Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Drei Bälgetreter

Frühmorgens gegen halb fünf stieg Fräulein Erdmuthe Haupt vorsichtig die winklige Treppe des Albrechtschen Hauses hinab. Der Ort lag in der Ruhe des frühen Morgens. Nur in den Ställen rumpelte es. Ketten klirrten, Kühe brüllten, Eimer klapperten. Die Straße war ganz leer. Als aber Fräulein Haupt an die Ilmbrücke kam, sah sie auf der Steinbank einen Mann sitzen, der trotz der frühen Stunde eine Zigarre rauchte. Mit ihren Augen war nicht mehr viel. Nur, daß sich jetzt der frühzeitige Mann von der Steinbank erhob, das erkannte sie. Nun trat er an sie heran, bot ihr den Arm: »Gnädiges Fräulein.«

»Herr Kortüm!«

»Ja. Ein Gastwirt hat es schwer. Heute gibt es nämlich Forellen. Essen Sie Forellen gern? Ja? Da muß man beizeiten dem Fischer einschärfen, daß unsereiner Portionsforellen braucht. So ein Kerl fischt drauf los, und was er fischt, schüttet er in die Wanne: 's ist ja bloß für die Fremden, sagt er sich.« Fräulein Haupt erfuhr auf dem Wege von der Ilmbrücke bis in das Frühstückszimmer des Flügelhauses sämtliche technischen Feinheiten des Forellenfanges, des Transportes lebender Forellen, und über die verschiedenen Zubereitungsweisen gab Kortüm eine lehrreiche Übersicht.

Gelegentlich sah Fräulein Haupt den unaufhörlich redenden Gastwirt von der Seite an und lächelte, als ob sie das alles besser verstände. Sie ließ sich von dem mit nichts als dem Forellenproblem beschäftigten Kortüm die schlechte Straße hinauf am Arme führen und sah ihn, oben angekommen, etwas hilflos an, als er fragte: »Was werden Sie frühstücken? Kaffee, Tee, Schokolade, Porridge?«

»Aber Herr Kortüm.«

Den Frühkellner schickte Kortüm mit dem Befehl, nachzusehen, ob die Dachrinnen noch liefen, in den Hof und ums Haus herum. Die 462 Bedienung des Fräulein Erdmuthe Haupt übernahm der Herr des Flügelhauses persönlich an diesem Morgen. Er deckte den Tisch mit einem frischen Tuch, was ihm durchaus nicht so elegant von der Hand ging, wie er es Fräulein Haupt gern vorgeführt hätte. Er brachte ihr den Kaffee, er servierte das eigenhändig drei Minuten gekochte Ei. Auf der Butter lag ein Stück Eis. Das Wasser in der Karaffe perlte. Von der Honigdose nahm Herr Kortüm den Deckel ab, damit sich sein Gast nicht zu bemühen brauchte. Es fehlte nur noch, daß er das frisch geröstete Brot mit Butter bestrich und ihr an den Mund hielt.

»Nu gucke mal 'n Alten an«, sagte der zurückgekehrte Frühkellner leise zum eigentlichen Frühstückskellner, der inzwischen erschienen war.

»Je, wenn einer stirbt, is es ihm egal. Aber wenn eine Dame mit'm kleinen Finger winkt, un wenn sie achtzig is, weiß er nich, wie er um sie rum sein soll. Nu gucke bloß.«

