sich, in deren Mitte wie ein Juwel ein Topfscherben befestigt war – wundervoll wirkte zweihundertelf!

»Mäanderverzierung«, sprach Schwartenmacher sinnend. »Wo haben Sie diese Nummer her?«

»Aus der dritten Kiste hinterm zweiten Dachbalken.«

»Nein, wo Sie das ausgegraben haben?«

»Ach so. Das hab ich mal im Walde beim Dachsgraben gefunden.«

»Also Rest eines ehemaligen Grabfundes«, notierte Schwartenmacher – »sonstiger Grabinhalt verschollen.«

»Hä, das war bei dem Dachsgraben an der großen Eiche, Kortüm?« rief Monich. »Ja, das weiß 'ch noch genau. Den Dachs, das Aas, haben wir nich gekriegt. Schreiben Se ruhig ›verschollen‹.«

»Nun die Zeit, meine Herren. Frührömisch wollen wir sagen«, fuhr Schwartenmacher fort. »Ich würde es zwischen fünfzig und zweihundert nach Christi Geburt setzen. Eine sehr günstige Epoche. Man weiß fast nichts von ihr. Das Kranichstedter Provinzialmuseum hat auch diese Epoche besonders reichlich mit Objekten ausgestattet. Beachten Sie diese kräftige männliche Linienführung an dem Mäander, diese eherne Energie, welche aus der Borte spricht. Man hört förmlich die Legionen über die Knüppeldämme unserer Urwälder marschieren, wenn man sowas sieht.«

»Hm, sagen Sie, mein lieber Restaurator, ist das Muster nicht genau 152 so wie der Rand auf unserem Punschtopf gemalt? Sehn Sie mal« – Herr Kortüm hielt das frührömische Grabobjekt neben das gegenwärtige Punschsubjekt.

»O, Herr Kortüm! Das beweist gar nichts. Mäander kommt beinahe in jeder Epoche vor. Aber wo ist denn dieser Punschtopf her?« – Schwartenmacher zog ihn näher an sich heran und hob ihn in Augenhöhe – »Haben Sie die Lupe da? Sollte der etwa auch –«

»Nee nee«, sagte Monich, »geben Sie mal den Topp her, mein Lieber! Da muß man aufpassen. 'ne Lupe nützt hier gar nischt. Der sauft'n aus un bindt'n dann mit Draht aufn Brett, hä!« Monich nahm dem Sachverständigen das Punschgefäß aus der Hand und schenkte sich ein.

Manches aber konnte selbst die Viermännersitzung nicht unterbringen. Für solche Stücke hatte der gewiegte Fachmann Schwartenmacher Raum fünf vorgesehen. Sie kamen unter »Verschiedenes«. Hier stand auch Wingens Maskenstudie. Da die Kammer niedrig war, mußte sie auf den Fußboden gestellt werden. Der Beschauer befand sich nun in Augenhöhe mit den Larvenaugen. Am Morgen fiel das Licht von rechts ein, und infolge irgendeines Reflexes waren die linksseitigen Augenhöhlen hell – die Maske schielte. Während die Sonne weiterging, wanderte auch das Licht im Larvenauge. Gegen Abend schielte die Maske gerade nach der Tür.

Herr Kortüm holte Schwartenmacher und fragte ihn an der Tür: »Bemerken Sie es? Sie sieht mich an.«

»O weh«, sagte Schwartenmacher.

»Da haben Sie's! Hätten wir nur das Ding rausgeschmissen. Man fürchtet sich ja.«

»Der Blick kommt von der Beleuchtung«, bemerkte der Restaurator. Blicke hatte er noch nicht wiederhergestellt, und er war im Zweifel, was zu tun sei. »Wir müßten den grünen Vorhang zuziehen.« Schwartenmacher zog zu. Nun verschwanden die Sammlungsgegenstände an den Wänden in der Dämmerung beinahe, aber die leeren Augenhöhlen starrten schwärzer und furchterregender als je in die Augen der beiden Männer.

»Aufziehen!« rief Herr Kortüm. »Das ist ja noch schlimmer! Ich denke, die verfluchte Maske ist aus Pappe. Die lebt ja!«

»Das ist eben Plastik, Herr Kortüm. Wahre Kunst macht auch Pappe lebendig. Aber die Maske steht für ihre Größe zu niedrig. Man sieht ihr grade in die Augen.«

153 »Soll ich etwa die Decke durchbrechen? Hier drüber ist das Dach. Dann guckt dieser Dämon oben durchs Dach zu meinem Hause raus. Fort mit dem Ding!«

»Zum Rausschmeißen ist die Maske zu schade.« Schwartenmacher zog die Vorhänge auf und begann einen Vorhangschal abzunesteln. »Wir binden dem Dämon einfach ein Tuch vor die Augen.«

»Das sieht schlecht aus.«

»Wenn ich es mache, nicht. So eine Binde muß künstlerisch geschlungen werden. Es kommt alles auf den Faltenwurf an. So etwa.« Schwartenmacher schlang den Schal um die Augen und steckte ihn hinten mit einer Nadel zusammen.

Herr Kortüm hielt den Kopf schief und blinzelte: »Hm.«

Schwartenmacher hielt seinen Kopf auch schief. Eine ganze Weile standen sie so nebeneinander da. Dann sagte der Künstler mit fachmännischer Bestimmtheit: »So geht es.«

»Hm« – Herr Kortüm nickte – »aber nun muß sie anders heißen.« Er nahm seinen Bleistift, strich das Wort ›Dämon‹ aus und schrieb ›Die Gerechtigkeit‹ darüber.

So lösten sie im Laufe der Zeit alle die schwierigen Fragen ihres Unternehmens aufs beste. Den Katalog schrieb Klaus. Der hatte die beste Handschrift. Es wurde ein dickes Buch. Nur ein Stück war bis zuletzt geblieben. Herr Kortüm berief eine Vollkonferenz ein und setzte einen vierfachen Doppelpunsch an.

Vor vielen Jahren hatte er am Schottenabhang, nahe der Besenröder Ilmbrücke, das leicht gewölbte Stück einer menschlichen Schädeldecke gefunden. »Wie wollen wir nun diese Nummer bezeichnen, meine Freunde?«

»Vierhundertzehn kommt dran. Der Punsch is gut. Prost, Kortüm.«

»Die Zahl genügt nicht. Der Beschauer muß sich auch was dabei denken können. Vergessen Sie nicht, daß wir Eintrittsgeld erheben wollen, meine Herren.«

»Guckt bloß! Das is 'n Stück von 'nem Kuhkopp! Der Knochen is je beinah fingerdicke.«

»Laß die unpassenden Witze, Monich.«

»Ein menschliches Schädelstück ist es ohne Frage«, sagte Klaus.

»Also!« rief Herr Kortüm.

»Bitte der Reihe nach, meine Herren« – Schwartenmacher schrieb das Schild – »erst einmal die Nummer. So. Nun hat die Sache schon einen gewissen Halt. Gegenstand: Bruchstück eines menschlichen 154 Schädels. Gut. Und der Ort? Wo haben Sie es gefunden? Bei Besenroda? Ort: Besenroda. Weiter. Die Zeit?«

»Na, solche Köppe gibt's jetzt nicht mehr. Dunnerwetter! Wenn dem einer mitm Hammer aufn Kopp gekloppt hat – der Kerl hat gar nischt gemerkt!«

»Schreiben wir vorgeschichtlich«, schlug Schwartenmacher vor. »Einverstanden? Schön. Zeit: vorgeschichtlich«, schrieb Schwartenmacher, leckte das Schild an und klebte es auf den Sockel.

Auch die Arbeit war getan. Herr Kortüm öffnete die Zigarrenkiste. Herr Kortüm klopfte mit dem Fingerring an den runden Bunzlauer Tonbauch. Die vier Männer setzten sich zurecht. Das Schädelbein stand wie ein Tafelaufsatz zwischen ihren dampfenden Bechern.

Fast bedauerte Herr Kortüm, als eines Tages die fünf Räume endgültig eingerichtet waren und nichts Zerbrochenes sich mehr auftreiben ließ. Plakate könnte Schwartenmacher noch entwerfen. »Ich müßte Einladungen an die Fachleute in der Hauptstadt schreiben . . .« Herr Kortüm klappte seine braune Mappe auf – aber er kam nicht weit. Liese brachte einen Brief. Feines gelbes Papier. Aus Weimar. Herr Kortüm schnitt ihn sorgsam auf, las die Unterschrift, fing dann sehr hitzig und alles auf einmal zu lesen an und schlug auf den Tisch. »Liese!!« schrie er.

Frau Schröter meldete ihre Ankunft für übermorgen. Zwei Zimmer brauche sie und eins für ihre Bedienung. Nach Süden natürlich. Schon vor drei Wochen habe sie kommen wollen, aber sie hätte nicht aus ihrem Vertrag herausgekonnt. Ruhe brauche sie, nur Ruhe – die Ruhe des Schottenhauses. Sie freue sich sehr darauf. Man solle sie am Bahnhof abholen. Und ob denn die Esel noch da wären.

Nun hatte Herr Kortüm keine Zeit mehr für Plakate! Er ließ die Zimmer herrichten – richtiger gesagt: er richtete sie her. Wenn Liese laut mit den Eimergriffen klapperte oder den Besen fallen ließ, schrie Herr Kortüm mit Donnerstimme: »Ruhe! Von jetzt an herrscht Ruhe in meinem Haus!« Sogar die Blumenvasen suchte Herr Kortüm persönlich aus und ging in den Wald, um besonders volle Tannenzweige zum Schmuck des großen Südzimmers abzuschneiden. Liese mußte – sie ließ den Mund offenstehen und kriegte ihn noch lange danach nicht wieder ordentlich zu – Liese mußte erleben, daß er, der Herr Kortüm, vor dem Leinenschrank stand und eigenhändig die Bettbezüge mit den breiten Spitzenkanten herauswühlte. Dies Bezüge lagen ganz 155 unten. Der Schrank würde nie mehr in Ordnung gebracht werden können. Die Konferenzen, die Freitagsgesellschaften wurden abgesagt – leidende Wintergäste kämen, die Ruhe brauchten. Wer denn das wäre, diese Dame mit Bedienung, zum Donnerwetter noch einmal. Liese wußte ihren Namen nicht.