»Der hat's in sich.«

Das sagten Kellner: Leute, welche Menschen bedienen. Persönlichkeiten dagegen, welche Orgeln bedienen, haben einen Blick für das Gute. Zudem schärft der viele Umgang mit Luft den Blick fürs Unmenschliche und Außermenschliche. Denn Orgeln leben von Luft, Menschen von Kalbshaxen oder wenigstens von Apfelmus – jedenfalls nicht von Luft. Wenzel, des verstorbenen Wingen langjähriger Bälgetreter, war selbstverständlich auch zur Begräbnisfeier seines Herrn am Platz erschienen und hatte sich nicht nehmen lassen, die Bälge zur Totenmusik zu treten. Der von ihm beiseite gerückte Besenröder Bälgetreter hieß Knackfuß. Dieser Knackfuß wohnte am Gänseanger, Wenzel in einem der Bedientenzimmer des Flügelhauses. Er gehörte ja eigentlich zum Flügelhaus. Wenzel war bei der ersten Begegnung seines Herrn mit Lotte Albrecht zugegen gewesen. Ihre Verlobung an der Orgel hatte er infolge seiner Tätigkeit in der Bälgekammer nicht miterlebt, aber er hatte sie durch Einschlafen wesentlich gefördert. Wenzel tat auf den Wingenschen Kindtaufen das Seinige – ja, und nun hatte er Wingen mit begraben helfen. Was an Luft für Musik gebraucht wurde in diesen traurigen Tagen, Wenzel stellte sie bereit. Nur in einer Stunde war Wenzel nicht bei seinem Herrn und Meister gewesen: als Wingen den Lobedanzschen Kündigungsbrief aufs Notenpult gestellt und eine Musik auf der Besenröder Orgel geschlagen hatte, wie sie Knackfuß noch nie vorgekommen war.

»Das hättest du erleben sollen, Wenzel! Ich – rauf, runter, rauf. Un alles kam wie mit einemmal – erst ganz ordentlich un dann . . .«

463 »Der Dichter. Jeja. Das is die plötzliche Natur.«

»Was für eine Natur?«

»Das verstehst du nich, Knackfuß. Erzähle weiter.«

Knackfuß erzählte. Wenzel hörte genau zu. Am Schluß nickte er und sagte: »Ihr versteht eben nischt. Dumm seid ihr. Nich im Koppe. Da seid ihr helle. Aber dort, wo der Bälgetreter was merken muß, da seid ihr wie verholzt. Das habe ich auch Lobedanzen gesagt. Frei weg in die Visasche 'nein habe ich das gesagt in der ersten Aufregung. ›Fangen Sie auch an?‹ hat er da mich angeschrien. ›Auch?‹ hab ich 'n gefragt. Da is nu Lobedanz erst eine Weile im Kreise rumgerannt, immer an seiner Teppichkante hin. Dann hat er sich vor mich hingestellt: ob ich einen gewissen Herrn Kortüm kennte! ›Den kennt jeder‹, habe ich da geantwortet, ›Kortüm is 'n Mann, der 'n Nagel aufn Kopp trifft.‹ Zum Deiwel soll ich mich schern, hat Lobedanz da gerufen. Un ich habe ihn gefragt, ob er das etwa in der Bibel gelesen hätte, un dann bin ich gegangen. Jetzt hast du am längsten Bälge getreten, habe ich mir da gedacht. Aber hat sich was, hä. Auf die Leber hat sich's bei Lobedanzen gelegt. Jawoll, un da liegt er auf der Plautze.«

»Na, ich habe 's so gut gemacht, wie ich konnte. Mir sin die Schweißtroppen runter gelaufen beim Lufttreten –«

»Schweißtroppen! Du denkst wohl, die Arbeit macht's? Wenn du merkst, daß was nich stimmt un daß du mit'm Balg dicke Luft in die Orgel drückst, da hörst du eben auf mit Treten!«

»Da wär doch die Musike ausgewesen!«

»Das is es ja! Aus! Bums!«

»Un?«

»Un?! Hä, Wingen hätte dagesessen un hätte nischt mehr rausgekriegt aus der Orgel un hätte sich besonnen – ob er wollte oder nich. Jeja. Bälgetreten is 'ne Kunst. Von der haben auch Musikanten un Dichter un Pastoren meistens keine Ahnung.«

Als Knackfuß längst wieder in seiner Stube saß und beim Abendessen nachdenklich die Kartoffeln schälte, brütete Wenzel immer noch in seiner dunklen Ecke der »Goldenen Waage« vor sich hin. So fand ihn Herr Kortüm auf seinem Rundgang vor dem Abendessen der Gäste. Um diese Stunde war die »Waage« leer.

»So sieht man sich wieder im Leben, Wenzel. Ein trauriger Anlaß.«

»'n ganz verdammt verfluchtiger un erbärmlicher.«

»Nun, diese Ausdrücke, Wenzel –«

»– sin noch gar nischt.« Er berichtete Herrn Kortüm Einzelheiten 464 aus der Orgelmusikverwaltung. Kortüm horchte auf, als der Name Lobedanz fiel. Kortüm rieb mit unsäglicher Langsamkeit sein Kinn, als er hörte, daß Lobedanz schwer erregt war. Kortüm schnitt beim Kinnreiben unglaubliche Gesichter, als er die Lobedanzsche Erregung auf die Lobedanzsche Leber übergreifen sah. Wenzel saß jetzt stumm vor seinem bis auf den Restschluck geleerten Schoppen.

»Was mir eben einfällt, lieber Wenzel – ich erinnere mich doch – recht: Sie tranken seinerzeit, als wir das Festspiel aufführten, so gern Tee –«

Erschrocken sah Wenzel auf.

»– mit Rum«, vollendete Kortüm seinen Satz.

»Das schon eher.«

»Für meinen Freund Wenzel«, befahl Herr Kortüm dem Kellner, »eine Portion Tee mit Rum – halt!« Der Kellner kam zurück. Der Gastwirt klapperte in seiner Tasche mit Schlüsseln. Jetzt hatte er den richtigen, gab ihn dem Kellner und sagte: »Zweiter Schrank links. In der oberen Reihe. Jamaika.«

Der Kellner sah Herrn Kortüm groß an: »Da liegt doch der Unverschnittene.«

Kortüm machte nur eine Handbewegung.

Der Tee kam. Die Flasche Jamaika kam. Diese Flasche zu öffnen, hatte der Kellner nicht gewagt. Vielleicht war das doch ein Mißverständnis. Kortüm zog den Korken selbst, roch an dem Flaschenhals, sagte: »In der Tat . . .« Dann rückte er Tee und Rum handrecht in seines Gastes Nähe und wandte sich wieder zu dem erstaunten Kellner: »Mir meinen Rotwein.«

Wenzel tat Kortüms Tee alle Ehre an: er schonte ihn, wie er konnte. Man merkte noch nach einer Stunde kaum, daß in der Kanne etwas fehlte. Auf den Rum nahm der Bälgetreter nicht so viel Rücksicht. Der Oberflächenspiegel des Jamaika senkte sich bedrohlich dem oberen Rand des vornehmen schwarzgoldenen Flaschenschildes entgegen. Auch Herr Kortüm trank mit vielem Behagen seinen Rotwein. Es ließen sich an diesem warmen Juniabend nicht leicht zwei Männer finden, welche solche Getränke für zeitgemäß und bekömmlich hielten. Daß sie ihnen aber wohl taten, bewiesen die friedlichen behaglichen tiefschürfenden Gespräche der beiden Leidtragenden: ihr Zorn ging angesichts einer, wenn auch nur ganz blaß in der Ferne auftauchenden Gerechtigkeit in eine Art Guillotinengemütlichkeit über, die den hilflosen Trauerschmerz für eine Weile dämpfte – bis plötzlich ein paar kurze Worte fielen, 465 deren schlichter Klang so dröhnend hineinfiel in diese Wirtsstube, welche den Namen »Goldwaage« führte, daß der eine den Jamaika und der andre den Rotwein wegrückte und beide sich eine Weile stumm ansahen:

»Un die Witwe?« hatte der gewiegte Lebenspraktiker Wenzel den großen Lebensbeweger Kortüm gefragt.

»Und Lotte?« fragte Herr Kortüm.

Zunächst beantwortete keiner dem anderen die schwierige Frage.