Schwartenmacher war betrübt. Herr Kortüm hatte ihn wie einen zahlenden Gast behandelt, er hatte ihn gespeist und – weiß Gott – er hatte ihn auch getränkt. Und nun war es vorbei. Oder ließe sich doch noch etwas tun? Irgend etwas! Ihm kam ein Gedanke.

»Herr Kortüm«, sprach er, »Sie wissen: als Künstler habe ich mich aufopferungsfreudig in den Schatten gestellt.«

»Wohin?« fragte Herr Kortüm zerstreut – er überlegte eben das in dieser Jahreszeit besonders schwierige erste Menü. Konstanze liebte leichtes Essen.

»Nur an die würdige Aufstellung der alten Gegenstände habe ich gedacht. Von mir ist nichts dabei –«

»Brühe von Kalbfleisch«, schrieb Herr Kortüm. »Nein«, sagte er, »Sie leben ja Gott sei Dank noch.«

»Gewiß«, sagte Schwartenmacher bedrückt, »jeder Mensch möchte aber doch einmal auch selber was schaffen.«

»Davon sprachen wir ja schon. Im Hinblick auf Noah, Lieber. Das ist dem Menschen nicht gegeben.«

»Ich meine ja auch bloß: es gibt doch zweifellos Sachen, unter die man seinen Namen setzen kann.«

»Das kommt auf die Sachen an – und auf den Namen.«

»Sehen Sie! Ich heiße Schwartenmacher. Sie haben vieles. Eins aber fehlt Ihnen –«

Konstanze Schröter kommt, dachte Herr Kortüm erschrocken: »Was fehlt!« fuhr er den bescheidenen Mann an.

»Entschuldigen Sie bitte, aber Ihnen fehlt – sehen Sie selber nach – Ihnen fehlt die Windfahne auf dem Dach. Die haben Sie nicht. Eine Windfahne braucht der Mensch. Ohne Windfahne ist der Mensch nicht komplett. Besonders wenn er so hoch wohnt wie Sie. Sie müssen doch hier oben wissen, wie der Wind weht. Und dazu brauchen Sie nur das Blech zu liefern. Die Arbeit mache ich gegen Verpflegung wie bisher. Weiter entstehen keine Unkosten.«

»Auch keine Nebenkosten, nichts Unvorhergesehenes und Sonstiges?«

»Nichts!«

Unrecht hatte Schwartenmacher nicht. Eine Windfahne fehlte Herrn 156 Kortüm. Schon immer sollte ein solches blechernes Fähnchen auf sein Dach kommen. Ihm war nur noch kein besonderer Gedanke eingefallen.

»Was könnte die Windfahne denn darstellen, Schwartenmacher?«

»Jeden Gedanken kann ich Ihnen in Blech ausführen, Herr Kortüm. Da wäre zunächst einmal eine Sonne –«

»Schweigen Sie!« rief Herr Kortüm und fuhr unwillkürlich mit der Hand nach seinem Hosenboden.

»Das hat man aber viel«, sagte Schwartenmacher kleinlaut. »Gegenüber den Mond und oben einen Stern drauf. Dreht sich ausgezeichnet im Wind. Aber es gibt ja noch mehr, etwa ein Pferd« – Herr Kortüm schüttelte den Kopf – »oder ein Schiff – ein Segelschiff –«

»Hm, warum nicht?« sagte Herr Kortüm.

»Oder noch besser und recht paßlich für die hiesige Gegend: an das Ende der waagrechten Drehstange setzen wir Masken, vielleicht eine lachende und eine weinende.«

»Masken – ich mag die Dinger nicht.«

»Aber denken Sie auch an den guten Eindruck, den Sie auf die Umgebung machen werden. Sie setzen doch gleichsam das Wahrzeichen der Heimarbeit weithin sichtbar auf Ihr Haus. Das freut die Leute. Wir machen die Achse besonders hoch, daß man die Windfahne bis weit in die Täler sieht. Und die Masken schön groß. Es gibt jetzt verchromte Bleche, die bleiben immer silberhell und blitzen in der Sonne.« Schon zeichnete Schwartenmacher eine verlockende Skizze auf ein Blatt Papier.

»Wie lange wird die Arbeit dauern?«

»Eine Woche höchstens.«

»Aber nun die Hauptsache: machen Sie Lärm dabei?«

»Nicht den geringsten Lärm, Herr Kortüm! Verlassen Sie sich ganz auf mich. Ich arbeite geräuschlos.«

»Ich bekomme Gäste, die völlige Ruhe brauchen.«

»Wenn ich doch mal hämmern muß, kann ich ja in den Wald gehen.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile über die Kosten verchromter Bleche, über die Größe der Windfahne, und zum Schluß sagte Herr Kortüm: »Meister, fangen Sie an!«

 


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