»Nischt kriegt sie«, begann nach einer Weile Wenzel. »Die Sache is schlau gemacht. Am vierunzwanzigsten haben sie Wingen gekündigt zum Ersten. Nach dem Anstellungsvertrag kriegt sie nischt.«

»Ich werde ihr einen Rechtsanwalt nehmen.«

»Nischt. Vertrag is Vertrag. Aber das sag ich Ihnen, Herr Kortüm: wenn Lobedanz stirbt, dem kann seine Witwe 'n Wind in die Orgel blasen – ich, iche nich! Un mein Name is Wenzel. Prost.«

Herr Kortüm sprang auf: »Gießen Sie nicht so viel Rum in den Tee! Sie wissen nicht mehr, was Sie sagen? Hier in diesem Raum hat die World einem Menschen einmalhundertzwanzigtausend Mark gegeben für das Spiel einer Rolle, die vor hundert Jahren ein Dichter ersonnen hat, dessen Nachlaß um achteinhalben Taler versteigert wurde. Das tut die World. Als ob nun die Welt einen verdienten und bekannten Mann wie Wingen –«

»Als ob? Die Welt hat je gekonnt, ob ich nu meinen Tee mit Rum trinke oder ohne.«

»Man kann nicht, Mensch!«

»Un wenn ich zehnmal 'n Mensch bin, mit Kündigung un Vertrag un sowas hat Mensch gar nischt zu tun, hä.«

Kortüm war in der Gaststube herumgegangen, hatte an Stühlen und Tischen gerückt. Nun stand er vor dem Teetrinker still und sagte traurig: »Ich habe nicht gewußt, daß ein Bälgetreter ein Gottesleugner sein kann.«

»Ein was??«

»Ein Atheist, Wenzel.«

»Ich bin vielleicht kein schlechtrer Evangelscher als wie Sie«, sagte der beleidigte Bälgetreter.

»Sie leugnen den Menschen und behaupten, daß Sie Gott nicht leugnen?«

»Ich meinte doch bloß, wenn 'n Vertrag so is, dann is er so.«

Das, genau das, war der Punkt, an dem Herr Kortüm nicht weiterdenken konnte.

466 Eine lange Weile sagte er nichts, trank seinen Rotwein, sah vor sich hin. Wenzel trank Jamaika und sah auch vor sich hin. Der eine war im Recht vor Gott. Der andre war im Recht vor der Welt. Wer ist im Recht?! Kortüm stand jetzt haarscharf vor Kortüm: erkennen konnte er sich erfreulicherweise nicht. Sonst hätte die Welt plötzlich einen Kortüm erlebt, dessen Nachlaß mehr als achteinhalb Taler wert ist, weil dieser Mann in der Welt der Leistung, der Tat, der Hingabe, Sendung und Bewegung mit Röntgenaugen das Weltskelett des Buchstabens und der Zahl erkannt hätte. Soviel Kortüms gab es nicht, daß der Genius der Deutschen ihm diese Klarheit jetzt schon gönnen durfte und auf die Kortümbewegung verzichten. Eine Weile mußte dieser Mann schon noch seine Regenbogenbrücken schlagen und Wege bauen, wo Konstrukteure keine Ansatzpunkte für ihre Träger mehr sehen. Daß diese wunderbaren Regenbögen nicht in jedem Falle hielten – errechnete Brücken brechen auch zuweilen – was machte das: die Kortüms bauen ja auf ihre Kosten, und der lebensversichertste Talbewohner liest gerne noch die kostbaren Scherben aus, wenn ein Kortümbau wirklich einmal geborsten sein sollte. Nein, wenn durch ein Taschenspielerstück, das jedoch in Gottes Weltbauplan nicht vorgesehen ist, dieser Herr Kortüm in einem Nu hätte erkennen dürfen, was er ist, so würde er wohl für achteinhalben Taler ein Denkmal errichtet haben mit der Inschrift: »Den Kortüms« – und dieses Buch wäre aus und zu Ende.

»Herr Kortüm, wenn ich mir das in Ruhe überlege – Bälgetreter is kein Beruf, den jemand einfach lernen kann, wie 'n gewöhnliches Handwerk; Bälgetreten is Gefühlssache – aber ich glaube, Sie hätten die Begabung.«

 


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